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Störfall Krankheit

Haftpsychosen, Suizidversuche, Hungerstreiks – Folgen der Haft- und Vernehmungspraxis der Stasi. Wie Patienten im Haftkrankenhaus Berlin-Hohenschönhausen behandelt wurden, untersuchen Wissenschaftler vom Forschungsverbund SED-Staat.

23.11.2011

Das Haftkrankenhaus Hohenschönhausen: Ein Hospital mit geheimpolizeilicher Funktion.

Das Haftkrankenhaus Hohenschönhausen: Ein Hospital mit geheimpolizeilicher Funktion.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Hinterlassenschaften des DDR-Staatssicherheitsdienstes beschäftigen seit bald einem Vierteljahrhundert in erheblichem Maße Politik, Medien und Wissenschaft des vereinigten Deutschlands. Vieles wurde diskutiert, geschrieben und gesendet. Der Fülle dieser Veröffentlichungen steht mittlerweile häufig sogar eine gewisse Ermüdung seitens der Öffentlichkeit gegenüber. Gleichzeitig sind noch etliche Fragen zum früheren Staatssicherheitsdienst unbeantwortet, vieles liegt im Dunkeln, manches blieb kaum hinterfragt und noch weniger aufgearbeitet.

An einem Ort, der heute im Zentrum des Gedächtnisses an die SED-Diktatur steht, der Gedenkstätte Hohenschönhausen, wird viel gegen das Vergessen der jüngsten deutschen Vergangenheit getan: Auf dem Areal der ehemaligen zentralen Untersuchungshaftanstalt (UHA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) entsteht nun in aufwendiger Detailarbeit eine Dauerausstellung zu dieser einzigartigen und berüchtigten Stätte. Hierfür wurden Forschungsaufträge zu Detailaspekten an externe Wissenschaftler und wissenschaftliche Einrichtungen vergeben, darunter auch an den Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin. Dieser hat sich der Untersuchung von deutscher Teilungs- und Transformationsgeschichte verschrieben.

Ein Teilaspekt der aktuellen Forschung behandelt einen speziellen Bereich von Hohenschönhausen – das Haftkrankenhaus (HKH) des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Über den Aufbau und den Betrieb dieser Einrichtung sowie über das dort tätige Personal und den Umgang mit den erkrankten Inhaftierten war bisher nur wenig bekannt. Das Wissen um Struktur und Charakter des HKH beschränkte sich weitgehend auf wenige Erinnerungsberichte ehemals Inhaftierter und auf verdienstvolle Vorarbeiten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte Hohenschönhausen.

Wie so oft beim Thema MfS liegt der Schlüssel zur Geschichte des HKH im Archiv der Stasiunterlagenbehörde in der Lichtenberger Ruschestraße. Bei der Recherche erwies sich das Material zur Gefängnis-Klinik als hochgradig bruchstückhaft, inkonsistent und besteht aus einer Fülle Marginalien.

Berge von Stasi-Akten

Zu dieser Einrichtung ist kein zeitlich oder thematisch zusammenhängender Bestand überliefert, der es erlaubt hätte, einen leichten, überschau- und bewertbaren Zugang zu finden. Jeder Forscher, der länger mit Stasi-Akten zu tun hat, wird ähnliche Erfahrungen gemacht haben und bestätigen, dass es oft Umwege durch Berge von Akten sind, die, wenn sie schon nicht zum Ziel führen, doch mit kleinen Fortschritten das Geschichtspuzzle komplettieren helfen.

Hinzu kommt, dass an die Bewertung dieser Akten hohe Maßstäbe gelegt werden hinsichtlich ihres Aussagewertes und der Glaubwürdigkeit ihres Inhalts. Der Forschungsgegenstand zeigte sich schließlich als ein höchst komplexes Konglomerat von Problemfeldern. Neben den vordergründig simplen, aufgrund der fragmentierten Überlieferung gleichwohl oft schwer zu beantwortenden Fragen von Struktur- oder Baugeschichte wurden grundlegende Fragen wie zum Verhältnis zwischen den Erkrankten und dem medizinischen Personal und zum Wandel der Ziele medizinischen Handelns in einem geheimpolizeilichen Apparat berührt: Wie wird normales Handeln in einer zweckorientiert agierenden, ideologisierten, militärischen Struktur bis hin zum Missbrauch verformt? Wie verändern die Regularien eines geheimpolizeilichen Apparates Denken und Handeln von medizinischem Personal, das seine medizinischen Fähigkeiten in zivilen Einrichtungen erworben hat? Was bleibt unter diesen Bedingungen „normal“?

