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Das leise Vergessen

Ob und wann jemand an Alzheimer erkrankt, hängt vom Mischungsverhältnis ganz bestimmter Peptide im Gehirn ab. Wer das beeinflussen kann, hat den Schlüssel zur Diagnostik und Therapie der Volkskrankheit in der Hand.

23.11.2011

Das leise Vergessen

Das leise Vergessen. Wie Wissenschaftler der Freien Universität Alzheimer zu heilen versuchen.
Bildquelle: photocase/schnee von gestern www.photocase.de/foto/84164-stock-photo-sonne-winter-schwarz-ruhig-senior-waerme

Dass die Mischung, genauer, das Mischungsverhältnis, oft einen entscheidenden Unterschied macht, ist als Weisheit so alt wie die Menschheit selbst. Was im Alltagsbewusstsein längst verankert ist und auch in der Werbung Karriere gemacht hat, gilt auch in der Wissenschaft. Diese Erkenntnis bestätigte sich jetzt für das Forscherteam von Professor Gerhard Multhaup am Institut für Biochemie der Freien Universität Berlin. Multhaup ist Spezialist für die Biochemie neurodegenerativer Erkrankungen, vor allem der gefürchteten Alzheimer-Krankheit.

In einer immer älter werdenden Gesellschaft ist der Begriff zum Schreckenswort avanciert: Alzheimer steht für Gedächtnisverlust, für den unaufhaltsamen Niedergang der geistigen Leistungsfähigkeit, schließlich für den Verlust des Gefühls der Würde. Denn Alzheimer trifft fast ausschließlich ältere Menschen: Unter den 65-Jährigen leiden lediglich zwei Prozent daran, bei 75-Jährigen sind es schon sechs Prozent, bei 85-Jährigen zeigt ein Fünftel Symptome dieser Krankheit, die mit Erinnerungslücken beginnt und schließlich mit dem Verlust der Persönlichkeit und dem Tod endet.

Es gibt allerdings auch wenige Menschen, die früher an Alzheimer erkranken – der jüngste dokumentierte Fall liegt bei einer 27-jährigen US-Amerikanerin. Patienten wie sie leiden an einer genetischen Auffälligkeit. Der „Spontantyp“ der normalen Alzheimer-Altersdemenz hingegen ist nicht erblich bedingt.

Entscheidend ist die Länge der Amyloide

Doch solch ein „früher Fall“ war es, der Gerhard Multhaup und sein Team auf eine neue Spur brachte: Ein befreundeter Arzt berichtete von einer Patientin, die früh – mit 53 Jahren – an Alzheimer erkrankte. Sie zeigte eine genetische Auffälligkeit, die bewirkte, dass eine der Schlüsselsubstanzen für die Alzheimer-Erkrankung verändert war: das sogenannte Amyloidvorläuferprotein APP. Dieses lange Protein aus 695 bis 770 Aminosäuren sitzt in den Membranen fast aller Zellen des Körpers, am häufigsten im Gehirn. Sogenannte Sekretasen – Enzyme, die wie molekulare Scheren arbeiten – schneiden aus dem APP kleinere Teile heraus, die wegen ihrer Faltung Beta-Amyloide genannt werden. Je nach Anzahl der Aminosäuren, aus denen die herausgeschnittenen Amyloide bestehen, werden sie Beta-42, -40, -38 oder -37 genannt. Entscheidend ist deren Länge: Amyloid-Beta-40 ist eher harmlos, Amyloid-Beta-42 hingegen toxisch, also giftig für Nervenzellen.

Die Patientin mit der genetischen Auffälligkeit produzierte nun ein mutiertes Vorläuferprotein APP, und nicht nur die Form, die bei jedem Menschen im Gehirn vorkommt. Beide Proteine wurden von den Enzymen zerschnitten. „Wir nahmen nun an, dass das mutierte Peptid viel schädlicher für die Nervenzellen ist und die Patientin deshalb so früh erkrankte“, sagt Daniela Kaden, eine Forscherin aus Multhaups Team.

