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Zusammenwachsen kann nur, was zusammengehören will!

Deutschland 20 Jahre nach der Wiedervereinigung – wie ein Volk sich aufeinander zubewegt

08.12.2010

Die Zufriedenheit mit der Demokratie sank zwar, als Regierungsform findet sie aber nach wie vor grundsätzlich Zustimmung.

Die Zufriedenheit mit der Demokratie sank zwar, als Regierungsform findet sie aber nach wie vor grundsätzlich Zustimmung.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Mauer fiel, die Einheit kam – unverhofft und schnell, herbeigesehnt oder befürchtet. In den turbulenten Monaten im Spätherbst des Jahres 1989 stürzte gleichsam über Nacht zusammen, was seit 1945 Bestand gehabt hatte. Das Freiheitsstreben der aus dem sowjetischen Imperium drängenden ost- und mitteleuropäischen Staaten brachte auch Deutschland die Einheit in Freiheit. Nach der Wiedervereinigung vollzogen sich durch den von der Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl eingeschlagenen konsumorientierten Vereinigungspfad, der zwangsläufig gewaltige finanzielle Transfers von West nach Ost voraussetzte, materielle und soziale Angleichungsprozesse in atemberaubender Geschwindigkeit – und ohne wirtschaftliches Fundament.

Heute könnte das vereinte Deutschland, in dem auch Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben, seine Kraft aus politischer und kultureller Vielfalt bei institutioneller Einheit ziehen. Hierzu gehören auch eine im Kern gemeinsame Identität, der Bezug auf gemeinsame Werte und ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Insbesondere an diesen substanziellen Grundlagen scheint es allerdings in Deutschland zu mangeln.

Der Wohlstandssprung

Nach dem Fall der Mauer waren die meisten Ostdeutschen zwar kurzzeitig glücklicher als ihre westdeutschen Brüder und Schwestern; als Folge jahrzehntelanger sozialistischer Misswirtschaft aber materiell auch ärmer. Ihre Haushaltseinkommen waren nicht einmal halb so hoch wie die der Westdeutschen, ihre Vermögen erreichten sogar nur etwa ein Fünftel des westdeutschen Niveaus. Ihre Wohnungen waren deutlich kleiner und vergleichsweise spartanisch ausgestattet, ihre Arbeits- und Lebenswelt von veralteten Produktionsanlagen, katastrophalen Umweltbedingungen und unzureichender Infrastruktur geprägt. Aufgrund der niedrigen Arbeitsproduktivität der zentralistischen Planwirtschaft – sie lag bei nicht einmal 30 Prozent des Westniveaus – war die nominelle Jahresarbeitszeit der Werktätigen in der DDR um etwa zehn Prozent höher als in der Bundesrepublik.

Bereits Mitte der neunziger Jahre erzielten ostdeutsche Haushalte dank umfangreicher Transferzahlungen unter Berücksichtigung der Kaufkraft zwischen 80 und 90 Prozent der westdeutschen Einkommen. Seitdem ist der Abstand etwa gleich geblieben. Binnen weniger Jahre vollzog sich die Angleichung des Wohlstands; bis Mitte der neunziger Jahre holten ostdeutsche Haushalte den Rückstand bei langlebigen Konsumgütern auf. Auch Reiseausgaben und -verhalten sowie Wohnverhältnisse glichen sich weitgehend an. Die Wohlstandsunterschiede innerhalb des Westens sind deutlich größer als die zwischen Ost und West, denn der Wohlstand in Westdeutschland war – was viele Ostdeutsche nicht wissen – schon immer regional ungleich verteilt.

Rentner als materielle Einheitsgewinner

Zu den materiellen Gewinnern der Einheit zählen vor allem die ostdeutschen Rentner, deren durchschnittliche Altersrente sich zwischen 1988/89 und 1999 nominal etwa vervierfachte. Auch die Geldvermögen entwickelten sich explosionsartig. Die 1990 bei knapp einem Fünftel des Westniveaus gestarteten ostdeutschen Haushalte erreichten schon acht Jahre später gut 42 Prozent und liegen 2010 bei etwa 54 Prozent des westdeutschen Durchschnitts. Wenn man die kapitalisierten Ansprüche an die Rentenkassen mitberücksichtigt, erreichten ostdeutsche Arbeitnehmer kurz nach der Jahrtausendwende – je nach Alter und Geschlecht – zwischen knapp 64 und gut 95 Prozent des westdeutschen Durchschnitts beim Gesamtvermögen.

