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Von kleinen Molekülen und großen Gefühlen

Zwei Forscher der Freien Universität untersuchen, was an den Enden unserer Nervenzellen passiert, wenn wir sehen, schmecken, fühlen.

28.11.2011

Von kleinen Molekülen und großen  Gefühlen: Zwei Forscher der Freien Universität untersuchen, was an den Enden unserer Nervenzellen passiert, wenn wir sehen, schmecken, fühlen.

Von kleinen Molekülen und großen Gefühlen: Zwei Forscher der Freien Universität untersuchen, was an den Enden unserer Nervenzellen passiert, wenn wir sehen, schmecken, fühlen.
Bildquelle: photocase/schacky www.photocase.de/foto/146052-stock-photo-wasser-sommer-berlin-kunst-gross-romantik

Ihre Forschungsobjekte sind hundertmal schmaler als ein menschliches Haar und doch so komplex wie das Universum. Die beiden Professoren der Freien Universität, Volker Haucke und Stephan Sigrist, erforschen bei im Rahmen des Exzellenzclusters NeuroCure der Charité-Universitätsmedizin Berlin an der Freien Universität, was sich an den Enden unserer Nervenzellen abspielt.

Wenn Volker Haucke am Frühstückstisch sitzt und sein Brötchen aufschneidet, muss er manchmal an seine Arbeit denken. Der Professor untersucht am Institut für Chemie und Biochemie der Freien Universität im Sonderforschungsbereich 958 wie Eiweißgerüste die Funktionen von Nervenzellen steuern. Synaptische Signalübertragung, Differenzierung, Dynamik von membranassoziierten Proteingerüsten; solche Dinge.

Was für den Laien klingt wie der Werbeprospekt für einen Oberklassewagen, ist eine Welt, die sich in Räumen abspielt, die Tausende mal schmaler sind als ein menschliches Haar und doch so komplex wie das Universum.

Räume, tausend Mal schmaler als ein Haar

Professor Haucke ist Biochemiker und untersucht, was in unseren Nervenzellen passiert, wenn unser Körper Bilder, Gerüche und Gefühle verarbeitet oder Bewegungen koordiniert. Und am Frühstückstisch wird deutlich wie bedeutend für den Menschen das Forschungsfeld ist auf dem Haucke sich bewegt: „Von jedem Brötchen, das ich morgens esse, geht die Hälfte der Energie in die Aufrechterhaltung des Nervensystems.“

Sein Kollege Stephan Sigrist sitzt in seinem Büro im Institut für Biologie in der Takustraße in Berlin- Dahlem. Die Wand hinter ihm ist mit schwarzer Tafellackfarbe gestrichen und voller Kreidenotizen. „Das ist nur Dekoration“, sagt er. Nebenan im Labor ist die eigentliche Arbeitswelt des Forschers.

Dort schaut er unter dem Mikroskop den Nervenzellen von Fruchtfliegen und Mäusen bei der Übertragung von Information zu. Sigrists Team gehört wie das von Haucke zum Exzellenzcluster NeuroCure der Charité, der gemeinsamen medizinischen Fakultät der Freien Universität und der Humboldt-Universität.

Worum geht es bei ihren Forschungen? So einfach ist das für den Laien nicht zu erklären, denn die Welt der Synapsen ist eine vielschichtige, und es fällt schwer, sie überhaupt zu beobachten. Volker Haucke bemüht deshalb gern Vergleiche. Die werden zwar der Komplexität nicht ganz gerecht, sind aber anschaulich. Dann spricht er von Autos, von Brötchen und Turboladern. Und bevor Haucke erklären kann, was er und Sigrist erforschen, müssen sie unsere Sinne erklären, die Nerven und speziell ihre Enden, die Synapsen, denn auf die konzentriert sich die Forschung: Ununterbrochen nehmen Sinneszellen am äußeren Ende unseres Körpers Informationen auf, erfassen Duftmoleküle in der Nasenschleimhaut, Süß- und Bitterstoffe auf den Zungenknospen und Schallwellen, die das Trommelfell vibrieren lassen.

