Springe direkt zu Inhalt

Alles Kopfsache

Wie man geistig fit wird und bleibt – von Jung bis Alt

08.12.2010

Studentin in der Philologischen Bibliothek der Freien Universität.

Studentin in der Philologischen Bibliothek der Freien Universität.
Bildquelle: Georg Hubmann

Der Altersforscher Paul Baltes korrigierte die bis dato herrschende Ansicht, die geistige Entwicklung sei mit knapp 30 Jahren abgeschlossen. Er propagierte die Theorie vom lebenslangen Lernen.

Der Altersforscher Paul Baltes korrigierte die bis dato herrschende Ansicht, die geistige Entwicklung sei mit knapp 30 Jahren abgeschlossen. Er propagierte die Theorie vom lebenslangen Lernen.
Bildquelle: http://www.baltes-paul.de/

Die Lernfähigkeit sinkt im Alter, geistig mobil kann man trotzdem noch lange sein.

Die Lernfähigkeit sinkt im Alter, geistig mobil kann man trotzdem noch lange sein.
Bildquelle: istockphoto.com

Wer die Liste der Nobelpreisträger studiert, könnte in die Irre geleitet werden: Das Durchschnittsalter der ausgezeichneten Wissenschaftler liegt seit jeher bei zirka 62 Jahren. Doch die Zahl täuscht über einen wichtigen Fakt hinweg: Die meisten Forscher haben ihre prämierte Entdeckung um das 30. Lebensjahr gemacht, das Nobelkomitee belohnt sie dafür jedoch erst später, wenn die Tragweite der Erkenntnis deutlich geworden ist.

„Fakten wie dieser haben lange Zeit dazu geführt, dass auch die Psychologie annahm, die geistige Entwicklung sei mit 28, 29 Jahren abgeschlossen und nehme von jenem Zeitpunkt an langsam, aber stetig ab“, sagt Hans Merkens, Professor für Empirische Erziehungswissenschaft an der Freien Universität. Dieser Irrtum basierte auch auf einer etwas naiven Test-Gläubigkeit: Der Intelligenzquotient (IQ) wurde ursprünglich gemessen, indem die Anzahl der richtig gelösten Testaufgaben schlichtweg durch das Alter geteilt wurde. Bei gleichbleibendem Lösungsverhalten sank der Wert im Laufe des Lebens also.

Es bedurfte erst des Ende 2006 verstorbenen Bildungsforschers Paul Baltes , um diese Lehrmeinung zu korrigieren: Baltes, der auch an der Freien Universität lehrte, propagierte die Theorie vom lebenslangen Lernen und leitete damit auch einen Paradigmenwechsel in der Intelligenzforschung ein. Heute weiß man, dass die geistige Entwicklung zwar in der Tat bis ungefähr zum 30. Lebensjahr noch voranschreitet, dann aber bis zum 60., 65. Lebensjahr relativ stabil bleibt, bevor sie abnimmt. „Das ist gleichwohl eine Betrachtung am Durchschnitt. Es gibt Menschen, deren geistige Mobilität früher abnimmt – etwa, weil sie einen Schlaganfall erleiden und in dessen Folge Hirnareale ausfallen“, schränkt Merkens ein.

Von 30 bis 60 bleibt die geistige Fitness meist stabil

Doch was ist das überhaupt, die vielgerühmte „geistige Mobilität“, nach der die Menschen zunehmend streben? „Geistige Mobilität“, sagt Hans Merkens abwägend, „ist eigentlich ein Alltagsbegriff, der wissenschaftlich nicht scharf umrissen ist.“ Gemeinhin bezeichnet man solche Menschen als geistig mobil, die sich auf unterschiedliche Situationen schnell einstellen oder kreative Lösungen für neue Situationen finden. Ein Standardinstrument zur Messung dieser Mobilität steht Erziehungswissenschaftlern und Psychologen bisher nicht zur Verfügung. Für jede Untersuchung muss der Forscher zuvor neu definieren, was er unter dem Begriff versteht. Die alte Kritik an diesem Operationalismus, nach der etwa Intelligenz nur das ist, was der Intelligenztest misst, gilt damit auch für die geistige Mobilität, die sich oftmals von der Intelligenz nur schwer abgrenzen lässt und auch mit ihr in engem Zusammenhang steht.

