Springe direkt zu Inhalt

Die Schrift schreibt Geschichte

Vom Keil zum Tablet-Computer - vor Jahrtausenden begann eine Revolution, die sich bis heute fortsetzt: Der Mensch begann zu schreiben. Jetzt steht der nächste Umbruch bevor.

04.06.2010

Vom Keil zum Tablet-Computer – vor Jahrtausenden begann eine Revolution, die sich bis heute fortsetzt: Der Mensch begann zu schreiben. Jetzt steht der nächste Umbruch bevor.

Vom Keil zum Tablet-Computer – vor Jahrtausenden begann eine Revolution, die sich bis heute fortsetzt: Der Mensch begann zu schreiben. Jetzt steht der nächste Umbruch bevor.
Bildquelle: fotolia.de

Professor Schiller ist ein Technikbegeisteter, er warnt vor den Sicherheitslücken der marktbeherrschenden Firmen: "Wer deine Daten einigermaßen verlässlich schützen möchte, muss sie verschlüsseln"

Professor Schiller ist ein Technikbegeisteter, er warnt vor den Sicherheitslücken der marktbeherrschenden Firmen: "Wer deine Daten einigermaßen verlässlich schützen möchte, muss sie verschlüsseln"
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Jahrmillionen kamen der Mensch und seine Vorfahren zurecht, ohne lesen und schreiben zu können. Dann beginnt zwischen Euphrat und Tigris eine zivilisatorische Revolution – mit Holzgriffel und Tontafel: Die Keilschrift der Sumerer gilt als älteste schriftlich überlieferte Sprache. Dann, binnen weniger Jahrhunderte, veränderten die Kulturtechniken Lesen und Schreiben fast alles: die Art, wie der Mensch Wissen weitergibt, wie er Handel treibt, wie er die Welt entdeckt, erfährt und versteht – die Art, wie er denkt. Jetzt, zu Beginn des digitalen Zeitalters, steht der nächste Umbruch unmittelbar bevor. Ein Parforceritt durch die Geschichte der Schrift.

Wenig hat sich verändert im Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler während der vergangenen 4000 Jahre. Schon im alten Babylonien, dort wo heute der Irak liegt, klagten Lehrer über ihre Schützlinge: Zu faul und zu dumm seien sie. Und sie schrieben ihre Klagen nieder – in Keilschrift. „Es gibt geradezu amüsante Texte aus der damaligen Schule, die überliefert sind“, sagt Jörg Klinger, Professor am Institut für Altorientalistik der Freien Universität Berlin.

Denn Keilschrift ist eine der langlebigsten Schriften der menschlichen Geschichte, nur ihr ist es zu verdanken, dass die Forschung heute eine Menge weiß über das Leben in Vorderasien vor mehreren tausend Jahren. Sumerisch, das in Mesopotamien gesprochen wurde, gilt als die älteste schriftlich überlieferte Sprache. Mit einem Griffel wurden Schriftzeichen in Ton gedrückt und überdauerten so die Jahrhunderte. Anders als beim heutigen Alphabet stand jedes Schriftzeichen für eine Silbe, mehrere hundert Zeichen gab es. „Für den Alltagsgebrauch eines Händlers genügten aber rund 90 Zeichen“, sagt Klinger. Kundige Schreiber lehrten die Ritz-Zeichen an eigens dafür eingerichteten Schulen – den Tafelhäusern.

Die Holzgriffel und Tontafeln der Sumerer, das waren die Werkzeuge einer zivilisatorischen Revolution. Jahrmillionen waren der Mensch und seine Vorfahren zurechtgekommen, ohne lesen und schreiben zu können. Dann, binnen weniger Jahrhunderte, veränderten die Kulturtechniken Lesen und Schreiben fast alles: die Art, wie der Mensch Wissen weitergibt, wie er Handel treibt, wie er die Welt entdeckt, erfährt und versteht – die Art, wie er denkt.

Spuren deuten als Einstieg ins Lesen

Hervorgegangen ist die Fähigkeit zu lesen wahrscheinlich aus der Gabe, Spuren zu deuten; darauf weisen Erkenntnisse aus der Hirnforschung hin. Schon frühe Vorfahren des Homo Sapiens konnten wohl Fußspuren erkennen und daraus Rückschlüsse auf das Geschehen ziehen: Sie mussten beim Anblick von Tatzen- und Hufabdrücken einschätzen können, wohin ein gejagtes Tier lief, wie schnell es war und wie alt – das sprichwörtliche Fährtenlesen. Für das Lesen von Buchstaben werden offenbar alte Anlagen des Gehirns umgewidmet, die Wissenschaft nennt diesen Vorgang Präadaption.