1,6 Billionen Euro flossen von West nach Ost

Die historisch beispiellose Wohlstandsexplosion verdankt sich zum einen der gewaltigen Auf- und Umbauleistung ostdeutscher Unternehmer und Arbeitnehmer, zum anderen aber auch massiven Transferzahlungen aus dem Westen, vor allem im Sozialbereich. Bis 2010 dürften insgesamt etwa zwei Billionen Euro brutto und 1,6 Billionen Euro netto von West nach Ost geflossen sein. Auf unabsehbare Zeit werden weiterhin 80 bis 100 Milliarden Euro jährlich in die neuen Länder transferiert werden müssen. Angesichts der Tatsache, dass die Ostdeutschen – nicht nur materiell – die Hauptlast des gemeinsam verschuldeten und verlorenen Zweiten Weltkrieges tragen mussten, können diese Transferleistungen als eine Art „ausgleichender Gerechtigkeit“ betrachtet werden.

Binnen weniger Jahre wurden viele ruinöse Hinterlassenschaften des SED-Staates beseitigt. Der zu DDR-Zeiten zum wirtschaftlichen Vorteil betriebene Raubbau an Natur und Umwelt wurde beendet, die räumliche und technische Infrastruktur modernisiert. Viele Innenstädte konnten vor dem endgültigen Zerfall bewahrt, das Gesundheitswesen auf den neuesten Stand gebracht und die Ernährungssituation verbessert werden. Infolgedessen stieg die Lebenserwartung der Ostdeutschen in den letzten zwanzig Jahren um gut fünf Jahre an und erreichte fast das West-Niveau.

Obwohl die genannten Zahlen für sich sprechen, begreifen viele Ostdeutsche diese Entwicklung nicht als Gewinn, sondern haben offenbar die Ausgangslage 1989/90 weitgehend vergessen – und gleichzeitig ihre Ansprüche erhöht. Nicht das bereits Erreichte, sondern die noch verbliebene Differenz zum Westen ist zu ihrem Bewertungsmaßstab geworden.

Selbstbilder und Fremdwahrnehmungen

Die Prägungen in unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Systemen wirken – stärker als zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung angenommen – bis zum heutigen Tag nach. Mehrheiten in Ost und West glauben weiterhin, dass sich die Menschen in beiden Landesteilen insbesondere in dem unterscheiden, was sie im Leben für wichtig halten, welche Mentalität sie haben und wie sie denken und fühlen. In der Selbstbeurteilung sind nach wie vor Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen erstaunlich ausgeprägt. Die ehemaligen DDR-Bewohner schreiben sich und ihren „Leidensgenossen“ vor allem positive Eigenschaften zu. So bewerten sie sich als sozial eingestellt, gefühlsstark, fleißig, friedfertig und engagiert. Die Westdeutschen dagegen beurteilen sich zwar ebenfalls durchaus positiv – zum Beispiel selbstbewusst und entscheidungsfreudig –, aber auch wesentlich selbstkritischer; sie bestätigen zum Teil die ihnen von Ostdeutschen zugeschriebenen negativen Eigenschaften: überheblich, machtgierig, ehrgeizig und arrogant. Die Westdeutschen sehen die Ostdeutschen in einem eher milden Licht und stufen sie vor allem als hilfsbereit, freundlich, ehrlich, gescheit und zuverlässig ein, aber auch als unzufrieden, ängstlich und bequem. Deutlich wird die Gruppenspezifität dieser Zuschreibungen, wenn sich viele Ostdeutsche für ehrlich halten, aber nur die Wenigsten den Westdeutschen das Gleiche zubilligen. Die Bewohner der alten Länder wiederum gestehen die für sich in Anspruch genommenen positiven Eigenschaften den Bürgern der neuen Länder nicht zu. Die wechselseitigen Vorurteile können sich nur dann reduzieren, wenn sich die Menschen näher kennenlernen.