Äußere Reize werden zu elektrischen Impulsen

Die Sinneszellen wandeln den äußeren Reiz in einen elektrischen Impuls, der dann ins Nervensystem eingespeist wird. Je stärker der Reiz ist, desto mehr Zellen werden an seiner Übertragung beteiligt und desto stärker ist das Gehirn mit seiner Auswertung und Interpretation beschäftigt. Es werden Erinnerungen und Erfahrungen abgerufen, weitere Veränderungen aufgenommen, Botenstoffe ausgeschüttet und Reize an die Muskeln geleitet.

Das Gehirn verarbeitet in Sekundenbruchteilen die Sinneswahrnehmungen „Schmerzsignal aus Fingerkuppen“ in „Oberarm wegziehen“, bevor es überhaupt wahrgenommen hat, dass das Auge „Hand an Herdplatte“ übermittelt hat.

So kommunizieren die Sinnes- und Nervenzellen in Nase und Gehirn, Rückenmark und Fingerspitze Tag und Nacht, steuern unsere Schritte und unseren Puls, die Atemfrequenz und den Dickdarm. Mit mehr als 700 Stundenkilometern rasen die Impulse durch unseren Körper und brauchen so nur Bruchteile einer Sekunde, um vom Gehirn zum kleinen Zeh zu wandern.

Unser Nervensystem gleicht dabei grundsätzlich einem weitverzweigten Netz von Stromkabeln, durch das elektrische Signale gesendet werden. Und wie diese Kabel teilweise Jahrzehnte unter dem Putz der Zimmerwände liegen und Strom leiten, so sind auch die Nervenzellen sehr langlebig: Im Unterschied zu anderen Zellen in unserem Körper werden sie nicht ständig erneuert. „Das wäre auch sehr fehleranfällig“, sagt Sigrist, „denn jede Nervenzelle ist über ihre Synapsen mit bis zu 10.000 anderen Nervenzellen verbunden.“

780.000 Kilometer Fasern verlaufen im Körper

Würde die Zelle ausgetauscht, müssten also auch Tausende Verknüpfungen neu geschaffen werden – und das bei insgesamt rund Hundert-Billionen (1014) Synapsen alleine im menschlichen Gehirn: „Wir bewegen uns damit in einer Größenordnung, die vergleichbar ist mit den bekannten Sternen und Planeten im Universum.“ Insgesamt verläuft so ein 780.000 Kilometer langes Fasergeflecht durch unseren Körper – das entspricht der Strecke einmal zum Mond und zurück. So langlebig die Nervenzellen sind, so flexibel sind ihre Ausläufer – und eben in dieser Flexibilität liegt dann auch der Unterschied zum Stromkabel in der Wand: Axone nennt man die Ausläufer, an denen Botenstoffe für die Signalübertragung gebildet werden, Dendriten sind die Arme, die die Botenstoffe der Nachbarzelle aufnehmen.

Die Schnittstellen zwischen dem Axon als einer Art Sende-Antenne und dem Dendriten als Empfänger sind die Synapsen – das eigentliche Forschungsfeld von Sigrist und Haucke: Ein winziger Spalt, Millionstel Millimeter schmal, der sogenannte synaptische Spalt, trennt die beiden Nervenenden voneinander. „Für den elektrischen Impuls ist das so, als würde man mit seinem Auto plötzlich vor einem Fluss stehen, und es gäbe keine Brücke“, sagt Haucke: „Also muss man in ein Boot umsteigen, um den Fluss zu überqueren.“ Auf die Nerven übertragen bedeutet das: Das elektrische Signal wird auf chemische Stoffe übertragen, die den Spalt überwinden können.