Zur Lese-Fähigkeit gesellt sich das Schreiben, als die Sumerer anfangen, Symbole in Tontafeln zu drücken – damit beginnt eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte. Von der Keilschrift eilt sie zur Erfindung des Papyrus, zum Buchdruck, zu Massenmedien und zum Zeitalter des Digitalen. Anhand verschiedener Forschungsprojekte an der Freien Universität lässt sich diese Geschichte nachzeichnen. Es lässt sich zeigen, warum die Jahrtausende alte Keilschrift noch heute an einigen Schulen gelehrt wird. Wie sehr sich der Umgang mit dem gedruckten Wort gewandelt hat. Wie neue Medien unsere Schriftsprache verändern. Und es lässt sich ein Ausblick in die Zukunft wagen: Wie werden wir künftig lesen und schreiben?

Geografisch beginnt die Erfolgsgeschichte bei den Mesopotamiern. Sie waren mit ihrer Keilschrift den Nordund Mitteleuropäern um Jahrtausende voraus. „Der Grad der Schriftverbreitung übertraf den im Mittelalter deutlich“, sagt Altorientalist Klinger. Vor 4.000 Jahren konnten in Vorderasien im Schnitt mehr Menschen lesen und schreiben als in Europa vor 1.000 Jahren.

Vom Privatbrief bis zum Staatsvertrag, von der Geschäftsvereinbarung bis zur Geschichte von König „Gilgamesch“, der ältesten erhaltenen Dichtung der Menschheit – alles wurde in Tontafeln geritzt. Die Fundstätten reichen über Mesopotamien hinaus bis nach Anatolien und Ägypten.

Die Keilschrift kehrt an Berliner Schulen zurück

Ein kleines Comeback erlebt die Keilschrift seit einigen Jahren an einigen Berliner Schulen, und zwar unter der Überschrift „Edubba“, dem sumerischen Wort für Tafelhaus. So hat Eva Cancik-Kirschbaum, Professorin für Altorientalistik an der Freien Universität, ein Projekt genannt, bei dem Berliner Schüler die Wort- und Silbenzeichen der Sumerer lernen. Feuchten Ton müssen sie zu flachen Rundtafeln formen, aus Schilfrohr Griffel schnitzen und dann durch leichten Druck und geschicktes Drehen senkrechte, waagerechte und schräge Keile im Ton entstehen lassen. Es hört sich an wie eine Geschicklichkeitsübung, aber es steckt ein umfassendes pädagogisches Konzept dahinter. Es gehe nicht nur darum, die Schrift zu lernen, sagt Cancik-Kirschbaum. Das Projekt lasse sich in verschiedene Schulfächer einbinden: So sei es denkbar, englische Reiseberichte über den Orient im Englischunterricht zu behandeln oder sich in Politischer Weltkunde mit Saddam Husseins Präsidentenpalast zu beschäftigen, der den Prachtbauten des sagenhaften Königs Nebukadnezar II. (604 – 562 vor Christus) nachempfunden wurde. „Die schriftliche und materielle Überlieferung des Alten Orients umfasst weitaus mehr als Geschichte und Kunstgeschichte: Texte und Fundgegenstände geben Aufschluss über Mathematik, Religion, Geographie und sogar die Musik jener Zeit.“ Zahlreiche Lerngruppen von neun Berliner Schulen haben bereits mitgemacht, von der fünften Klasse bis zum Abitur.

Platon lästert: Wer schreibt, der vergisst

Doch die Erfolgsgeschichte von Lesen und Schreiben verläuft nicht ohne Rückschläge. In der klassischen Antike und im christlichen Mittelalter haben die Kulturtechniken keinen guten Ruf. Platon meinte, alles schriftlich Fixierte verführe zur Vergesslichkeit. Und an den Höfen des Mittelalters pflegen die Fürsten ihr Analphabetentum. Das Lesen überlassen sie Mönchen, Gelehrten und Dienern.

