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Alles auf Zucker

Weltweit renommierte Glykan-Forscher erörtern auf der Dahlem-Konferenz die Herausforderungen und Ziele der Disziplin.

13.12.2012

Glycomics? Was ist das denn? Die Rede ist nicht von neuen Comicheften, sondern von einem interdisziplinären Forschungsgebiet, das gerade mächtig Fahrt aufnimmt. Nach dem Genomprojekt und dem Boom in der Protein-Forschung rückt nun die dritte Klasse großer Biomoleküle in den Fokus – Glykane, die natürlichen Zucker.

Menschliche Zellen sind übersät mit zuckerhaltigen Strukturen: An ihnen erkennen sich Zellen, sie kommunizieren über diese Strukturen, und Bakterien oder Viren docken daran an. Die Zucker-Polymere Cellulose und Stärke machen 80 Prozent der grünen Natur aus. Eine zweite polymere Variante ist Chitin. Vermengt mit Proteinen, formt es das Außenskelett der Insekten, kombiniert mit Kalk, bildet es die Panzer allerlei Meeresgetiers.

Vielfältig wie die Verbreitung sind auch die Anwendungen. „Glykane haben ein riesiges Potenzial für die Medizin, Materialwissenschaft, Energieversorgung und den Klimaschutz“, sagt Glykan-Spezialist Peter Seeberger. Deshalb hatte der Max-Planck-Direktor und Professor der Freien Universität Berlin Ende November 20 renommierte Forscher aus aller Welt zur Dahlem-Konferenz eingeladen. Auf dem Programm stand die gemeinsame Arbeit an einem Dokument, das den Forschungsstand, das Potenzial und die benötigten neuen Technologien auf den Punkt bringt. Ein Arbeitspapier soll Politik und Industrie international auf die „Glykan-Ära“ einstimmen.

Warum rücken Zucker erst jetzt ins Licht? „Einfach weil lange Zeit die Technologien fehlten, Glykane kontrolliert synthetisch herzustellen“, erzählt Peter Seeberger. Vor elf Jahren entwickelte er am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston den ersten Zucker-Synthese-Roboter und schuf damit die technische Basis für das neue Forschungsfeld.

Wie viele verschiedene Glykane der Mensch besitzt und welche Aufgabe sie haben, ist noch unbekannt. Man weiß inzwischen, dass drei Viertel aller Proteine auf der Zelloberfläche mit kleinen Zuckerketten verknüpft sind. Erythropoetin (EPO) ist eines dieser sogenannten Glycoproteine. Es wird, etwa bei Krebspatienten, gegen Blutarmut eingesetzt. „Und Radrennfahrer nehmen es – natürlich nur die gedopten“, fügt Seeberger schmunzelnd an. Mit EPO und anderen Glykoproteinen werden pro Jahr rund 70 Milliarden Euro umgesetzt. Noch werden diese Substanzen allerdings biotechnisch hergestellt. Ein großes Thema sind Impfstoffe. Es gibt bereits drei auf Glykan-Basis, gegen Erreger von Lungen- und Hirnhautentzündung bei Kindern. „Sie werden in Bakterien erzeugt“, sagt Seeberger. „Doch die sind wenig effizient und launisch. Wir möchten Impfstoffe deshalb gern synthetisch herstellen.“ Mit Robotern könne das so schnell und kostengünstig gehen, dass auch an bisher vernachlässigten Infektionskrankheiten gearbeitet werden kann. Der Clou: Würde man das bisherige Trägerprotein durch ein Fettmolekül ersetzen, müssten Impfstoffe nicht mehr gekühlt werden – die Kosten würden um 50 Prozent gesenkt.

Auch zuckerbasierte Diagnostika entstehen. Die Idee: Glykane auf den Zellen eines Erregers regen das Immunsystem an, Antikörper zu bilden. Mit einem Diagnose-Chip, der diese spezifischen Zucker trägt, lässt sich im Blut sehr einfach nachweisen, ob ein Mensch beispielsweise Toxoplasmose hat. Ein Glykan-Test könnte bald Gewissheit bringen, ob ein Leberfleck gefährlich ist, wie Seebergers Team kürzlich feststellte. „Im Massenspektroskop sieht man, dass sich die Zuckerzusammensetzung gesunder Haut signifikant von der eines Melanoms unterscheidet.“ Der Test ist nichtinvasiv. Zucker könnten auch die Grundlage für ökologisch unbedenkliche Kunststoffe sein. Basis dafür ist Biomasse – aus Abfällen der Land- und Forstwirtschaft. Spaltet man die Cellulose aus Holz und Stroh in einzelne Zuckermoleküle auf, lassen sich diese in Milchsäure weiter zerteilen. Zu Polymilchsäure verkettet, entsteht daraus ein Polymer, das nach Gebrauch kompostiert werden kann. Herkömmliche Kunststoffe hingegen verrotten nicht.

Wird Biomasse unter hohem Druck in Wasser erhitzt, löst sie sich auf, und Kohle entsteht. Diese sogenannte hydrothermale Carbonisierung ist ein Weg, klimaneutral mit Ernteabfällen umzugehen: Statt sie unter Bildung von Kohlendioxid zu verbrennen, kann die entstandene Kohle als Dünger untergepflügt werden: Terra preta – eine Methode, die im Amazonasgebiet bereits vor 1000 Jahren angewendet wurde. Wie Biomasse als Basis der Energieversorgung und Quell von Grundchemikalien für die chemische Industrie eingesetzt werden kann, daran wird inzwischen weltweit geforscht, intensiv auch in Deutschland. Das Gebiet Glycomics steht noch am Anfang. Aber die chemische Industrie hat mit der Erdölverarbeitung ja auch einmal ganz klein angefangen.