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Raumrevolution um 1900

Rainer Maria Rilke und der raumästhetische Urknall

10.06.2009

Rainer Maria Rilke und der raumästhetische Urknall.

Rainer Maria Rilke und der raumästhetische Urknall.
Bildquelle: fotolia, Olga Lyubkina

Rainer Maria Rilke, geboren 1875 in Prag, wechselte sehr häufig Wohnorte und Länder. Bis zum Ersten Weltkrieg lebte er viele Jahre in Paris. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in der Schweiz. Hier Rilke im Pariser Hotel Biron 1908.

Rainer Maria Rilke, geboren 1875 in Prag, wechselte sehr häufig Wohnorte und Länder. Bis zum Ersten Weltkrieg lebte er viele Jahre in Paris. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in der Schweiz. Hier Rilke im Pariser Hotel Biron 1908.
Bildquelle: Insel Verlag

Kreisen, ohne sich zu verlieren: Fontäne und Ballwurf sind zwei zeit seines Lebens wiederkehrende dichterische Figuren im Werk Rainer Maria Rilkes.

Kreisen, ohne sich zu verlieren: Fontäne und Ballwurf sind zwei zeit seines Lebens wiederkehrende dichterische Figuren im Werk Rainer Maria Rilkes.
Bildquelle: iStockphoto

Es gebe keine Inspiration, sondern nur Arbeit: Dieses Ethos Rodins übernahm Rainer Maria Rilke für sein eigenes künstlerisches Schaffen – die Arbeit mit Worten. 1905 bis 1906 war Rilke bei Rodin als Sekretär beschäftigt.

Es gebe keine Inspiration, sondern nur Arbeit: Dieses Ethos Rodins übernahm Rainer Maria Rilke für sein eigenes künstlerisches Schaffen – die Arbeit mit Worten. 1905 bis 1906 war Rilke bei Rodin als Sekretär beschäftigt.
Bildquelle: crispée, Inventarnummer Ph 671, anonymer Fotograf (entstanden gegen 1906), Technik: „Épreuve Gélatinoargentique“, Größe: 16,7 x 11,7 cm, Herkunft Musée Rodin, Paris

Über La Pensée schreibt Rilke, es gebe „Steine mit eigenem Licht“ wie dieses Gesicht, das „vorgeneigt bis zum Schattigsein, über das weiße Schimmern seines Steines gehalten ist, über dessen Einfluß die Schatten sich auflösen (…)“.

Über La Pensée schreibt Rilke, es gebe „Steine mit eigenem Licht“ wie dieses Gesicht, das „vorgeneigt bis zum Schattigsein, über das weiße Schimmern seines Steines gehalten ist, über dessen Einfluß die Schatten sich auflösen (…)“.
Bildquelle: La Pensée, Inventarnummer 636, Fotograf Jacques-Ernest BULLOZ

Der naturwissenschaftlichen Theorie vom Urknall ging – als geisteswissenschaftliches Konstrukt – ein „raumästhetischer Urknall“ voran, welcher freilich für die Naturwissenschaften keine Relevanz hat.

Der naturwissenschaftlichen Theorie vom Urknall ging – als geisteswissenschaftliches Konstrukt – ein „raumästhetischer Urknall“ voran, welcher freilich für die Naturwissenschaften keine Relevanz hat.
Bildquelle: fotolia, howard

1927 erschien Martin Heideggers erstes Hauptwerk Sein und Zeit. Die Rezeption seiner Werke war nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland wegen seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus belastet.