Erst die Idee eines Mannes mit dem Namen Johannes Gensfleisch verhilft dem Lesen Mitte des 15. Jahrhunderts in Europa vollends zum Durchbruch. Gensfleisch kommt auf die Idee, bewegliche Metall-Lettern zu verwenden, um Texte zu vervielfältigen. Er entwickelt eine praktikable Legierung aus Zinn und Blei, mit der sich Buchstaben gießen lassen, er erfindet ein Handgieß- Instrument, und er ersinnt die Druckerpresse. Sein großes Verdienst besteht allerdings darin, alle Schritte so miteinander zu verbinden, dass erstmals die maschinelle Massenproduktion von Büchern möglich wird. Knapp fünfhundert Jahre später wird das US-amerikanische Magazin „Time“ seine Erfindung zur wichtigsten des zweiten Jahrtausends erklären. Besser bekannt ist Gensfleisch unter dem Namen Gutenberg.

Eines ist Gutenberg allerdings nicht: der Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Den hat bereits ein Chinese namens Bi Sheng um das Jahr 1041 ersonnen. Durchsetzen konnte sich dessen Methode mit Zeichenstempeln aus Steingut jedoch nicht. Vermutlich lag es einfach an der Quantität: Schon damals gab es mehr als 20.000 chinesische Schriftzeichen; eine solche Masse war für den Buchdruck denkbar ungeeignet.

Der Buchdruck ist der Beginn der Informationsrevolution

Gutenbergs Erfindung jedoch setzt sich durch; innerhalb weniger Jahrzehnte wächst der europäische Buchbestand: Rund 40.000 Buchtitel sollen es um das Jahr 1500 gewesen sein, mit einer Gesamtauflage von acht Millionen. Keine Erfindung zuvor habe die Entfaltung des menschlichen Geistes so vorangetrieben wie der Buchdruck, schreibt das Magazin „Time“. Bücher sind das erste industriell produzierte Massenprodukt der Menschheitsgeschichte. Eine Alphabetisierungswelle setzt ein: Wer sozial aufsteigen will, muss lesen und schreiben können. Es ist der Beginn einer 500 Jahre währenden Informationsrevolution.

Sie setzt sich fort in den Salons und Kaffeehäusern des 18. Jahrhunderts. Intellektuelle, Dichter und politische Eiferer schreiben und drucken nicht nur, um Wissen weiterzugeben – sie wollen überzeugen. Beamte, Offiziere und Kaufleute kommen in sogenannten Lesegesellschaften zusammen, um sich zu bilden. Zeitungen und Zeitschriften entstehen und werden zu Werkzeugen im politischen Meinungskampf.

Der französische Historiker Alexis de Tocqueville beschreibt als einer der Ersten die Aufgabe der Presse: Sie soll der Gesellschaft ein Kommunikationsforum bieten und Missstände anprangern; so bewahre sie die Demokratie „vor dem Abdriften in den Despotismus“. Die Presse ist für ihn „im wahrsten Sinne das demokratische Werkzeug der Freiheit“.

Um 1900 erreicht die allgemeine Lese- und Schreibkultur ihren Höhepunkt, die allgemeine Schulpflicht ist eingeführt; Handwerker und Arbeiter lesen und schreiben in Arbeiter-Bildungsvereinen. „Seither herrscht Stagnation auf hohem Niveau, mit leichter, sich verstärkender Tendenz zum Sinkflug, seit das Fernsehen zum neuen Leitmedium aufstieg“, wie es in einem Text über die Geschichte des Lesens in der Zeitschrift „Geo“ heißt.

Das Internet verändert die Art zu lesen

Ein erneuter massiver Umbruch der Lese- und Schreibkultur vollzieht sich, seit das Internet Millionen Haushalte, Firmen, Universitäten und Behörden miteinander verbindet. Viele Menschen lesen fast nur noch funktional am Bildschirm: Sie springen mit den Augen durch einen Text auf der Suche nach den Informationshappen, die sie für den Job oder eine Hausarbeit brauchen. Und durch neue Kommunikationsformen wie Chat, E-Mail, SMS und Twitter verändert sich auch das Schreiben, vor allem bei Jugendlichen. Vor Jahren schon hat die Psychologin Claudia Orthmann in ihrer Dissertation an der Freien Universität den Sprachgebrauch beim Chatten untersucht. Demnach imitiert die Schriftsprache im Chat den Klang des gesprochenen Wortes: Schreien etwa durch Großbuchstaben (DU STINKER) oder die Stimmlage durch Asterisken, also Sternchen (*flüsterthonigsüß*). Verb-Stämme wie „lach“ oder „grins“ und Lautwörter wie „haha“ bevölkern die Chats der Jugendlichen, ähnlich der Comicsprache.

