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Flexibilität auf Biegen und Brechen

Erwerbsmobilität zwischen Arbeitsalltag und Koordinations-Katastrophe

08.12.2010

Erwerbsmobilität zwischen Arbeitsalltag und Koordinations-Katastrophe.

Erwerbsmobilität zwischen Arbeitsalltag und Koordinations-Katastrophe.
Bildquelle: photocase.com/designer111 www.photocase.de/foto/60519-stock-photo-landkarte-globus-anschnitt-bildausschnitt-stecknadel-ferien-urlaub-reisen

Für manche Erwerbstätige ist Flexibilität die Garantie für einen abwechslungsreichen Arbeitsalltag, für andere eine Koordinations-Katastrophe. Welche Folgen diese Erwerbsmobilität für den Einzelnen und für die Gesellschaft hat, erforschen Psychologen der Freien Universität am Arbeitsbereich Arbeits-, Berufs- und Organisationspsychologie.

Früher war alles einfacher: Der Sohn kam auf dem elterlichen Bauernhof zur Welt, besuchte die Volksschule, und irgendwo zwischen Sympathie für den heimischen Schweinestall und der elterlichen Erwartungshaltung beschloss er, den Bauernhof zu übernehmen. Die Tochter heiratete den Bub vom Nachbarhof und war genauso wenig konfrontiert mit der Qual der Berufswahl: Die „Berufung“ zur Hausfrau und Mutter wurde ihr ebenso in die Wiege gelegt wie die zur Bäuerin. Familien- und Berufsleben waren, wenn überhaupt, nur eine Traktorfahrt voneinander entfernt – die eigene Welt nur einen Hektar groß. Das Übrige, viele Städte, fremde Länder und die gewaltigen Ozeane, existierten nur zweidimensional auf der Weltkarte.

Heute ist alles komplizierter: Globalisierung, Wandel der Arbeitsgesellschaft und die Veränderung der Geschlechterverhältnisse haben den Horizont der Menschen erweitert – im Kopf und auf der Karte. Ein Kind, das es nicht aufs Gymnasium schafft, wird oft schon als „Verlierer“ abgestempelt. Wer nicht einen Teil seines Studiums im Ausland verbringt, gilt als Nesthocker mit Scheuklappen. Und wer gut ausgebildet ist und wirklich etwas hält auf sich auf seine Fähigkeiten, der bewirbt sich auf Stellen quer durch die Republik und schreckt auch vor transatlantischen Arbeitgebern nicht zurück. Erfolgsstreben macht flexibel. Grenzen waren gestern.

Grenzen waren gestern

In den Sozialwissenschaften ist auch von „Erwerbsmobilität“ die Rede. Welche Faktoren sind es, die zur Mobilität und zur Flexibilisierung der Arbeitskräfte beitragen? Welche Auswirkungen hat diese beinahe grenzenlose Einsatzbereitschaft auf den Einzelnen? Bei ihren Forschungsarbeiten zur Arbeits- und Berufspsychologie sind Professor Ernst Hoff und Privatdozent Hans-Uwe Hohner immer wieder auf solche Fragen gestoßen. Am Arbeitsbereich „Arbeits-, Berufs- und Organisationspsychologie“ der Freien Universität Berlin haben die beiden Psychologen Langzeitstudien zur beruflichen und persönlichen Entwicklung von Personen in akademischen Berufen und in neuen Berufsfeldern geführt, etwa der Informationstechnologie. Die einen erleben Mobilität als willkommene Chance, die anderen als erzwungene Notwendigkeit. Die neuen Technologien etwa sind zwar ungeheuer praktisch, zugleich kann man sich ihnen gerade in der Arbeitswelt kaum entziehen. Mobilfunk macht Mitarbeiter mobil – zeitlich wie räumlich.