Störfall Krankheit

Drei Jahrzehnte, von 1960 bis 1990, diente das HKH dazu, erkrankte oder verletzte Gefangene – fern von zivilen medizinischen Einrichtungen – geheim und isoliert behandeln zu können. Im Lauf dieser Zeitspanne wurden nahezu 3.200 Gefangene stationär aufgenommen, einige davon wegen ihres angegriffenen Gesundheitszustandes während längerer Haftdauer in Hohenschönhausen mehrfach. Unbekannt ist bis heute die ungleich größere Zahl der ambulanten Behandlungen in dieser Einrichtung.

Krankheit galt im Untersuchungsbetrieb des MfS als Störfall, der die Vernehmungen, den Abschluss der Ermittlungen und den Prozess behinderte. Daher wurden Erkrankungen wie Haftpsychosen und Verletzungen, etwa Verwundungen durch Schüsse und Minen an der innerdeutschen Grenze nicht primär zur Heilung der Inhaftierten behandelt, sondern um den Staatssicherheitsbetrieb aufrechtzuerhalten. Der Medizin war in diesem Rahmen eine untergeordnete Hilfsfunktion zugewiesen.

Generell hatten sich die Erfordernisse medizinischen Handelns den „operativen“ Aufgaben des MfS anzupassen. Aus diesem Grund hatten letztlich nicht Mediziner die Entscheidungsgewalt über die Behandlung der Inhaftierten, sondern die Untersuchungsabteilung HA IX des MfS und die für die Bewachung zuständige Abteilung XIV. Erkrankungen waren nahezu zwangsläufig: Haftpsychosen, Suizidversuche und Hungerstreiks waren unmittelbare Folgen der in Hohenschönhausen herrschenden Haft- und Vernehmungspraxis des MfS und führten zur Aufnahme im HKH.

„Funktionstüchtigkeit“ statt Heilung

Krankheit schützte nicht vor Vernehmungen: Notfalls setzten die Vernehmer ihre Verhöre am Krankenbett fort und verließen sich dabei auf die Einschätzung der hauseigenen Mediziner. Die hinderlichen Folgen der Haftsituation wurden von dienstverpflichteten Stasi-Medizinern bis zur „Herstellung der Funktionstüchtigkeit“ therapiert, was keineswegs durchweg Heilung bedeuten musste.

Nahezu im gesamten ersten Jahrzehnt seines Bestehens von 1950 bis 1960 dilettierte das MfS auf dem Gebiet der medizinischen Behandlung seiner Gefangenen. Nicht Ärzte, sondern als Sanitäter ausgebildete Wachposten kümmerten sich um erkrankte Inhaftierte, die in Hohenschönhausen zunächst in einem Kellergefängnis – meist in Zellen ohne Tageslicht – unter unwürdigen Bedingungen eingesperrt waren. Gerieten die- se Sanitäter an die Grenzen ihrer Heilkunst, war das MfS gezwungen, Erkrankte in zivile Einrichtungen oder Krankenhäuser der Volkspolizei zu verlegen. Dieser Umstand kollidierte mit dem Bedürfnis der Geheimpolizei, seine Machenschaften geheim zu halten und die Inhaftierten strikt zu isolieren.

Von Mitte der fünfziger Jahre an diente ein umgebautes ehemaliges Wäschereigebäude als Krankenstation. Anfang 1960 befahl Erich Mielke mit der Gründung des HKH die professionelle Besetzung und den Ausbau dieser Station zur Haftklinik. Ihr oblag auch die Anleitung und Versorgung aller Ambulanzen der MfS-Haftanstalten in den Bezirksverwaltungen des MfS. Das Personal des HKH bestand aus ausschließlich männlichen Medizinern sowie Krankenschwestern, Pflegern und Wachsoldaten. Gut die Hälfte der 50 bis 60 Mitarbeiter, auch dieses Verhältnis kennzeichnet die primäre Funktion des HKH, waren Wachposten.