1927 erschien Martin Heideggers erstes Hauptwerk Sein und Zeit. Die Rezeption seiner Werke war nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland wegen seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus belastet.
Bildquelle: Heidegger-Gesellschaft/ Dr. H. Heidegger

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich in der abendländischen Kunst, Philosophie und Kosmologie ein bedeutsamer Wandel des Raumverständnisses beobachten. In allen drei Bereichen taucht – freilich verschieden modelliert – eine neuartige Denkfigur des Raumes auf. Diese relativiert die geltende Newton’sche Vorstellung des Raumes als eine absolute, statische und unveränderliche Größe und setzt als Alternativmodell den Gedanken eines dynamischen, aus einem Punkt heraus entstehenden und sich kreisförmig in sich zurückbiegenden Raumes. Dieser räumlichen Denkfigur nachzugehen, folgt einem aktuellen interdisziplinären Forschungsansatz, der jüngst unter den Begriffen spatial turnund topological turnzu einer neuartigen Fokussierung auf kulturelle Funktionalisierungen von Raum und Räumlichkeit aufgerufen hat, die auch für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden kann.

„Phänomenologie des Runden“

„Das Leben ist wahrscheinlich rund“, schreibt Vincent van Gogh in einem Brief aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Und der Philosoph Karl Jaspers bemerkt 1947 in Von der Wahrheit: „Jedes Dasein scheint in sich rund.“ Der Raumtheoretiker Gaston Bachelard hat diese und ähnliche Aussagen in seiner berühmten Poetik des Raumes „phänomenologische Wunder“ genannt, da sie uns, obgleich der äußeren, räumlich- geometrischen Anschauung entnommen, ganz ursprüngliche Bilder unseres inneren Seins zu liefern imstande seien, ohne dabei recht eigentlich „verstanden“ zu werden. Das von einem Punkt ausgehende, dynamische Kreis-, Zirkel- oder Kugelmodell wird in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zur führenden Denkfigur eines gelungenen Lebensentwurfs, eines revolutionären philosophischen Systems wie aber letztlich auch des physikalischen Außenraums. Dies lässt sich beispielhaft zeigen an den kunstpoetischen Schriften des Lyrikers Rainer Maria Rilke (1875–1926), der seine ursprünglich raumästhetische Impression mit dem Bild eines vollkommenen Lebens koppelt, an der frühen Philosophie Martin Heideggers (1889–1976) und an dem revolutionären kosmologischen Raummodell des russischen Physikers Alexander Alexandrowitsch Friedmann (1886–1925).

Rilkes „orphische Figur“

Bei seinen leidenschaftlichen Betrachtungen der Skulpturen Auguste Rodins stößt der Dichter und Schriftsteller Rainer Maria Rilke im Jahr 1900 auf ein Phänomen, das ihn Zeit seines Lebens faszinieren sollte. Es ist die Entdeckung einer Pluralität von Räumen, die ihn angesichts der imposanten Selbstgenügsamkeit der Bildwerke Rodins überrascht. Denn obgleich der Betrachter in einem Raum mit ihnen steht, so scheinen diese nach Rilke an jenem gemeinsamen Raum keinen Anteil zu nehmen. Vielmehr wirke es, als schütteten sie einen ihnen eigenen Raum aus sich heraus und um sich herum. In einer Tagebuchaufzeichnung vom 2. Dezember 1900 notiert Rilke seine frisch gewonnenen Eindrücke:*

(*Zitiert wird nach der Werkausgabe in der Originalschreibung Rilkes.)

„Es giebt Bildwerke, welche die Umgebung, in der sie gedacht sind, oder aus welcher sie gehoben werden, in sich tragen, aufgesogen haben und ausstrahlen. Der Raum, in dem eine Statue steht, ist ihre Fremde, – ihre Umgebung hat sie in sich.“

Gelungene Skulpturen – oder „Kunst-Dinge“ – sind Rilke zufolge nicht wie gewöhnliche Dinge oder wie Menschen raumeinnehmend, sondern raumausschenkend. Von der im Louvre ausgestellten Kunstfigur eines Vogels schreibt Rilke in seiner Rodin-Monographie von 1902 anschaulich schön: „(…) ein Himmel wuchs aus ihm heraus und blieb um ihn stehen, eine Weite war zusammengefaltet auf jede seiner Federn gelegt und man konnte sie aufspannen und ganz groß machen“. Und von der schreitenden Johannes-Skulptur Rodins heißt es dort: „Er geht. Er geht, als wären alle Weiten der Welt in ihm und als teilte er sie aus mit seinem Gehen.“