Nervenzellen treffen auf Peptide

Die Biochemikerin isolierte beide Peptide, das normale und das mutierte, ließ sie im Labor auf Nervenzellen treffen und kontrollierte das Ergebnis nach zwölf Stunden. Dieses überraschte: Lebten nach Behandlung mit den normalen Peptiden noch 50 bis 60 Prozent der Zellen, waren es nach der Behandlung mit dem mutierten Peptid noch 80 bis 90 Prozent. Offenbar führte die Mutation eher zu geringerem Zellsterben als, wie erwartet, zu stärkerem. Demnach wäre es wahrscheinlich gewesen, dass die Patientin erst viel später oder nie an Alzheimer erkrankt wäre. Daniela Kaden erinnerte sich daran, dass die Frau die Mutation heterozygot trug – das heißt, dass sie sowohl den mutierten als auch den normalen Typ des Eiweißes bildete. Also mischte Kaden beide Peptide im Verhältnis von 1:1, wie sie auch im Hirnwasser der Patientin verteilt waren. Das führte zu einer neuen Er- kenntnis: In dieser Mischung erwiesen sich die Peptide als hochgradig schädigend für die Nervenzellen, viel stärker, als sie es einzeln waren.

Schon Alois Alzheimer, der die Krankheit 1901 entdeckte und 1906 erstmals über „eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde“ publizierte, fielen im Gehirn seiner berühmt gewordenen Patientin Auguste Deter Ablagerungen auf, die er „Plaques“ nannte.

Lange Zeit galten diese Plaques als Krankheitsursache. Heute sind sich die Alzheimerforscher nicht mehr so sicher. Sie könnten auch ein „Abfallprodukt“ der Erkrankung sein. Das Problem an den Amyloid-Beta- Peptiden ist nämlich, dass sie sich zusammenlagern und ihre Gefährlichkeit für die Hirnzellen dabei steigern. Einzelne Peptide nennen die Biochemiker Monomere – lagern sie sich zusammen, werden daraus zum Beispiel Dimere (zwei Peptide), Tetramere (vier Peptide) oder noch größere Oligomere. Gerade die Dimere und Tetramere sind besonders toxisch für Hirnzellen. Noch höhere Verbindungen hingegen scheinen sich selbst unschädlich zu machen. Sie lagern sich zwar im Gehirn ab, greifen aber die Zellen nicht mehr an.

Oligomere als molekulare Mülleimer

Diese Oligomere bilden zwar die Plaques, gelten dadurch jedoch eher als molekulare Mülleimer: Plaques lagern sich ab, schwimmen nicht mehr löslich im Hirnwasser, binden nicht mehr an die Rezeptoren der Nervenzellen und stellen daher keine große Gefahr dar. Das mutierte Peptid der noch jungen Patientin war zwar einzeln weniger ge- fährlich für die Zellen, verhinderte aber auch die Verklumpung, die sonst innerhalb von 20 bis 24 Stunden stattfindet. Die Oligomere lagerten sich somit nicht ab, sondern schwammen weiter im Hirnwasser und blieben gefährlich – was zum frühen Ausbruch der Erkrankung führte.

„Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Patienten nicht an einer genetischen Form der Alzheimer- Krankheit leidet, kann man aus diesen Mutationen etwas lernen“, sagt Gerhard Multhaup: Es gibt ein Agens, das die Krankheit auslöst – das Amyloid-Beta-Peptid- 42.“ Ein Medikament, das gegen Alzheimer wirksam sein soll, müsse an dieser Erkenntnis ansetzen. Schon seit Mitte der neunziger Jahre wissen die Forscher, dass Entzündungshemmer wie das Schmerzmittel Ibuprofen einen verzögernden Effekt auf den Ausbruch der Krankheit haben. Diese Erkenntnis erwuchs aus umfassenden statistischen Untersuchungen an großen Bevölkerungsgruppen.