Anlage, Einrichtung und Organisation des Krankenhauses entsprachen weitgehend dem unmittelbar benachbarten Gefängnisbau der MfS-Untersuchungshaftanstalt. Abgesehen von etwas größeren Zellen und Krankenbetten fehlten auch hier Fenster. An deren Stelle wurden Glasbausteine eingesetzt. Identische Sicherheitssysteme wie Reißleinen, Alarmsirenen, Haltesignale, Gittertore durchzogen die Flure. Hafträume wurden durch Zellentüren mit Spion und Klappe versperrt. Wer gesundheitlich in der Lage war, das Bett zu verlassen, fand beim „Aufenthalt im Freien“ die gleichen deprimierenden Hofzellen vor, wie in der Untersuchungshaftanstalt.

Mitte der 1970er Jahre wurde der antiquierte und durch die zweckentfremdete Nutzung überlastete Bau rekonstruiert und erweitert. Das verschaffte den Funktionsräumen und damit dem Personal mehr Platz und schuf Raum für eine zweite Krankenstation. Die Zahl der Betten verdoppelte sich nahezu und betrug schließlich 21. In der Folge stieg die Zahl der stationär aufgenommen Inhaftierten sprunghaft an. An der räumlichen Situation für die Gefangenen änderte der Umbau somit nichts: Das HKH blieb ein Krankengefängnis und ein bauliches Provisorium, das mit spezialisierter Krankenhausarchitektur nichts gemein hatte.

Abgesehen von diesen gravierenden Einschränkungen war die Ausstattung darauf ausgerichtet, in Fragen der medizinischen Versorgung weitgehend autark zu sein. Das eröffnete weitgehende Möglichkeiten der Diagnostik und eine, im Vergleich mit dem Gros der zivilen medizinischen Einrichtungen der DDR, gute bis überdurchschnittliche Versorgung mit Verbrauchsmaterialien wie Einwegspritzen, Einweghandschuhen bis hin zu stets verfügbaren Medikamenten aus westlicher Produktion. Es entsprach durchaus der „klassenkämpferischen“ Mission des HKH, erkrankte Inhaftierte als Ware von gewissem Wert zu betrachten: ideologisch, wenn es um die Sicherung der „gerechten“ Bestrafung ging; materiell, wenn kalkuliert wurde, dass insbesondere jene wegen „Republikflucht“ verurteilten Inhaftierten später von der Bundesrepublik freigekauft würden.

Ärzte und Patienten ohne Namen

Während das Bewachungspersonal des HKH aus dem Reservoir der Wachmannschaften des MfS rekrutiert wurde, suchten Kaderspezialisten der Stasi im ganzen Land nach Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern für den Dienst in Hohenschönhausen. Neben der fachlichen Qualifikation waren politische Linientreue und unverdächtige Verwandtschaftsverhältnisse Voraussetzungen einer Einstellung. Mit Dienstantritt wurde das Personal auf MfS und SED eingeschworen.

Wer nicht bereits Mitglied der Staatspartei war, der wurde es. Die permanent propagierte Dienstauffassung sah die erkrankten Inhaftierten vor allem als „Feinde“ an und das medizinische Personal in erster Linie als „Tschekisten“, eine propagandistische Selbstbezeichnung der MfS- Mitarbeiter, angelehnt an die Tscheka, den bolschewistischen Staatssicherheitsdienst in Russland zwischen Oktoberrevolution und Gründung der UdSSR.