Vollzug der Zeitdauer des Raumes

Was den von den Kunstdingen ausgeschenkten Raum vor dem gewöhnlichen Raum auszeichnet, ist für Rilke seine Souveränität über die Kategorien Zahl und Zeit, die das moderne Leben dominieren. Anders als in dem ökonomisch überformten Lebensraum der Pariser Großstadt sucht und findet Rilke im Raum der Kunstwerke „jene Art Großsein, die unabhängig ist von allen Maßen“. Bewundernd stellt er über Rodins Skulpturen fest: „Sie rechnen nicht.“ Das unterscheide sie so wunderbar von den Menschen und „den gewöhnlichen Dingen, denen jeder ins Gesicht greifen konnte“. Denn während das Leben auf den gehetzten menschlichen Gesichtern „wie auf Zifferblättern stand“, „leicht ablesbar und voll Bezug auf die Zeit“, erscheint es in den in die „stille Dauer des Raumes“ gestellten Kunstdingen „größer, geheimnisvoller und ewiger“.

Die von Rilke herausgestellte doppelte Räumlichkeit des Kunstwerks findet sich im ästhetischen Diskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig wieder. Jean- Paul Sartre (1905–1980) lobt um 1950 in La recherche de l’absolu die „absolute Distanz“ der Skulpturen des Bildhauers Alberto Giacometti (1901–1966), die die fälschliche „Verquickung zweier Räume“ unterbinde und damit verhindere, dass der vom Kunstwerk konstituierte „imaginäre Raum“ der Teilbarkeit des „realen Raumes“ zum Opfer falle. Und 1936 führt Walter Benjamin (1892– 1940) in seinem berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit den Begriff der „Aura“ in die kunsttheoretische Debatte ein, der als wesentliche „Ferne so nah es sein mag“ eben jenen von Rilke beschriebenen Kunstraum variiert.

Der sich schließende Kreis

Beiden späteren Bestimmungen dieses „auratischen“ oder „imaginären“ Raumes fehlt jedoch die nähere Kennzeichnung von dessen Beschaffenheit. Dabei setzt Rilke den Akzent in seinen Rodinschriften gerade auf diese spezifische Form. Denn ihr, dieser ursprünglich raumästhetischen Impression, verdankt er eine seine Dichtung fortan prägende Denkfigur, die ihm zum Sinnbild eines vollkommenen, erfüllten Daseins wird. Der von den Kunstdingen Rodins ausgestrahlte Raum verliert sich Rilke zufolge nicht in eine unbestimmte Weite, sondern beschreibt eben jene eingangs benannte Figur eines Kreises: „Wie groß auch die Bewegung eines Bildwerkes sein mag, sie muß, und sei es aus unendlichen Weiten, sei es aus der Tiefe des Himmels, sie muß zu ihm zurückkehren, der große Kreis muß sich schließen, der Kreis der Einsamkeit, in der ein Kunst- Ding seine Tage verbringt.“ Rodin habe es erreicht, „daß das Kunstwerk in sich zu Ende gehe.“ Denn immer wieder kam er „bei seinen Akten auf dieses Sich-nach-innen- Biegen zurück, auf dieses angestrengte Horchen in die eigene Tiefe“. Seine Skulpturen erscheinen ganz um ihr Inneres versammelt, weder Blick noch Gebärde weisen über sie hinaus in eine unbestimmte Ferne, sondern sie kehren in einem Bogen zu ihnen zurück, ohne etwas von außen zu verlangen oder zu erwarten. Und auch die sonst als tyrannisch erlebte, stets in eine Richtung fließende Zeit zeigt an ihnen, „aufgenommen von der großen Gleichzeitigkeit des Raumes (…) ihren ganzen Kreis und kehrt in sich selbst zurück“.