Die gespaltene Bewertung von Staat und Wirtschaft

Doch auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung begegnen sich die Deutschen noch recht selten. Vor allem Westdeutsche zeigen sich gegenüber ihren ostdeutschen Landsleuten ignorant: Viele von ihnen betrachten sich persönlich als Sieger der Geschichte und die Ostdeutschen als Verlierer. Sie schreiben die Überlegenheit des westlichen Systems ihrem eigenen Engagement und ihrer individuellen Arbeitsleistung zu. Für die weiterhin bestehenden Wirtschaftsprobleme führen sie als Grund die unzureichende Arbeitsmotivation der Ostdeutschen an. Vor diesem Hintergrund lebt für Ost- und Westdeutsche das gewohnte Bild vom „reichen Wessi“ fort, der mitleidig auf den „armen Verwandten“ aus dem Osten herabsieht, sich dabei aber heute über die viel höheren Kosten der Verwandtschaftspflege ärgern muss.

Die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens resultieren aber auch aus der Ausgangssituation. Die Vereinigung erfolgte nicht von Gleich zu Gleich, sondern als Beitritt eines kollabierenden Staates zu einem prosperierenden Gemeinwesen. Fast alle DDR-Bewohner erstrebten die Einheit, um so schnell wie möglich so leben zu können wie die Westdeutschen. Diese wiederum wollten in ihrer weit überwiegenden Mehrheit weder den Lebensstil ihrer ostdeutschen Landsleute noch die „sozialistischen Errungenschaften der DDR“ übernehmen. Diese Ausgangslage erklärt die identitätsstiftende ostdeutsche Trotzreaktionen ebenso wie westdeutsche Überlegenheitsgefühle.

Die ausbleibende Anerkennung durch Westdeutsche verstärkt den in Ostdeutschland zu beobachtenden Trend der Über- und Unteranpassung. Während sich die einen so verhalten, wie sie sich den typischen Westdeutschen denken – oberflächlich, materialistisch, ellenbogenfixiert –, ignorieren andere die neuen kulturellen Codes und benehmen sich so, als ob die DDR fortbestünde. Kulturelle Gegensätze und politische Grundauffassungen scheinen sich in den neuen Ländern insofern in stärkerem Maße unversöhnlich gegenüberzustehen als in Westdeutschland, wo Verschiedenheiten im pluralistischen Vielerlei ohnehin wenig auffallen.

Spätestens seit Mitte der sechziger Jahre setzte die Mehrheit der Westdeutschen großes Vertrauen in ihr Gesellschaftssystem, wobei Demokratie und Marktwirtschaft bis Ende der achtziger Jahre gleichermaßen hohe Zustimmung fanden. Nach den mit der Wiedervereinigung einhergehenden Umverteilungsprozessen sank jedoch die Zufriedenheit mit der Demokratie, auch wenn die grundsätzliche Zustimmung erhalten blieb.

Viele Ostdeutsche sind nach wie vor ungeübt im Mitund Gegeneinander einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft. Der Wettbewerb der Ideen, politischen Richtungen, sozialen Interessen et cetera erscheint ihnen als zerstörerisches Element in einer unübersichtlichen Gesellschaft. Sie hegen den Wunsch nach einem starken Staat, nach einer Instanz, die vorgibt, was oben und unten, richtig und falsch, gut und böse sei. Zwar favorisieren sie – ebenso wie eine sehr breite Mehrheit der Westdeutschen – die Demokratie als politisches Prinzip. Sie äußern sich aber sehr skeptisch gegenüber der praktizierten parlamentarischen Demokratie.

In der Kritik einer Mehrheit in beiden Landesteilen steht vor allem das Wirtschaftssystem: Nur noch knapp die Hälfte der Westdeutschen und etwas mehr als ein Viertel der Ostdeutschen halten die Marktwirtschaft für das beste Wirtschaftssystem. Mit dieser Skepsis korrespondiert ein steigender Anteil derjenigen, die den Sozialismus für eine gute Idee halten, die nur schlecht ausgeführt worden sei.