Ein regelrechtes Schweigegebot – der Umgang mit den Erkrankten beschränkte sich befehlsgemäß auf das zur Behandlung unbedingt Nötige – entsprach, neben dem Hang zur absoluten Geheimhaltung, dem Kalkül, beim Personal keine Emphatie aufkommen zu lassen. Im täglichen Dienstbetrieb des HKH gab es keine Patienten. Die Erkrankten blieben auch hier „Beschuldigte“ und „Inhaftierte“. Irritierende Eindrücke wurden im arbeitsintensiven, täglichen Schichtbetrieb überdeckt oder sie wurden verdrängt. Regelmäßige Indoktrinierung sollte einem „Aufweichen“ vorbeugen. Letztlich lag es an jedem selbst, sich mit der Arbeitssituation zu arrangieren. Das Gros der Mitarbeiter des HKH funktionierte, sei aus Überzeugung oder aus Gehorsam, so wie es vom MfS erwartet und propagiert wurde. Heute hat es den Anschein, als fühlten sich ehemalige HKHKader nach wie vor an ihre Schweigepflicht gebunden – offene Gespräche stellen bis heute eine Ausnahme dar. Dieses Schweigen wirft den Wissenschaftler auf die Akten zurück, die ohne diesen Teil der Erinnerung und aufgrund der verklausulierten Sprache des Staatsapparates oft nur schwer zu entschlüsseln sind.

Krank im Gefängnis

Die erkrankten Inhaftierten befanden sich im HKH in einem Zustand doppelter Hilfslosigkeit: In einem undurchschaubaren Ermittlungsapparat waren sie – körperlich und seelisch von Erkrankung und Haftsituation angeschlagen – vollkommen hilflos dem anonymen medizinischen Personal ausgeliefert. Den Erkrankten blieb ihr Aufenthaltsort ebenso unbekannt wie die Namen von Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern. Über Details ihrer Behandlung wurden sie weitgehend im Unklaren gelassen. Unbezeichnete Medikamente hatten sie widerspruchslos einzunehmen.

Permanentes Misstrauen und ständig Gewalt

Erst der Zusammenbruch des SED-Systems und die Öffnung der Stasiakten ermöglichte den Betroffenen eine Identifizierung jener Mediziner, die einst ihr wichtigstes Gut, die Gesundheit, im Sinne der MfS verwaltet hatten. Die Forschung hilft dabei, nach Jahrzehnten Leerstellen im Erinnern zu schließen und Gewissheit zu verschaffen über Ereignisse, die die Inhaftierten verunsicherten, ängstigten und auf sie zutiefst bedrohlich wirkten. Je nach Grad der Erkrankung oder Verletzung und der Dauer des Aufenthalts stehen die Erinnerungen der Betroffenen zum Aufenthalt im HKH mehr oder weniger präsent neben den einschneidenden Erlebnissen der Verhaftung, der Vernehmungen, des Prozesses und der anschließenden Strafhaft. Nahezu durchweg tief im Erinnern eingegraben haben sich bei den Inhaftierten jedoch der eklatante Mangel an zivilem Umgang und das fehlende Vertrauen gegenüber dem medizinischen Personal. Im HKH mangelte es an grundlegenden Bedingungen des Arzt-Patienten- Verhältnisses. Nicht Vertrauen, sondern permanentes Misstrauen bestimmte den Umgang.

Dass der Haft- und der Vernehmungsbetrieb viele Erkrankungen produzierte, wurde vom medizinischen Personal als gegeben hingenommen oder ignoriert. Patienten, die sich renitent verhielten, bekamen die pure Gewalt zu spüren. Dann konnte das Wachpersonal des Krankenhauses, oft im Zweikampf ausgebildete, meist jüngere Männer, auf Schlagstöcke, Gasspray, Fesseln und Zwangsjacken zurückgreifen, um die gewünschte „Sicherheit“ wieder herzustellen.

Es ist bis heute kein Votum von HKH-Ärzten auffindbar, das auch nur minimale Forderungen nach Verbesserungen der Haftbedingungen enthält. Dass diese Zustände viele Symptome überhaupt erst verursachten, dürfte den versierten Medizinern, allesamt hochdekorierte MfS-Kader, kaum entgangen sein. An Veränderung bestand augenscheinlich keinerlei Interesse. Auch dies machte die Hohenschönhauser Haftklinik auf unrühmliche Weise zu einer einzigartigen medizinischen Einrichtung. Ihre tiefgründige Erforschung und die Diskussion über ihr Wesen stehen noch am Anfang; bestehende Wunden bei den ehemaligen Inhaftierten und deren Angehörigen werden noch lange nicht geschlossen sein.