Dafür produziert jede Nervenzelle kleine Pakete mit Botenstoffen, die sogenannten Vesikel, und transportiert sie zu den Endknöpfchen der Axone. Leitet die Nervenzelle ihren elektrischen Impuls, das Aktionsspotenzial, bis zur Synapse, verschmelzen die Vesikel mit der Membran des Endknöpfchens, und die Botenstoffe werden in den synaptischen Spalt ausgeschüttet. Sie hemmen einen Reiz oder verstärken ihn.

Synapsen verhalten sich wie Autos

Doch nicht immer verhält sich ein und dieselbe Synapse gleich, denn das System ist sehr flexibel: „Im Prinzip“, sagt Haucke, „kann man sich das vorstellen wie ein Auto: Das fährt im Normalbetrieb mit 90 Stundenkilometern über die Landstraße und rollt und rollt. Wenn es eilig ist, kann man auch ein bisschen mehr Gas geben und fährt mit 120 über die Autobahn. Aber wenn man es häufiger sehr eilig hat, werden die 120 irgendwann nicht mehr reichen, und dann geht man in die Werkstatt und lässt sich einen Turbolader einbauen.“

Ganz ähnlich kann auch die Effizienz von Synapsen gesteigert werden, indem zum Beispiel zusätzliche Ionenkanäle angelegt werden. „Eine Synapse, die häufig benutzt wird, muss leistungsfähiger sein als eine, über die seltener Impulse verbreitet werden“, sagt Sigrist. Hier liegt das Geheimnis des Lernens. Und das des Vergessen: Wenn eine Synapse nicht mehr so häufig benutzt wird, wird der Ionenkanal wieder entfernt – ganz so, als würde man den Turbolader wieder ausbauen, weil man merkt, dass das schnelle Fahren auf Dauer doch zu viel Sprit verbraucht.

„Das hat biologisch durchaus Sinn“, sagt Stephan Sigrist, „denn unser Überleben in der Umwelt hängt davon ab, Unterschiede zu erkennen. Es kommt also nicht darauf an, die Wirklichkeit im Gehirn eins zu eins abzubilden, sondern darauf, zu erkennen, dass auf der stundenlang leeren Straße gerade jetzt, da ich sie überqueren möchte, ein Auto heranrollt. Und daran muss sich das System anpassen.“ Und weil sich bestimmte Dinge im Leben immer aufs Neue wiederholen, gibt es Verbindungen von Synapsen, die sehr dicht sind, und solche, die eher verkümmern. Und genau da, beim Umbau der Synapsen, beginnt die Arbeit der beiden Professoren.

Beim Umbau der Synapsen beginnt die eigentliche Arbeit

Haucke zum Beispiel untersucht, wie die Vesikel, welche den Botenstoff enthalten und ausschütten am Ende der Axone an Ort und Stelle wieder hergestellt werden: „Wir beobachten dort winzige Strukturen, die nur aus wenigen hundert Eiweiß-Molekülen bestehen“, sagt der Biochemiker. Mit der Zusammensetzung oder Verteilung der Eiweiß-Moleküle ändern sich auch die Eigenschaften der Synapse: Sie können je nach Molekülanordnung hocheffizient arbeiten und nahezu jedes Aktionspotenzial übertragen – oder sie werden träge und geben die Signale nur noch weiter, wenn das Aktionspotenzial besonders groß ist. „Um im Autovergleich zu sprechen: Wenn die Vesikel und Gerüsteiweiße in ihrer Struktur verändert werden, ist das so, als ob beim Auto das elektronische Steuerungssystem ausgetauscht wird.“

Dabei benutzt das Gehirn bestehende Synapsen gern wieder, und je öfter eine Synapse benutzt wird, desto leichter ist sie ansprechbar. Genau das passiert beim Lernen. „Vergleichbar ist das vielleicht mit dem Straßenbau“, sagt Haucke. „Wenn eine kleine versteckte einspurige Kreisstraße von immer mehr Menschen benutzt wird, weil jemand herausgefunden hat, dass sie eine Abkürzung ist, wird sie höchstwahrscheinlich irgendwann ausgebaut.“