Drohen, schimpfen, ausschließen, cybermobben

In einer Promotionsarbeit jüngeren Datums an der Freien Universität befasst sich die Psychologin Anja Schultze-Krumbholz mit der Frage, wie die digitalen Worte zu Waffen unter Jugendlichen werden: Sie hat eine neue Form der Aggressivität untersucht, das Cybermobbing. „Etwa jeder fünfte der befragten Jugendlichen hatte regelmäßig mit Cybermobbing zu tun“, sagt sie. Umfragen zufolge nutzen mittlerweile 97 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren das Internet, soziale Netzwerke sind in dieser Altersklasse besonders beliebt. Mehr als 70 Prozent haben in einem der Netzwerke ein eigenes Profil – 5,5 Millionen Schüler allein beim größten Anbieter SchülerVZ. Dort schikanieren viele Jugendliche ihre Mitschüler, schreiben Gemeinheiten an die digitalen Pinnwände der Opfer, verschicken immer neue Droh- und Schimpfbotschaften per E-Mail.

Subtiler, aber ebenso gemein: Die Opfer werden von Diskussionen ausgeschlossen – indem man ihre schriftlichen Beiträge in Foren einfach ignoriert oder spezielle Gruppen eigens für die digitale Lästerei gründet. Zu diesen Gruppen hat das Opfer zwar keinen Zugang. Doch die Titel der Gruppen machen aus ihrem Zweck kein Geheimnis: „Alle die finden dass jenny f. fett ist und stinkt hier rein.“ Das Fatale: Die Opfer sind der Lästerei nicht nur in der Schule ausgesetzt, sondern auch zu Hause, am Computer.

Auch jenseits dieser Studien zeigt sich: Immer mehr Internetnutzer sehen nicht ein, warum die Konventionen der Schriftsprache des 18. Jahrhunderts noch für die Kommunikationsmittel des 21. gelten sollen – Groß- und Kleinschreibung purzeln munter durcheinander, Rechtschreibung und Grammatik gelten eher als unverbindliche Empfehlung.

Wie sich der Umgang mit dem gedruckten und digital veröffentlichten Wort auch innerhalb der Universitäten verändert hat, weiß Mario Kowalak, stellvertretender Leiter der Benutzungsabteilung der Universitätsbibliothek (UB). Er arbeitet dort seit 1994 in verschiedenen Funktionen. Zu Beginn seiner Ausbildung wurden Online- Abfragen nur von wenigen Experten durchgeführt. „Die Leitungen waren teuer und das Prozedere kompliziert“, erinnert er sich. Damals wurde noch ein Telefonhörer auf einen sogenannten Akustik-Koppler gepresst, um den Bibliotheksrechner mit anderen Datenbanken zu verbinden.

Fluch und Segen: die „Googleisierung“ der Bibliotheken

Es war die erste Stufe der elektronischen Informationsvermittlung. Es folgten die CD-Roms, die es für jeden Nutzer einfacher machten, ganze Datenbanken auch selbstständig zu durchsuchen. Und schließlich kam das, was aus Kowalaks Sicht Fluch und Segen zugleich ist: Man könnte es Googleisierung nennen. „Heute glauben viele, für eine gründliche Literaturrecherche reiche es, ein paar Worte in einen Suchschlitz zu tippen“, sagt er. Einerseits stünden den Studenten und Wissenschaftlern durch das Internet und moderne Suchmaschinen unzählige Quellen zur Verfügung, andererseits verführe die Masse an Treffern zu einer „oftmals nicht hinterfragten Konsumenten oder Copy-and-Paste- Mentalität“, wie Kowalak es nennt. Er erlebe eine „Verflachung bibliographischer Grundkenntnisse“. Oftmals seien die Unterschiede zwischen Publikationstypen wie Zeitschrift, Zeitschriftenaufsatz, Review und Ähnlichem nicht geläufig. Die Mitarbeiter der UB versuchen, mit Schulungsangeboten und Informationsveranstaltungen gegenzusteuern. Viele Studenten wüssten leider nicht, so Kowalak, wie viel gezielter und einfacher sich ihre Recherchen gestalten ließen, wenn sie die Angebote der Bibliotheken an der Freien Universität Berlin nutzen würden. Zahlreiche Informationsquellen sind mittlerweile digital zugänglich, etwa E-Books und E-Journals, via Internet und mit einem persönlichen Zugang auch von zuhause aus. Mit gut durchdachten Anfragen lasse sich die für eine bestimmte Frage relevante Literatur vergleichsweise schnell durchforsten – weltweit. Um die Informationskompetenz weiter zu fördern, regt Kowalak an, abgestimmte Schulungsangebote der Bibliotheken fortzuentwickeln und sie zu verbindlichen Studienveranstaltungen zu machen, für die auch Creditpoints vergeben werden. Die UB suche noch Part- ner in der Lehre zur Entwicklung von gemeinsamen Lerneinheiten, in denen inhaltliche Fragestellungen didaktisch verknüpft würden mit Methoden und modernen Recherche-Instrumenten. Moderne Bibliotheksarbeit setze damit ihre Jahrhunderte alte Mission fort, Wissenschaft, Forschung und Lehre effektiv zu unterstützen.