Der nostalgische Blick auf die Zeit der Teilung

Über die vergangenen zwanzig Jahre hinweg hat sich bei den Deutschen in Ost und West eine unterschiedliche Einschätzung des Staates und seiner Aufgaben gehalten. Trotz des kläglichen Scheiterns des Staatssozialismus in der DDR erwarten Ostdeutsche mit großer Mehrheit, dass sich der Staat möglichst umfassend um die Bürger kümmern und tief in die Wirtschaft eingreifen soll. Die Umverteilungsdimension des Staates wird dagegen von alten und neuen Bundesbürgern ähnlich gesehen – jedenfalls seit der Jahrtausendwende. Eine relative Mehrheit geht davon aus, dass der Wohlstand in einem Staat, der stark in die Wirtschaft eingreift, größer ist als in einer Gesellschaft, in der sich der Staat weitgehend aus dem Wirtschaftsprozess heraushält. Selbstredend wird dem intervenierenden Staat mehr Gerechtigkeit zugesprochen.

Die politische und wirtschaftliche Ordnung betrachten viele neue Bundesbürger wesentlich häufiger als ihre Brüder und Schwestern aus dem Westen als zwei Seiten der selben Medaille. Demokratie und Freiheit werden von ihnen nicht als Werte an sich gesehen, sondern immer im Zusammenhang mit der Wohlstandsentwicklung betrachtet. Diese Haltung prägte auch viele Westdeutsche bis weit in die sechziger Jahre hinein: Der einsetzende Wohlstand für alle und der Ausbau des Sozialstaates verstärkten das Vertrauen in die politische Ordnung. Inzwischen favorisiert eine – wenn auch schrumpfende – absolute Mehrheit der Westdeutschen das demokratische Gesellschaftsmodell selbst bei stagnierendem (individuellen) Wohlstand. Anders als ihre ostdeutschen Landsleute rechnen die meisten allerdings nicht mit dem Untergang ihres Staates. Viele Ostdeutsche äußerten dagegen gerade angesichts der Finanzkrise die Befürchtung, das System sei an seine Grenzen gestoßen; bei nicht wenigen von ihnen kam diese Haltung vielleicht eher einer Hoffnung gleich. Insgesamt hat sich die politische und mentale Spaltung zwischen den beiden deutschen Teilgesellschaften im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre eher verfestigt als verflüchtigt. Die neuen Institutionen sind vielen Ostdeutschen äußerlich und fremd geblieben; sie entsprachen nicht ihren idealisierten Vorstellungen. Die Ernüchterung über die Realität führte nicht nur bei ewig Gestrigen zu einer Renaissance sozialistischen Gedankenguts, dem zufolge die kapitalistische Bundesrepublik von sozialer Kälte und Klassengegensätzen beherrscht werde; auch ostdeutsche Normalbürger fühlen sich vom Westen beziehungsweise vom Kapitalismus unterdrückt und ausgebeutet.

Zwar näherten sich nach der Vereinigung die systembedingt unterschiedlichen Geschichtsbilder an, doch beurteilen Ost und West insbesondere die DDR und ihre Einordnung in die deutsche Geschichte nach wie vor sehr unterschiedlich. Während eine breite Mehrheit der Westdeutschen vor dem Hintergrund eines mehr oder weniger bewussten antitotalitären beziehungsweise antidiktatorischen Grundverständnisses den SED-Staat vor allem als Diktatur sieht und das System verurteilt, neigt eine Mehrheit der Ostdeutschen zu einer wohlwollenden Betrachtung, die das Schwergewicht auf das eigene Leben und die Alltagserfahrungen legt. Wer der DDR mehr oder weniger wohlgesonnen ist, argumentiert oder polemisiert zumeist unter Bezug auf verschiedene, teils getrennte, teils verknüpfte Aspekte. Dem Westen wird vorgeworfen, von Beginn der Teilung an alles getan zu haben, die DDR zu schwächen. Vor allem Adenauer habe die deutsche Einheit verhindert und die DDR schlechtgeredet. Die Wiedervereinigung wird als Kolonialisierungsprozess beschrieben und als Negativfolie für das (positive) Urteil über die DDR benutzt. Doch die in den Köpfen vieler Ostdeutscher vorhandene DDR ist nicht so, wie sie wirklich war. Diese DDR ist im Nachhinein konstruiert – und wird auf eine idealisierte soziale Dimension reduziert. Die reale DDR wünscht sich nur eine Minderheit von höchstens zehn bis 15 Prozent der Ostdeutschen zurück. Die anderen träumen von einem „dritten Weg“, in dem die (vermeintlich) positiven Seiten der DDR berücksichtigt werden.