Wie in so vielen Bereichen hat die schnelle Entwicklung der Neurowissenschaften in den vergangenen Jahren aber auch hier neue Einblicke ermöglicht. „Seit wir wissen, in welchem Hirnareal welche Vorgänge ablaufen, können wir viel genauer sagen, welche Areale für geistige Mobilität aktiviert werden müssen und mit welchen Mechanismen sie aktiviert werden – und sie von verwandten Konzepten abgrenzen“, sagt Hans Merkens. Doch auch hier gelte: Je nach gewähltem Vorgehen gelange der Forscher zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Wer es sich leicht machen wolle, messe einfach die Reaktionszeiten auf neue Reize.

Geistige Mobilität heißt auch: Anpassungsfähigkeit

Leichter, als genau zu umreißen, was „geistige Mobilität“ eigentlich ist, fällt den Wissenschaftlern daher die Abgrenzung zu verwandten Eigenschaften, etwa zur Lernfähigkeit. Die sinkt mit dem Alter in der Tat deutlich, doch geistig mobil zu sein ist eben nicht dasselbe wie eine neue Sprache zu lernen, sondern eher eine Form der Anpassungsfähigkeit, wie der Forscher betont.

 Auch mit Schlagfertigkeit möchte Merkens die geistige Mobilität nicht verwechselt wissen, denn Schlagfertigkeit beruhe vor allem auf dem schnellen Abruf bestimmter Sprach- oder Denkmuster: „Es gibt viele Leute, die noch sehr schlagfertig sind, obgleich sie schon lange nicht mehr geistig mobil sind. Die haben sich ihre Leben lang bestimmte Muster antrainiert, die sie auch noch spät sehr zuverlässig abrufen können.“ Den beliebten Reduktionismus von geistiger Mobilität auf eine rein hirnstoffliche Frage macht Hans Merkens nicht mit: Mobilität habe nicht nur mit neuronalen Verschaltungen, sondern auch viel mit Motivation, dem Antrieb zu Neuem, zu tun, sagt er. Deshalb empfehlen Psychologen seit langem besondere Trainings für ältere Menschen, um deren geistige Beweglichkeit so lange wie möglich zu erhalten.

Alternde Gesellschaften und Jugendwahn

Den immer größeren gesellschaftlichen Druck zur geistigen Leistungsfähigkeit sieht Merkens dennoch kritisch: Es handle sich dabei auch um ein Symptom der alternden Gesellschaft und des gern propagierten Jugendwahns, sagt er – und wirbt dafür, den jeweils eigenen Weg zu suchen. Immerhin habe man durch den Druck, innerlich möglichst lange jung zu bleiben, ein besseres Bewusstsein dafür entwickelt, welch hohes Gut geistige Mobilität bedeute. Dadurch unternähmen die Menschen auch größere Anstrengungen, sie sich länger zu erhalten. Dennoch lasse sich die Mobilität ab einem bestimmten Altern, auch wegen physiologischen Grenzen, nicht mehr steigern – wohl aber dank Trainings erhalten.

Der Wunsch nach längerer geistiger Mobilität ist für Hans Merkens ein Symptom für die immer komplexer werdende Umwelt: Technische Geräte, das Internet, eine allgemeine Beschleunigung des Lebens fordern die geistige Flexibilität jeden Tag aufs Neue heraus. In diesem Zusammenhang warnt der Forscher vor einer Zwei-Klassen-Gesellschaft: Die einen, die nie an solchen Entwicklungen teilhatten, geraten zusehends ins Abseits, die anderen, die schon immer partizipierten, würden nun noch länger teilhaben. Gerade die Ergebnisse der vielzitierten Pisa-Studien enthalten Merkens zufolge deutliche Warnungen: Demnach sind 20 bis 25 Prozent der Schüler von Bildung fast schon ausgeschlossen – mit fatalen Folgen für ihre geistige Mobilität. Es komme daher zunehmend darauf an, schon am Anfang des Lebens anregungsreiche Lernumwelten zu schaffen, die dafür sorgen, dass sich später die geistige Mobilität auf Dauer erhält.

Hans Merkens zitiert amerikanische Untersuchungen zur Intelligenzentwicklung, in denen Kinder von Bergbauern und Flussschiffern mit solchen in einer anderen Umgebung verglichen wurden. Dort zeigte sich, dass der Intelligenz-Quotient der Bergbauern- und Flussschiffer- Kinder in den ersten zwei, drei Jahren rapide anstieg – viel schneller als bei anderen Kindern – dann aber stagnierte, während andere Kinder begannen, aufzuholen und schließlich zu überholen. Eine Umwelt voller Reize fördert also die geistige Entwicklung, doch diese Reize müssen beständig aufrecht erhalten werden.