Haben Rheumapatienten einen natürlichen Schutz?

Dabei überprüfte man, worin sich Patienten mit Alzheimer von denen unterschieden, die die Krankheit nicht oder erst sehr spät bekamen. Schnell fiel auf, dass es den Anschein hatte, als besäßen Rheumapatienten einen natürlichen Schutz – eine genauere Untersuchung zeigte, dass es an der lebenslangen Einnahme von Entzündungshemmern lag. Doch das ist kein gangbarer Weg der Vorsorge: Eine lebenslange Einnahme von Medikamenten mit all ihren Nebenwirkungen kann kein Arzt empfehlen, um im höheren Alter möglicherweise den Beginn einer Alzheimer- Erkrankung zu verzögern. Dank der Forschung von Gerhard Multhaup und seinem Team weiß man nun aber, warum die Medikamente wirken: Sie sorgen für ein besseres Mischungsverhältnis der Amyloid-Beta- Peptide.

Welche Mischung ist gut, welche schlecht?

Welche Mischung besonders gut und welche besonders schlecht ist, daran forscht die Gruppe an der Freien Universität gerade intensiv. Grundsätzliche Erkenntnisse besitzt sie bereits: „Amyloid-Beta-40 ist ungefährlich“, sagt Gerhard Multhaup. „Wenn aber Beta-42 zunimmt auf Kosten von 40, wird es gefährlich. In Mausversuchen zeigt sich: Sinkt der Spiegel an Beta-40, Beta-42 bleibt aber gleich, tritt sofort die Krankheit auf. Nimmt beides zu, aber Beta- 42 mehr als Beta-40, tritt ebenfalls sofort die Krankheit auf.“ Immer sei aber das Verhältnis von Amyloid- Beta-42 zu Beta-40 und von Beta-42 zu Beta-38 entscheidend. Bei allen Patienten sei das Verhältnis von 42 zu 38 hoch, bei Gesunden dagegen sei der Spiegel von 38 stets hoch und der von Beta-42 niedrig. „Das spiegelt den molekularen Mechanismus wider, den wir entdeckt haben, nämlich dass 42 der Vorläufer von 38 ist“, fasst Multhaup zusammen. Funktioniert das Zerschneiden durch die Enzyme nicht richtig, entsteht mehr Amyloid- Beta-42. Können sie aber weiterschneiden, entsteht mehr Beta-38. Das wiederum reagiert nicht mit den Zellen, und es entsteht keine Krankheit.

Noch bevor aus diesem Wissen Medikamente entstehen, die die Krankheit entweder verzögern oder gar verhindern, wird diese Erkenntnis in die Diagnostik einfließen.

Ein Bluttest zur Krankheitsbestimmung

Das Forscherteam arbeitet bereits an einem Bluttest, der das Mischungsverhältnis von Amyloid-Beta-38 zu -42 bestimmt. Sobald das Verhältnis zugunsten von Beta- 42 kippt, ist eine sofortige medikamentöse Behandlung angezeigt, um das Fortschreiten der Erkrankung zumindest zu verzögern. Multhaup und Kaden vermuten, dass vom Beginn der Erkrankung – also dem Beginn des ungünstigen Mischungsverhältnisses – bis zu den ersten gravierenden Ausfallerscheinungen des Patienten drei bis fünf, unter Umständen sogar bis zu zehn Jahre vergehen.

