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Babylon – Dimensionen einer Stadt

Strom aus Tatsachen und Fiktionen über die Jahrhunderte

10.06.2009

Turmbau zu Babel: Reproduktion eines Gemäldes von Pieter Bruegel d. Ä.

Turmbau zu Babel: Reproduktion eines Gemäldes von Pieter Bruegel d. Ä.
Bildquelle: Kunsthistorisches Museum, Wien

Babylon – eine der wichtigsten Städte des Altertums, lag etwa 90 Kilometer südlich von Bagdad im heutigen Irak. Hier die Ansicht einer alten Brücke im Land.

Babylon – eine der wichtigsten Städte des Altertums, lag etwa 90 Kilometer südlich von Bagdad im heutigen Irak. Hier die Ansicht einer alten Brücke im Land.
Bildquelle: Irakische Botschaft

Ruinen-Skizze des Altorientalisten Jules Oppert aus dem 19. Jahrhundert vor Beginn der Ausgrabungen. Die Ruinen sind am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Teil freigelegt worden.

Ruinen-Skizze des Altorientalisten Jules Oppert aus dem 19. Jahrhundert vor Beginn der Ausgrabungen. Die Ruinen sind am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Teil freigelegt worden.
Bildquelle: Institut für Altorientalistik

Während das Ziegelmauerwerk des Turmfundaments bereits im Alterum „beraubt“ und abgetragen wurde, blieb das Kernfundament aus verdichtetem Lehm erhalten. Der Fundamentgraben zeichnet den äußeren Umriss des Turms im Negativ nach.

Während das Ziegelmauerwerk des Turmfundaments bereits im Alterum „beraubt“ und abgetragen wurde, blieb das Kernfundament aus verdichtetem Lehm erhalten. Der Fundamentgraben zeichnet den äußeren Umriss des Turms im Negativ nach.
Bildquelle: Altorientalisches Institut

Drachenfigur am Ischtar-Tor, eines der Stadttore Babylons, seit 1930 zu sehen im Vorderasiatischen Museum, das im Pergamon-Museum in Berlin untergebracht ist.

Drachenfigur am Ischtar-Tor, eines der Stadttore Babylons, seit 1930 zu sehen im Vorderasiatischen Museum, das im Pergamon-Museum in Berlin untergebracht ist.
Bildquelle: istockphoto.com

Mappa mundi: die Keilschrift-Tontafel der babylonischen Sicht auf die Welt. Die bewohnte Erde wird als Kreis umgeben von Meer dargestellt.

Mappa mundi: die Keilschrift-Tontafel der babylonischen Sicht auf die Welt. Die bewohnte Erde wird als Kreis umgeben von Meer dargestellt.
Bildquelle: Institut für Altorientalistik

Babylon am Euphrat galt den Völkern der Alten Welt viele Jahrhunderte als Inbegriff der Stadt mit vielerlei Identitäten: Abbild des Kosmos, Tor der Götter, Residenz der Könige von Babylonien, Megalopolis, urbaner Moloch, korrupt-dekadenter Tyrannensitz – nicht zuletzt Ort menschlicher Hybris und göttlichen Gerichts. In der Chiffre Babylon verschmelzen historische Phänomene mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und von Interessen geleiteten Interpretationen. Babylon als Ursprung der Gelehrsamkeit und Wiege der Zivilisation, als Schmelztiegel der Völker, Religionen und Bräuche, als verrottetes Sündenbabel, als machtvolle Herrscherin des Orients: Ein dichter Strom aus Legenden, Fiktionen und Mythen begleitet und formt das Bild dieser Stadt seit dem frühen 2. Jahrtausend v. Chr. bis in unsere Zeit.