„Für Arbeitgeber sind Handy und E-Mails überaus praktisch: Man kann die Mitarbeiter sofort erreichen und spontan zu einem Kunden schicken. Auch für den Kunden sind die Mitarbeiter oft ständig erreichbar – für sie ist das Service“, sagt Hoff. Aber wie wirkt es sich auf Mitarbeiter aus, wenn die zeitlichen und räumlichen Grenzen der Arbeit verschwimmen? Wenn Handy und Laptop mit nach Hause genommen und auch dort nicht abschaltet werden? Wenn man vom Küchentisch oder Bett aus Kundenanfragen beantwortet oder mit dem Chef kommuniziert? Wenn Arbeit und Freizeit fließend ineinander übergehen?

Vermehrt Belastung, Stress und Burnout

„Bei Menschen mit hoher Flexibilität im Arbeitsalltag und ständiger Arbeitsbereitschaft konnten wir aufgrund der ständigen Einsatzbereitschaft vermehrt Belastung, Stress und Burnout feststellen“, sagt Hohner. Es komme zu Kollisionen in der sogenannten work-life-balance: Der Mitarbeiter sei unausgeglichen. Es sind nicht nur die neuen Technologien, die Mobilität einfordern. In vielen Fällen ist Mobilität berufsbedingt. Arbeit zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten wird seit jeher von Ärzten, Krankenpflegern, Polizisten und Fabrikarbeitern gefordert – Schichtarbeit und Bereitschaftsdienst sind Voraussetzungen für diese Berufe.

In einigen Branchen ist die zeitliche und räumliche Flexibilität aber auch eine jüngere Entwicklung: Wurden Zeitungen etwa früher von festangestellten Redakteuren mit festen Arbeitszeiten produziert, bedienen sich heute die meisten Verlage auch freier Journalisten und Fotografen. Dort, wo es kaum mehr Aussichten auf Festanstellungen gibt, herrscht oft ein Zwang zur Autonomie und Flexibilität. Dann geht es darum, einen Kompromiss auszuhandeln zwischen dem Sicherheitsbedürfnis des Arbeitnehmers und dem Flexibilitätswunsch des Arbeitgebers – man spricht in der Arbeitswelt auch oft von „Flexicurity“.

Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes hat auch Auswirkungen auf die Mobilität im Lebenslauf: Wer sich nicht zu den drei Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepublik zählen will, die es Ende 2010 gab, ist zu fast jedem Zugeständnis bereit, um wieder arbeiten zu können. Hartz-IV-Empfänger werden häufig von der Bundesagentur für Arbeit direkt an Zeitarbeitsfirmen vermittelt – wo sie entweder für weniger Geld die gleiche Arbeit leisten wie Festangestellte im gleichen Betrieb oder für zeitlich begrenzte Projekte in einer größeren Entfernung von ihrem Wohnort eingesetzt werden. Es gibt auch höher qualifizierte Job-Nomaden, die von Stelle zu Stelle weiterziehen und ihr „Zelt“ dort aufschlagen, wo sie gerade gebraucht werden – sie sind in ihren Biografien zeitlich und räumlich dauerflexibel, auf Abruf bereit.

Solange sie jung sind und keinen festen Partner haben, sind viele Mitarbeiter und Freiberufler oft gern mobil und genießen den abwechslungsreichen Alltag jenseits der routinierten acht Stunden auf dem Bürostuhl. Doch was, wenn ein Partner und eine eigene Familie dieser gewünschten und geforderten Flexibilität in die Quere kommen?