Die Zeitspanne hängt auch vom Training des Gehirns ab, denn geistig aktive Menschen haben mehr Nervenverbindungen, auf die das Gehirn beim Ausfall von Zellen zurückgreifen kann. Könnte der Arzt sofort eingreifen, sobald sich das Amyloid-Verhältnis ändert, ließe sich die Erkrankung möglicherweise um Jahre oder gar Jahrzehnte verzögern. Doch der Bluttest hat seine Tücken: Um das Mischungsverhältnis ganz sicher zu bestimmen, benötigen die Forscher bislang Hirnflüssigkeit. Deren Entnahme ist keine angenehme oder ungefährliche Prozedur, schließlich muss dazu eine Kanüle ins Rückenmark gestochen werden – für eine allgemeine Vorsorgeuntersuchung eignet sie sich daher nicht. Im Blut kommen die fraglichen Peptide zwar auch vor, aber in wesentlich geringerer Dosierung – etwa zehnmal weniger als im Hirnwasser – sie sind daher deutlich schwerer nachzuweisen.

Ein weiteres Hemmnis ist die Empfindlichkeitsgrenze der klassischen Tests. Deshalb arbeitet eine weitere Forscherin des Teams, Dr. Vivienne Engelschalt, gerade daran, den Test zu verbessern.

Peptide sind wie Kaugummi

Ihr Hauptproblem: Im Blut schwimmen so viele andere Proteine, dass es für den Test schwierig ist, die Amyloid-Beta-Peptide zu erkennen. „Peptide sind ein bisschen wie Kaugummi, sie kleben überall, weshalb sie für die Antikörper schwer zu erkennen sind“, sagt Gerhard Multhaup. Gemeinsam mit Professor Rainer Haag vom Institut für organische Chemie der Freien Universität sei man aber auf einem guten Weg, das Problem über spezielle Oberflächenbeschichtungen des Tests zu lösen.

Die Kosten für diese Forschungen sind hoch, denn Multhaup und sein Team sind auf modernste Labortechnik angewiesen, um einzelne Peptide und ihre In- teraktionen bestimmen zu können: Am Institut für Biochemie in der Dahlemer Thielallee kommt unter anderem ein hochauflösender Massenspektrometer mit dem schönen Namen „MALDI-Tof-Tof “ zum Einsatz.

Das Gerät bestimmt über die Zeit, die ein Protein zur Durchquerung eines Flugrohrs braucht, dessen Gewicht und damit genauen Typ. Daher auch das Geräte- Kürzel „Tof “ für „Time of flight“. „Core Facility“ wird die aufwendige Ausstattung genannt – sie steht auch anderen Forschern der Freien Universität zur Verfügung. Finanziert werden diese Projekte hauptsächlich aus Drittmitteln, also Forschungsgeldern des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und privater Stiftungen, zum Teil auch aus der Pharmaindustrie, die ein eigenes Interesse an Medikamenten und Testmethoden für die weitverbreitete Erkrankung hat.

Ohne Drittmittel wäre Alzheimer-Forschung nicht möglich

„Ohne diesen apparativen Aufwand könnte man heute nicht auf internationalem Niveau forschen“, sagt Daniela Kaden. Doch angesichts der hohen Kosten, die in Deutschland für die Behandlung von Alzheimer entstehen, sind die mehrere Millionen Euro teuren Geräte fast schon preiswert: Zwischen 45.000 bis 90.000 Euro kostet die Behandlung der Krankheit derzeit jährlich pro Patient und Jahr. Weltweit sind rund 29 Millionen Menschen betroffen, in Deutschland mindestens 700.000. Und weil die Menschen in den westlichen Nationen immer älter werden, wird diese Zahl noch deutlich zunehmen: Schätzungen zufolge werden im Jahr 2050 rund 106 Millionen Menschen an Alzheimer leiden.

Damit das nicht geschieht, forschen Multhaup und sein Team weiter: „Ich würde mir wünschen, dass es am Ende meines Forscherlebens ein Medikament gegen Alzheimer gibt“, sagt Multhaup – doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Der Test sei zwar eine „gute Sache“, aber die Heilung das Ziel: „Wenn es dann Menschen gibt, die sich wieder daran erinnern können, wo sie etwa ihr Auto geparkt haben, dann haben wir einiges richtig gemacht.“