So unterschiedlich die Vorstellungen auch sein mögen – das Motiv der räumlichen Dimensionen und die architektonische Monumentalität Babylons bestimmen das Bild der Stadt in eigentümlicher Weise. Gleichsam aus sich überlagernden und beeinflussenden Raumdeutungen entsteht Babylon in immer neuen Ansichten. Diese werden verhandelt in Bauwerken und Anlagen, in Texten und Darstellungen, in Meinungen und Ideologien. Zwei Strukturen nehmen gleichsam als Achsen in diesen Diskursen einen besonderen Platz ein: die Mauern von Babylon und der Turm von Babylon. Anders als die Hängenden Gärten zählten jene Bauwerke nicht zu den sieben „Weltwundern“ der Antike, doch sind sie es, die das Bild der Stadt in Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung entscheidend geprägt haben. Keine andere der großen Städte des alten Vorderasiens von vergleichbarem Einfluss, mit gewaltigen Mauern und Tempeltürmen ausgestattet, hat je eine vergleichbare Rezeption erfahren. Eine Auswahl solcher Ansichten zeigt, wie im 1. Jahrtausend v. Chr. Babylon als räumliche Wirklichkeit erfasst und interpretiert wurde. Es sind sehr unterschiedliche Blickwinkel: Außensichten, Innensichten, pragmatische, philosophische, literarische Einsichten in eine lange untergegangene Kultur.

Ist Babylon noch eine Stadt?

Der griechische Philosoph und Staatstheoretiker Aristoteles (4. Jahrhundert v. Chr.) diskutiert in Politika, seiner Abhandlung über den Staat, eine Reihe von politischen Grundbegriffen und -bedingungen des Staates. Dabei kommt er auch auf die Frage zu sprechen, wie sich der vielschichtige Begriff des Staates eigentlich räumlich konkretisiert. Aristoteles versucht sich diesem Problem über das Phänomen der Polis, der Stadt(-gemeinschaft) zu nähern:

„Ist es denn so, wenn Menschen denselben Platz bewohnen – wann kann man annehmen, dass es sich (hier) um eine Polis handelt? Jedenfalls doch wohl nicht aufgrund der Ummauerungen, denn dann könnte man ja den Peleponnes mit einer Mauer umgeben und hätte dann eine Polis! So verhält es sich vermutlich mit Babylon und mit jeder anderen Polis, die eher die Ausmaße eines Volkes als einer Polis hat. Wo man ja doch sagt, als diese (gemeint: Babylon) eingenommen worden war, dass ein Teil der Polis noch am dritten Tage keine Kenntnis davon hatte.“

Die Funktionstüchtigkeit des Staates ist nach Aristoteles offenbar auch eine Frage der Größenordnung. Die griechische Tradition mit ihren Stadtstaaten wie Athen, Sparta oder Argos bietet jedoch gerade kein Anschauungsmaterial für die Problematik; das Beispiel eines per Ummauerung zu einer Stadt gewandelten Peleponnes’ führt zunächst ad absurdum. Doch es gibt ummauerte Städte von dieser Größenordnung – im Orient; Babylon ist das beste Beispiel: Diese Stadt ist derartig groß, dass die Nachricht von der Eroberung mehrere Tage brauchte, bis sie alle Einwohner erreicht hatte. Ist Babylon überhaupt noch eine Stadt?

Fiktionen um Babylon

Das Babylon-Bild (nicht nur) der Griechen wurde maßgeblich geprägt durch eine Beschreibung, die der Geschichtsschreiber Herodot um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. verfasste. Im Bericht über die Entstehung des persischen Weltreiches nimmt er die Eroberung Babyloniens zum Anlass, einen äußerst farbenfrohen Bericht über das Zweistromland, seine Bewohner sowie deren Sitten und Gebräuche zu geben. Es sind – vor allen anderen Merkwürdigkeiten – immer wieder die schieren Dimensionen der Stadt Babylon und ihrer Architektur, die der Grieche aus Kleinasien Lesern vor Augen führt.

„Sie (die Stadt Babylon) ist in einer großen Ebene gelegen, lang ist jede Seite 120 Stadien, wobei sie ein Viereck ist. Diese Stadien des Umfanges der Stadt ergeben zusammen 480. Solchermaßen ist nun die Größe der Stadt Babylon, sie überragt an Schönheit jede andere Stadt, die wir kennen. Zunächst umgibt sie ein tiefer, breiter Wassergraben; dahinter aber eine Mauer, deren Breite 50 Königsellen ist, die Höhe aber 200 Ellen. (...) Oben auf der Mauer hat man eingeschossige Türme errichtet (...), zwischen den Türmen einen Durchgang für ein Vierergespann. Die Stadt darin ist voll von Häusern mit drei oder vier Stockwerken und wird durchschnitten von graden Straßen, die längs des Flusses oder quer auf ihn zulaufen; (...) der Euphrat, ein großer, tiefer, reißender Fluss, der aus Armenien kommt, fließt durch die Mitte hindurch. (...) In der Mitte jedes Teils der Stadt steht ein gewaltiges Gebäude: in der einen der Königspalast, mit einer großen, festgefügten Ringmauer; in der anderen ein Tempel des Zeus Belos (...). Der Tempelbezirk bildet ein Quadrat, dessen Seite zwei Stadien lang ist, darin ein fester Turm, ein Stadion lang und breit. Darauf steht ein zweiter Turm, darauf wiederum ein dritter, insgesamt acht Türme übereinander. Der Aufgang zu ihnen ist eine Treppe, die außen im Kreis herum hinaufführt.“