Wenn man Verlagen, Werbetreibenden und auch einigen Wissenschaftlern glaubt, steht die nächste Revolution des Lesens und Schreibens unmittelbar bevor; eigentlich hat sie sogar schon begonnen. Sie ist dünn, diese Revolution, wiegt ungefähr 700 Gramm und besteht im Wesentlichen aus einem berührungsempfindlichen Bildschirm.

„Das iPad der Computerfirma Apple ist die Zukunft. Punkt. Es gibt darüber gar keine Diskussion“, schreibt der Schriftsteller Ferdinand von Schirach im Spiegel. Gedruckten Zeitungen und Magazinen laufen seit Jahren die Leser davon, jetzt hoffen die Verlage, mit Angeboten für das neue Abspielgerät iPad ein neues Geschäftsfeld erschließen zu können. Zeitschriften und Video- Angebote sollen verschmelzen, per Fingerzeig soll sich der Nutzer durch die Medien navigieren, durchs Internet surfen und digitalisierte Bücher lesen, Filme gucken, nebenbei chatten und Mails schreiben.Während viele Berichte über das iPad klingen, als sei Johannes Gutenberg in Gestalt von Apple-Chef Steve Jobs wiedergeboren worden, sieht der Informatik- Professor Jochen Schiller der Freien Universität Berlin das Gerät deutlich nüchterner: „Technisch gesehen gibt es weitaus Besseres“, sagt er.

Digitale Tinte, biegbare und flexible Bildschirme

So gebe es längst digitale Tinte, die keine oder kaum noch Energie brauche, um Inhalte darzustellen. Ein iPad- oder Tablet-Akku mache hingegen schon nach wenigen Stunden schlapp. Bald schon würden sich biegbare, flexible Bildschirme auf dem Markt durchsetzen, die sich genau so handhaben ließen wie Papier und Stift. Auch die Sprachsteuerung habe in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Dennoch glaubt auch Schiller an einen Erfolg des iPads – allein schon wegen der Vermarktungsmacht von Apple und den Verlagen.

Schiller ist ein Technikbegeisterter, und er ist Experte für mobile Kommunikation; sein Buch „Mobilkommunikation“ gehört zur Standardliteratur. Er leitet die Arbeitsgruppe „Computer Systems & Telematics“ an der Freien Universität. Aber er sieht manche Entwicklungen auch kritisch. So warnt er bei aller Freude über einfache Bedienung und intuitive Steuerung vor Datenschutzproblemen und der marktbeherrschenden Stellung einiger, weniger Unternehmen. „Firmen wie Google haben aus meiner Sicht keine überzeugenden Datenschutzkonzepte“, sagt Schiller. Sie verwenden die Daten ihrer Nutzer etwa zu Werbezwecken – selbst E- Mail-Inhalte werden auf werberelevante Schlagworte gescannt, um eine passende Anzeige einzublenden. „Wer seine Daten einigermaßen verlässlich schützen will, muss sie verschlüsseln“, sagt Schiller, „und er darf sie nicht wahllos im Netz verteilen.“

Über kurz oder lang aber werden sich Geräte wie das iPad durchsetzen, glaubt auch Schiller. Für jüngere Generationen sei es schon jetzt ganz normal, immer ein Mobiltelefon oder einen Computer dabeizuhaben. Ein Tablet-Gerät werde für jene zur Selbstverständlichkeit, die mit dem Internet aufgewachsen sind. An die neuen Steuerungsmöglichkeiten sind sie längst gewohnt, wie einer seiner Kollegen jüngst zu Hause beobachten konnte: Dessen einjähriger Sohn sah, wie der Vater mit den Fingern über das Display seines iPhones wischte – und versuchte prompt, per Wischen das Programm am Fernseher umzuschalten. Schiller selbst bevorzugt für die Lektüre von Romanen allerdings noch immer das klassische Buch: „Das kann ich mit an den Strand nehmen, ohne mir Sorgen machen zu müssen, dass es kaputtgeht oder geklaut wird.“