Neue Form der Totalität

Was aber macht für Rilke den besonderen Reiz dieser raumästhetischen Erfahrung aus? In dem nur scheinbar beschränkten kreisförmigen „Ganz-mit-sich-Beschäftigtsein“ der Skulpturen sieht Rilke eine neue Form von Totalität verwirklicht, die der als alles zerstückelnde Krise erfahrenen Moderne zuletzt noch abgerungen werden kann. Inmitten der großstädtischen Auflösungserscheinungen stehen die Bildwerke Rodins „in sich selbst verschlossen“ als „eine eigene Welt, ein Ganzes, erfüllt von einem Leben, das kreiste und sich nirgends ausströmend verlor.“ Dabei ist, wie Rilke mehrfach betont, ihre völlige „Bestimmtheit“ von besonderer Bedeutung. Nicht alles sein zu wollen, sondern eines, ein Eigenes, bis zur Vollkommenheit zu sein, erscheint der unter modernen Verhältnissen einzig noch mögliche Weg zur Totalität. Das hat Rilke zufolge Rodin als Erster erkannt. „Je commence à comprendre“ („Ich beginne zu verstehen“), habe dieser „manchmal nachdenklich und dankbar“ gesagt: „Und das kommt, weil ich mich um eine Sache ernstlich bemüht habe; wer Eines versteht, der versteht überhaupt; denn in allem sind dieselben Gesetze. Ich habe die Skulptur gelernt, und ich wußte wohl, daß das etwas Großes ist.“ Aufgrund dieser Einsicht haben nicht nur Rodins Werke Totalität erlangt, sondern auch ihr Schöpfer. Er, der sich zeitlebens aufopferungsvoll in sein Kunsthandwerk vertiefte, hat seinen Dingen „den Himmel“ gewonnen, „der um die Berge ist“, und damit auch sich selbst: „In einem ungeheueren Bogen hat er seine Welt über uns hingehoben und hat sie in die Natur gestellt.“

Der gesamte Zirkel des Daseins

Rilke, der im Studium anderer Künste stets Anregungen für seine Dichtkunst suchte, fand in der an und um seinen „Maître“ Rodin beobachteten kreisförmigen Raum- und damit Totalitätsgewinnung eine in die Sprachkunst fruchtbringend übersetzbare Gestalt. Doch auch in seiner Dichtung verbleiben Sprachfigur, Raumfigur und Lebensideal in einem unauflösbaren Verbund. Der Sängergott Orpheus, mythischer Urvater der Dichter, wird in Rilkes später Dichtung zum Träger und Verkünder jener selbstgenügsamen, ausschenkenden und „gerundeten“ Vollkommenheit. Als zu Lebzeiten ins Totenreich Eingeweihter hat er den ganzen Zirkel des Daseins umrundet und kann davon in seinem Gesang künden, der gleichfalls jene quasi in die Unendlichkeit aufsteigende und durch das Gehör zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrende vollkommene Kreisbewegung vollführt. Um Orpheus gruppieren sich in Rilkes Dichtung die Bilder des Baums, der Fontäne, des Ballwurfs und der Leier, die in der Forschung oftmals unter dem Begriff der „orphischen Figur“ zusammengefasst werden. Dieser verdeckt jedoch Rilkes ursprünglich raumästhetische Inspirationsquelle: die an den Skulpturen Rodins gewonnene Erfahrung, dass es inmitten und doch jenseits des zerstückelten Alltagsraums möglich ist, individuelle Räume je ganz eigener Vollkommenheit zu schaffen. Und Rodins eigenes erfülltes Leben zeigte ihm, dass der Mensch, insbesondere der Künstler, darauf hoffen kann, über ein in voller Hingabe erarbeitetes Lebenswerk eigene Ganzheit zu erlangen – und durch sie „Ewigkeit“. Die Lebensaufgabe, an die der „Archaïsche Torso Apollos“ aus Rilkes Neuen Gedichten gemahnt, besteht darin, sich einen eigenen „Raum“ zu schaffen, in dem Geburt und Tod nicht als voneinander maximal entfernte Punkte einer aus heterogenen Jetztmomenten zusammengestückelten Lebensstrecke stehen. Vielmehr sollen sie – im Ursprungspunkt des Lebenskreises zusammenfallend – eine homogene, auf eine individuelle Bestimmung hin ausgerichtete Einheit begründen.