Herausragend: die angeblich 89 Kilometer lange und etwa 102 Meter hohe Mauer, die das Stadtgebiet einschließlich der Gartenflächen und Brachgebiete umfasste; und der gewaltige achtstöckige Stufenturm im Tempelbezirk des Gottes Marduk (Belos oder Zeus bei den Griechen), des Stadtgottes von Babylon, Herrscher über Götter und Menschen. In der Forschung ist umstritten, ob Herodot die Stadt je selbst gesehen oder ob er Berichte aus zweiter und dritter Hand verarbeitet hat.

Während nun die Griechen an der Peripherie der altorientalischen Großreiche kritisch-staunend die Prachtentfaltung der orientalischen Despotie zur Kenntnis nahmen, schrieb die Mythhistorie der hebräischen Bibel mit dem Motiv vom Turmbau zu Babel babylonische Monumentalarchitektur als Sinnbild menschlicher Hybris in das jüdisch-christliche Geschichtsbild ein. Wohlbekannt ist die Erzählung in der Genesis über die Menschen, die sich in der Ebene Schinear versammelten, um ein Denkmal zu bauen.

„Und sie sprachen: Wohlan, lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis in den Himmel reicht; so wollen wir ein Denkmal schaffen, damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.“

Hier ist es die Überwindung des vertikalen Raumes, der alte Traum des Menschen, an den Himmel heranzureichen, der in einem gewaltigen Bauwerk Gestalt gewinnt. Tatsächlich: Vor dem Hintergrund der flachen Alluvial- Ebenen des südlichen Zweistromlandes haben turmartige Erhebungen eine ganz besondere Wirkung – scheinen sie doch die Erde mit dem Himmel zu verbinden. Und so beschrieben die Babylonier – selbst Erben einer sehr viel älteren sumerischen Tradition – in der Tat den Turm zu Babel als „mächtiges Gebirge“, als „Fundament von Himmel und Erde“.

Versuche der Rekonstruktion

Von dem einstigen Tempelturm wiederum zeugt heute nur noch ein gewaltiger 90 mal 90 Meter großer Fundamentgraben; die Backsteine, die einst den aus gestampften Lehm gebildeten Kern des Turmes umgaben, haben Alexander III. von Makedonien und viele weniger bekannte Persönlichkeiten abtragen lassen. Die Versuche, seine äußere Gestalt und seinen inneren Aufbau – auch anhand von Parallelen aus anderen mesopotamischen Städten – zu rekonstruieren, haben zu erbitterten Debatten und nicht weniger als 13 Modellen geführt. Durch die Ausgrabungen der Ruine Babylons, systematisch betrieben seit 1899 – mit kriegsbedingten Unterbrechungen – haben wir Kenntnis vor allem von den späten Phasen der Stadt, also ihren Strukturen seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert. Das hoch anstehende Grundwasser lässt für gewöhnlich das Vordringen in die älteren Schichten nicht zu. Nur an wenigen Stellen ließen sich in günstigen Jahren frühere Perioden der Stadtgeschichte erreichen, die – so wissen wir es aus Texten bis in das ausgehende 3. Jahrtausend – möglicherweise noch weiter zurückreichen.

Wie groß war Babylon?