Bei den Kindern der Bergbauern und Flussschiffer blieben die Reize irgendwann gleich, während die anderen Kinder durch Schule und Förderung im Elternhaus ständig mit neuen Reizen konfrontiert waren. „Wer Kinder in reizvoller, aber nicht reizüberfluteter Umgebung aufwachsen lässt, kann den Anteil von Verlierern vor dem Alter von 15 Jahren systematisch vermindern“, sagt Bildungsforscher Merkens daher.

Was Hänschen nicht lernt ...

Was nicht früh gefördert wurde, fehlt hingegen für den Rest des Lebens. Das macht sich im Alter besonders bemerkbar – wer seine geistige Mobilität nie herausgefordert hat, wird sie nach der Pensionierung kaum erhalten können. Es gebe eben nicht nur surfende Senioren, die jede Woche einen neuen Volkshochschulkurs belegten und zwischendrin ins Theater oder zum Musikunterricht gingen, sondern auch noch den typischen Rentner, der im Kleingärtner- Dasein seine Erfüllung finde. „Geistige Mobilität bleibt nicht von allein über die gesamte Lebenszeit erhalten. Es bedarf der individuellen Anstrengung, sie zu bewahren“, sagt Merkens. „Eine solche Anstrengung ist viel leichter zu erbringen, wenn man ohnehin geistig gefordert wird. Viele Ältere werden aber nicht mehr geistig gefordert, und das ist ein Problem.“ Wissenschaftler etwa erlitten kaum einen Abbau ihrer Mobilität, weil sie zeitlebens denkend tätig waren und durch die moderne Forschungsarbeit, die sich vor allem in Arbeitsgruppen abspielt, systematisch in ihrer geistigen Mobilität gefördert würden.

Das gilt für viele Rentner nicht ohne Weiteres, selbst wenn sie täglich Kreuzworträtsel lösen oder Sudokus ausknobeln, wie vielfach in Fernsehzeitschriften gefordert wird. Der Vorteil der Geistesarbeiter im Alter kann aber schnell relativiert werden, wenn die Gesundheit nicht mitmacht: Bei Demenzerkrankungen spielen Bildung, Ausbildung oder Berufsbild keine Rolle, sie sind in Akademikerkreisen ebenso anzutreffen wie im Arbeitermilieu.

Im Alter zurück an die Uni?

Doch was heißt das nun für den, der nicht nur seine körperliche Mobilität möglichst lange erhalten möchte? Soll er Kurse belegen, im Rentenalter zurück an die Universität gehen, viel reisen, ständig umziehen oder einfach weiterhin tun, was er schon immer getan hat? Hans Merkens‘ Antwort klingt zunächst reichlich abstrakt: Man solle sich Umwelten konstruieren, in denen man ohne natürliches Training auskommt, rät der Forscher. Von Patentrezepten hält er wenig, die Befassung mit Kunst und Kultur sei aber ein guter Weg, auch Lesepatenschaften, die Beschäftigung mit den eigenen Enkeln oder häufiges Reisen, wenn das Haushaltsbudget das zulässt. Des prinzipiellen Problems ist sich Merkens dabei vollauf bewusst: Bildungsangebote erreichen häufig nur jene, die bereits eine gewisse Vorbildung oder ein Interesse dafür mitbringen. Um dieses Problem anzugehen, könne man gar nicht häufig genug das Loblied der frühen Förderung singen, sagt Merkens.

Was die mögliche Dauer der geistigen Mobilität angeht, ist Merkens weitaus optimistischer. „Je mehr sich die Forscher, die sich mit dem Konzept der geistigen Mobilität und ihrer Entwicklung über die Lebensspanne beschäftigen, selbst dem Alter nähern, in dem sie vermutlich abnimmt, desto eher werden sie Belege dafür finden, dass der Abbau erst später anfängt und viel langsamer voranschreitet“, sagt er mit einem feinen Lächeln. Merkens ist selbst 73 Jahre alt, ein Kollege fragte ihn vor dem Interview, ob er als Experte oder Betroffener gehört werden solle, erzählt er – mit gespielter Bitterkeit. Das seien Scherze, mit denen man rechnen müsse, wenn man sich im fortgeschrittenen Alter noch mit geistiger Mobilität befasse, sagt er. Ein Trost aber dürfte ihm bleiben: Für den Nobelpreis wäre der Forscher der Freien Universität genau im richtigen Alter.