Heideggers Sprung in den Daseinszirkel

In Martin Heideggers Sein und Zeit von 1927 findet sich jene bei Rilke so populäre Denkfigur des von einem Punkt ausgeworfenen Kreises nicht nur in einem dem Rilke’schen ganz ähnlichen Ideal eines „ganzen Daseins“ wieder. Vielmehr ist sie hier sogar zum zentralen methodischen Philosophem erhoben. Indem er die Figur des Kreise(n)s zum Prinzip erklärt, vollführt Heidegger in seiner „fundamentalontologischen“ Analyse eine philosophiegeschichtlich revolutionäre Verschiebung der Perspektive.

Um – wie es Heidegger in Sein und Zeit projektiert – dem Sinn von „Sein“ näherzukommen, dürfe man es nicht wie ein Seiendes unter Seienden behandeln. Genau dies sei der Fehler aller vorherigen Untersuchungen zum „Sein“. Herkömmliche Fragen könnten das allem Seienden zugrundeliegende „Sein“ schon deswegen nicht erschließen, weil sie in den auf die Erkenntnis von Seiendem ausgerichteten Begrifflichkeiten gefangen seien. Folglich müsse etwas mit der Sprache geschehen, „harte Begriffsarbeit“ geleistet werden, wenn sie sich ans Sein wenden soll. Hierfür hat Heidegger ein einzigartiges, zirkulär rückbezügliches Sprachfeld entworfen, das es nahezu unmöglich macht, sich mit Sein und Zeit auseinanderzusetzen, ohne seine Terminologie zu übernehmen. Versucht man, externe Begriffe zur Erklärung heranzuziehen, so verpasst man unweigerlich die sprachlich vollzogene Pointe. Angesichts der zirkulären Eigendynamik Heidegger’scher Terminologie gibt es also nur ein „Drinnen“ oder „Draußen“ – nicht zuletzt auch deshalb, weil Heidegger seinen terminologischen Neuerungen eine ebenso zirkuläre neue Wahrheitskonzeption zur Seite stellt. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit, der zufolge das Urteil als wahr gilt, das mit einem Gegenstand oder Vorkommnis in der empirischen Welt übereinstimmt, ist für Heidegger nur ein Ausdruck einer „ursprünglicheren“ Wahrheit, die untrennbar mit dem Menschen verbunden ist: Wahr sein heißt für Heidegger, abgeleitet aus dem griechischen Wort für Wahrheit, der Unverborgenheit ( aletheia), entdeckend sein, also verborgene Dinge ans Licht bringen.

Fehlende Kontrollinstanz

Diese Reduktion der korrespondenztheoretisch zweistelligen Wahrheitskonzeption auf eine einstellige, expandierende, vom Menschen ausgehende und auf ihn zurückweisende Wahrheit immunisiert Heideggers System gegen externe Angriffe, da jede Kontrollinstanz verloren geht, mit deren Hilfe man eine fundamentalontologische Behauptung der Unwahrheit überführen könnte.

Mit der begrifflichen Absicherung gegen jede Kritik erhebt Heidegger die an Terminologie und Wahrheitskonzeption bereits beobachtete Denkfigur schließlich zum methodischen Grundprinzip: Zur Annäherung an das „Sein“ fordert er, nun ganz explizit, ein Denken des Zirkels. Entgegen der in der traditionellen Logik schlichtweg als Fehlschluss gehandelten petitio principii gelte es aus der der Logik vorgeordneten fundamentalontologischen Perspektive gerade umgekehrt, „in rechter Weise in den Zirkel hineinzukommen“.