Dabei werden die Synapsen allerdings funktional sehr begrenzt eingesetzt. „Mich hat einmal eine Mutter gefragt, ob ihr Kind besser in Mathematik wird, wenn es Sudokus löst“, sagt Sigrist. „Neurobiologisch lautet die Antwort eindeutig „Nein“. Das Kind wird nicht in Mathematik besser, es wird in Sudoku besser.“

Eine besonders große Bedeutung misst die Forschung dem Schlaf bei: Während unser Körper ruht, arbeitet das Gehirn in der Nacht auf Hochtouren: Sinneseindrücke werden verarbeitet, nur bestimmte Veränderungen übernommen, die meisten Synapsen, die im Laufe eines Tages umformiert wurden, werden wieder abgebaut – wir vergessen. „Diese Vorgänge im Körper, insbesondere die synaptische Übertragung durch Botenstoffe verbraucht mehr Energie, als wir bislang gedacht haben“, sagt Sigrist.

Wie funktionieren chemische Übertragungen auf molekularer Ebene?

Sigrist erforscht, wie die chemischen Übertragungen auf molekularer Ebene funktionieren. „Wir wissen, dass in ein Vesikel etwa ein- bis zweitausend Botenstoffmoleküle eingelagert werden. Sie docken sich an die Membran der Zelle an, geben die Botenstoffe frei, und später werden sie neu befüllt – ein Kreislauf.“

Allerdings kann es dabei auch zu Gen-Mutationen kommen. Bekannt ist, dass ein fehlendes Molekül bei der Botenstoff-Herstellung zum Down-Syndrom führt, in Versuchen mit Mäusen wurde nachgewiesen, dass die Mutation eines bestimmten Genes Schizophrenie und das Tourette-Syndrom auslöst: Die so manipulierten Mäuse wurden in ihrem Verhalten unvorsichtiger und verloren ihre Scheu vor ihren Fressfeinden.

Fehlerhafte Synapsen können zu Alzheimer führen

Die Beobachtung der Vorgänge an den Synapsen zählt zur Grundlagenforschung. Nur wenn die Synapsen einwandfrei die Reize übertragen, funktioniert der Organismus als Ganzes, das zeigen die Laborversuche der Forscher. Und das legen auch die Erkenntnisse nahe, die man bei klinischen Studien mit Alzheimer- Patienten gewonnen hat. Etwa 20 bis 30 Prozent der über 90-Jährigen leiden unter dieser Krankheit. Und es ist zu vermuten, dass die Ursache der Krankheit in fehlerhaften Abläufen in den Synapsen liegt.

Sigrist beobachtet bei Fruchtfliegen, die eine Lebenserwartung von etwa sechs Wochen haben, dass die Lernfähigkeit der kleinen Lebewesen nach vier Wochen signifikant abnimmt: Sie können sich nicht mehr so gut einprägen, ob ein bestimmter Geruch mit einer Belohnung – in Form von Zucker – oder einer Bestrafung – ein kleiner Elektroschock – verbunden ist. Gleichzeitig stellten die Forscher eine Veränderung in der Gerüststruktur der Synapsen fest.

„Die Proteine müssen hergestellt und wegtransportiert werden, bei ihrem Abbau entstehen Zwischenprodukte. Man vermutet, dass sich Fehler kumulieren und das System irgendwann nicht mehr einwandfrei funktioniert“, sagt Sigrist. Der molekulare Schrott wird in der langlebigen Nervenzelle irgendwann zum Problem.

„Wir hoffen, dass wir mit unseren Forschungen diese Vorgänge noch genauer verstehen“, sagt Haucke: „Und vielleicht wird es irgendwann möglich sein, diese Alterungsprozesse zu verlangsamen oder sogar zu heilen.“