Wissenschaftkarriere an unterschiedlichen Hochschulen

Nicht nur für Diplomaten war es immer schon fester Bestandteil des Berufslebens, viele Jahre im Ausland zu arbeiten – inzwischen gilt dies auch für Wissenschaftler. Wer im Hochschulbetrieb arbeiten möchte, muss fast zwingend im Laufe seiner Karriere an verschiedenen Universitäten tätig sein. Während es noch möglich ist, an der Hochschule zu promovieren, an der man auch studiert hat, wird die Habilitationsschrift oft schon auf einer wissenschaftlichen Mitarbeiterstelle an einer anderen Hochschule verfasst. Und um einen Lehrstuhl zu bekommen, muss man sich in der Regel eine andere Universität aussuchen. Wenn die Familie am Heimatort wohnen bleibt, versuchen einige Wissenschaftler, ihre Präsenzzeit an der Universität auf einige zusammenhängende Wochentage zu beschränken, um den Rest der Zeit mit ihrer Familie zu verbringen und von zu Hause aus zu arbeiten. Im Kollegen-Jargon spricht man auch von „Di-Mi-Do-Professoren“. Konflikte sind oft programmiert, wenn beide Partner mit akademischer Ausbildung eine berufliche Laufbahn anstreben. In der Berufssoziologie und -psychologie werden sie „dual career couples“ genannt. „Die Mobilität wird dann zum Knackpunkt, wenn ein Partner sich an einem anderen Ort beruflich verbessern kann und der andere Partner seine derzeitige Tätigkeit nicht aufgeben will“, sagt Ernst Hoff. Besonders brenzlig werde es für die Beziehung, wenn beide Partner das gleiche Ausbildungsniveau hätten und damit den Anspruch, sich gleichberechtigt beruflich zu verwirklichen. „In der Beziehung akzeptieren sich beide als gleichwertige Partner, aber wenn es um berufliche Weichenstellungen geht, werden sie auf einmal zu Konkurrenten“, sagt Hoff.

Verschiedene Studien bestätigen die allgemeine Einschätzung: „Bei Mobilitätsentscheidungen folgt die Frau eher dem Mann als umgekehrt“, sagt Hans-Uwe Hohner. Ist das ein Zeichen für ein immer noch traditionelles Rollenbild, in dem die Frau klein beigibt und sich im Zweifel der Selbstverwirklichung des Mannes unterordnet? „Keineswegs, es ist oft eine sehr rationale Entscheidung“, sagen Hoff und Hohner, „in den meisten Fällen verdient der Mann immer noch mehr als die Frau, daher haben beide Partner einen finanziellen Mehrwert, wenn die Mobilitätsentscheidung zugunsten des Arbeitsortes des Mannes fällt.“ Für das vergleichsweise bessere Einkommen des Mannes spiele der Altersunterschied zwischen den beiden Partnern eine Rolle: „In den meisten Beziehungen ist es so, dass der Mann zwei bis drei Jahre älter ist als die Frau und daher meist auch einen Schritt weiter auf der Karriereleiter.“ Wenn das Paar Kinder hat, sinken Studien zufolge die Karrierechancen – vor allem für die Frau. Oft genügt im Lebenslauf unter dem Punkt Familienstand schon die Bemerkung „zwei Kinder“, um der Bewerberin das Etikett „unflexibel“ anzuheften. „Es sind in der Regel immer noch die Frauen, die eine Art Vereinbarkeits- Management in der Beziehung betreiben: Sie holen die Kinder von der Schule ab und fahren sie zu Freunden oder in den Musikunterricht, sie koordinieren den gesamten familiären Zeitplan“, sagt Hans-Uwe Hohner. Diese alltäglich erzwungene Mobilität wird als Last empfunden, da sie angefangen von der elterlichen Urlaubsantrag-Schulferien-Koordination bis hin zu der Frage „Wer holt wann die Kinder ab?“ reicht und einen großen Organisationsaufwand erfordert. Je mobiler beide Partner in ihren Berufen sind, desto schwieriger wird die Koordination des gemeinsamen Lebens.

Erwerbsmobilität ist in der Psychologie noch nicht als Forschungsschwerpunkt angekommen. Vielmehr stoßen die Wissenschaftler bei allgemeinen Forschungen immer wieder auf die Erwerbsmobilität als relativ junges Phänomen. Weitere Studien halten Ernst Hoff und Hans-Uwe Hohner für unbedingt notwendig, auch wenn sich folgendes Problem ergibt: „Oft kommt die Mobilität der untersuchten Person der Erforschung der Mobilität in die Quere“, sagen Hoff und Hohner. „Bei Langzeitstudien haben wir es erlebt, dass die Studienteilnehmer zum Beispiel vier Jahre nach einer ersten Erhebung nicht mehr erreichbar waren, weil sie bereits zum dritten Mal den Arbeitsplatz gewechselt hatten und nun irgendwo am anderen Ende der Welt arbeiteten.“