Die Westalgie übertrifft die Ostalgie

Trotz der nostalgischen Verklärung der DDR betrachtet eine breite Mehrheit der Ostdeutschen die Zeit nach der Wiedervereinigung als die beste ihres Lebens. Anders fällt die Wahrnehmung der Westdeutschen aus: Die Zeit vor 1990 wird von einer Mehrheit als schöner empfunden. Die Westalgie übertrifft insofern – öffentlich kaum wahrgenommen – die Ostalgie. Viele Ostdeutsche differenzieren nicht zwischen dem System – der sozialistischen Diktatur – und ihrem eigenen Leben in der DDR, sondern empfinden jede Kritik am System als eine Herabwürdigung ihres eigenen Lebens. Dadurch wird die Verteidigung der individuellen Lebenswelt gleichsam automatisch zu einer Rechtfertigung der sozialistischen Diktatur. Doch damit sich die Menschen in Ost und West mit dem heutigen Gesellschaftsmodell identifizieren, seine Weiterentwicklung als gemeinsames Projekt begreifen und Ost und West zusammenwachsen können, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Zum einen muss die sozialistische Diktatur delegitimiert werden, zum anderen müssen die Westdeutschen einsehen, dass ihre Gesellschaftsordnung zwar der sozialistischen überlegen, gleichwohl reformbedürftig gewesen ist.

Das neue Deutschland

Mit Geld lässt sich zwar vieles bewerkstelligen, aber nicht alles. Das zeigen die anhaltenden und leider weiter zunehmenden Differenzen zwischen Ost und West deutlich. Finanzielle Solidarität ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für das Zusammenwachsen. Auch nach mehr als zwanzig Jahren staatlicher Einheit fehlt es an einer gemeinsamen Identität. Dabei könnten die Deutschen auf das nach der Vereinigung Geschaffene in Ost und West stolz sein. Sie haben erreicht, was kaum noch für möglich gehalten wurde: Deutschland hat sich friedlich und in Freiheit vereint und bisher keine Großmachtallüren gezeigt. Die Tür zur deutschen Vereinigung – und dies haben viele schon vergessen – konnte die ostdeutsche Bevölkerung im Herbst 1989 aus eigener Kraft aufstoßen. Wie schon am 17. Juni 1953 wandte sie sich gegen die sozialistische Diktatur. Doch diesmal gelang es, die Herrschenden und ihre Diktatur zu stürzen. Die Menschen forderten das Recht auf Selbstbestimmung und eine Mehrheit votierte für eine schnelle Wiedervereinigung. Dieser „Glücksfall der Geschichte“ – die Wiedervereinigung Deutschlands unter freiheitlichen und demokratischen Vorzeichen – darf nicht durch Verteilungsstreitigkeiten oder nostalgisch eingefärbte Rückblicke überdeckt werden.

Die Wiedervereinigung, ein "Glücksfall der Geschichte"

Die Nachwirkungen systembedingter Unterschiede und Gegensätzlichkeiten lassen sich nur überwinden, wenn stärker zwischen System und Lebenswelt differenziert wird. Um die derzeit noch bestehenden Gräben zwischen Ost und West bei erfahrungs- und systemgeprägten Mentalitäten und Werten zuzuschütten, müssen – solange diese nicht an den Grundfesten einer freiheitlichen Gesellschaft rütteln – andere Erfahrungen und Einstellungen akzeptiert werden. Gegenseitiges Verständnis setzt zunächst die Bereitschaft voraus, den Anderen zu verstehen und sich gemeinsam für den Fortbestand einer freiheitlich-demokratischen Ordnung einzusetzen. An beidem mangelt es zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung in Ost und West noch. Zusammenwachsen kann nur das, was zusammengehören will – aufeinander zubewegt haben sich beide Teile schon.