Geschlossenheit des Zirkels

Schon durch die Figur der „Frage nach dem Sinn von Sein“ sei dieser rechte „Sprung“ in den Zirkel vorgezeichnet. Damit nichts Äußeres an sie herangetragen werde, müsse man nämlich von demjenigen Seienden ausgehen, zu dessen Seinsweise es gehört, eben jene Frage nach dem Sein überhaupt zu stellen. Dies zur Seinsfrage einzig befähigte Seiende aber ist der Mensch, in Heideggers Terminologie: das „Dasein“. Von nun an geht es in dem unvollendet gebliebenen Werk nurmehr um eine ausführliche Explikation der Existenzweise des „Daseins“, das als einziges Seiendes, dem es selbstreflexiv „in seinem Sein um sein Sein“ geht, die zur Erörterung der Seinsfrage geforderte ontologische Zirkelstruktur aufweist. Ähnlich wie bei Rilke gilt in Heideggers Analyse der rechtverstandene, eigene oder „eigentliche“ Tod als Garant des möglichen „Ganzseinkönnens“ des Daseins und damit auch als Garant der zur Seinsfindung notwendigen Geschlossenheit des Zirkels.

Dass in dieser Philosophie des von einem Punkt ausgehenden Sprach-, Wahrheits-, Lebens-, Welt- und Seinszirkels auch der Raum selbst fundamentalontologisch als eine um das Dasein kreisförmig angeordnete „Umwelt“ begriffen wird, ist in diesem Zusammenhang nurmehr selbstverständlich.

Friedmanns Urknall

Umso erstaunlicher dagegen ist es, dass die bei Rilke und Heidegger so zentrale topologische Figur in dem 1923 erschienenen kosmologischen Fachbuch Die Welt als Raum und Zeit des russischen Physikers Alexander Friedmann erneut theorierevolutionäre Bedeutung erlangt. Ausgehend von der Relativitätstheorie Albert Einsteins und der von Hermann Minkowski (1864– 1909) erstmals formulierten vierdimensionalen Raumzeit stellt Friedmann dem traditionellen Modell eines „stationären Weltalltyps“ das Modell eines „veränderlichen Typs“ entgegen. Dessen mögliche Beschaffenheit formuliert er wie folgt: „Das Weltall schrumpft auf einen Punkt (zu nichts) zusammen, aus dem Punkt heraus vergrößert es anschließend seinen Radius wieder bis auf einen gewissen Wert, wird dann unter Verringerung seines Krümmungsradius’ erneut zu einem Punkt, und so fort.“ Friedmann gilt damit als Entdecker der bis heute als universales Standardmodell geltenden Theorie vom Urknall. Dass ihr ein in den Rodinschriften Rilkes beschriebener raumästhetischer Urknall vorangeht, wird dabei – im naturwissenschaftlichen Kontext freilich zu Recht – übersehen. Es fällt jedoch auf, dass sich auch der Physiker Friedmann angesichts jener raumzeitlichen Bewegungsfigur an den Lebenskreislauf erinnert fühlt: „Unwillkürlich denkt man“, so schreibt er im Anschluss an seine Theorie, „an die Erzählung aus der indischen Mythologie von den Perioden des Lebens“.

Die Mitte tritt an die Peripherie

Der Kreis ist seit der Antike ein Bild für Vollkommenheit. Neu aber ist, dass mit seiner Dynamisierung der „zentrale“ Punkt des Kreises aus dessen ursprünglich göttlicher Mitte an den Rand verlegt wird. Die auf ihren marginalen Anfangs- und Endpunkt stets rückbezogene dynamische Kreisfigur spendet das Bild für eine neuartige, individualisierte und damit pluralisierbare Form je eigener (Rilke) oder „eigentlicher“ (Heidegger) Totalität(en). Sie zu erreichen, gilt als erstrebenswerte Alternative zwischen einer durch die modernen Umstände unmöglich gewordenen allumfassenden, göttlich-überindividuellen Totalität einerseits und einer der zerstückelnden Moderne ausgelieferten, entindividualisierten und heterogen „linearen“ Existenz andererseits. Der ideale Lebensentwurf erweist sich dabei als mit dem Raumentwurf untrennbar verbunden.