Sabrina Wendling


Pendelquartett der Freien Universität Berlin

Die München-Berlin-Pendlerin: Prof. Dr. Therese Fuhrer

  • Position an der Freien Universität: Ordentliche Professorin (W 3)
  • Wohnort: München und Berlin-Charlottenburg
  • Arbeitsort: Freie Universität Berlin
  • Entfernung: 500 km
  • Verkehrsmittel: ICE
  • Fahrzeit: 4 Stunden und 50 Minuten Zugfahrt, dann und je 30 Minuten S-Bahn
  • Familienstand: verheiratet
  • Berufliche Stationen: Bern, Irvine, Pittsburgh, Freiburg, University of Oxford, Mainz, Trier, Universität Zürich, Freiburg, Freie Universität Berlin
  • Tage an der Freien Universität: 4 bis 7
  • Ich nehme das Pendeln auf mich, weil … Familie und Katzen in München wohnen; zudem tut eine räumliche Distanz zum Arbeitsort oft ganz gut

Der USA-Deutschland-Pendler: Prof. Dr. Paul Nolte

  • Position an der Freien Universität: Professor für Zeitgeschichte, Friedrich-Meinecke-Institut
  • Derzeitiger Aufenthaltsort: University of North Carolina, Chapel Hill
  • Position an der Austauschuniversität: Visiting Professor of History
  • Flugzeit nach Berlin: 12 Stunden, Umsteigen in New York
  • Familienstand: Verheiratet, zwei Kinder
  • Berufliche Stationen: Bielefeld, Baltimore (Johns Hopkins), Harvard, Göttingen, Bremen (Jacobs University), Freie Universität Berlin
  • Wie lange im Ausland? Gut 10 Monate, ein akademisches Jahr
  • Wie oft in Berlin? Wohl nur zwei Mal – zum Glück: Die Gastprofessur soll nicht über dem Atlantik stattfinden
  • Ich habe mich für den Gastaufenthalt entschieden, weil … Amerika meine zweite Heimat ist und man auch von der Freien Universität, ehrlich gesagt, zwischendurch mal Abstand braucht

Die Hamburg-Berlin-Pendlerin: Annette Piening

  • Position an der Freien Universität: Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungszentrums für Umweltpolitik (FFU), Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft
  • Wohnort:Hamburg
  • Arbeitsort: Forschungsstelle für Umweltpolitik und Heimarbeitsplatz
  • Entfernung: 300 km
  • Verkehrsmittel: Bahn und Fahrrad
  • Fahrzeit: 3 Stunden von Tür zu Tür
  • Familienstand: Ledig, in fester Partnerschaft, ein Kind
  • Berufliche Stationen: Europäische Akademie für städtische Umwelt, Umweltbundesamt, FFU
  • Tage an der Freien Universität: Alle 2 bis 3 Wochen für 2 bis 3 Tage
  • Ich nehme das Pendeln auf mich, weil … meine Stelle befristet ist und mein Partner in Hamburg einen unbefristeten, „sicheren“ Job hat – und weil unsere Tochter in Hamburg zur Schule geht.

Der Bonn-Berlin-Pendler: Dr. Michael Rathmann

  • Position an der Freien Universität: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbreich „Historische Geografie des antiken Mittelmeerraumes“
  • Wohnort: Bonn
  • Arbeitsort: Friedrich-Meinecke-Institut (FMI), Freie Universität Berlin
  • Entfernung: 600 km
  • Verkehrsmittel: Bahn und Fahrrad
  • Fahrzeit: 6 Stunden von Tür zu Tür
  • Familienstand: Verheiratet, 2 Kinder
  • Berufliche Stationen: Uni Bonn, Siegen, Zürich, Hamburg
  • Tage an der Freien Universität: 3 bis 4 Tage pro Woche
  • Ich nehme das Pendeln auf mich, weil … meine Stelle am FMI inhaltlich ausgesprochen interessant ist.