Die von Herodot und anderen beschriebene Ummauerung zeichnet sich als deutliche Erhebung im Gelände ab – freilich haben sich die von ihm benannten Größenordnungen nicht bestätigen lassen. Der erste Ausgräber der Stadt, Robert Koldewey, gibt als Länge etwa 18 Kilometer an, Rekonstruktionen zum aufgehenden Mauerwerk ergaben Höhen von maximal 30 Metern. Das durch die in Babylon „Enlil-Schutzwall“ genannte Außenmauer umschriebene Stadtgebiet hat eine Ausdehnung von viereinhalb Quadratkilometern. Von diesem eigentlichen Stadtgebiet sind bis heute etwa sechs Prozent durch Grabungen untersucht worden. Zu den wichtigsten und schönsten Funden der Grabungen in Babylon gehören das Ischtar-Tor und die Mauern der sogenannten Prozessions- Straße, die im Vorderasiatischen Museum zu Berlin gezeigt werden. Nach vorsichtigen Schätzungen dürften seinerzeit zwischen 50.000 und 80.000 Menschen dauerhaft in Babylon gelebt haben. Wie Herodot zum Maß von 89 Kilometern für die Länge der Stadtmauer kam, ist unklar, doch bieten auch andere Autoren wie Ktesias und Kleitarch mit etwa 67 Kilometern ebenfalls auffällig hohe Angaben. Man vermutet heute, dass hier eine Angabe zu einer zweiten babylonischen „Mauer“ eingerechnet wurde: Bei dieser handelt es sich um eine gewaltige wallartige Anlage von etwa 50 Kilometern Länge, die nördlich von Babylon zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris verlief und den Zugang aus dem Norden abriegelte.

Unmittelbar und noch anschaulicher als die archäologischen Ausgrabungen geben überlieferte Texte Zeugnis und Zugang zu den antiken Dimensionen, Mentalitäten und Ideologien Babylons. Tausende von Texten erzählen vom Alltag der Stadt und ihrer Bewohner, von Königen und Bauern, von Krieg und Frieden, von Festen und Katastrophen. Ein Texttyp soll hier exemplarisch zur Sprache kommen; er stellt die räumliche Visualisierung der Stadt und der beiden zentralen Baukörper – Mauern und Turm – in den Mittelpunkt.

Inventarisierung Babylons

Die „Stadtbeschreibung von Babylon“, nach ihrem sumerischen Anfangswort Tintir (ein anderer Name für Babylon) genannt, ist ein kommentiertes Inventar der zentralen Anlagen Babylons. Sie zählt zu den wichtigsten Zeugnissen über die antike Stadt. Der Text liegt in Keilschrift auf Tontafeln vor und dürfte ursprünglich auf das 12. Jahrhundert v. Chr. zurückgehen; die erhaltenen Manuskripte des insgesamt fünf Tafeln umfassenden Werkes sind sehr viel jünger. Eingeleitet durch eine Folge von Lobpreisungen wird der Bestand an Tempeln, Straßen, Plätzen, Mauern und Toren aufgeführt – das Resümee, das der Autor zieht, ist eindrucksvoll:

„Zusammenfassung: 43 Kultzentren der großen Götter in Babylon, 55 Kultsockel des Marduk, 2 umschließende Mauern, 3 Flüsse, 8 Stadttore, 24 Straßen von Babylon; (...) Babylon ist der Ort der Erschaffung der großen Götter! (...); (das Quartier) vom Markt-Tor zum Großen Tor heißt Eridu; das vom Markt-Tor zum Urasch-Tor heißt Schuanna; das vom Großen Tor zum Ischtar-Tor heißt Kadingirra; das vom Ischtar- Tor zum Belet-Eanna-Tempel am Kanalufer heißt Neustadt; das vom Belet-Eanna-Tempel am Kanalufer zum Marduktor heißt Kullab; das vom Zababa-Tor bis zur Kapelle „Die-Götter- achten-Marduk“ heißt Te-e: (das sind die) 6 Stadtteile auf dem Ost-Ufer; (das Quartier) vom Adad-Tor bis zum Aku-Tor (heißt) ... ; vom Aku-Tor zu Enamtila, wo Eschmah gebaut ist, heißt Kumar; Bogen des Belet-Ninua-Tempel bis zum Flussufer (heißt es) Bab-Lugalirra; vom Schamasch-Tor zum Fluss heißt es Tuba: (das sind die) 4 Stadtteile auf dem Westufer. (Insgesamt) 10 Stadt(-bezirke), die Überfluss hervorbringen.“

 Diese nüchterne Inventarisierung eines Stadtraumes gibt einen guten Eindruck von dessen räumlicher Ausdehnung. Auf welch detaillierte Kataster sich die Stadtverwaltung stützen konnte, zeigt ein kleines Fragment einer Tontafel mit einem Ausschnitt aus einem beschrifteten Plan. Die Mauer ist als durchgezogene Linie markiert, das Schamasch-Tor ist eingezeichnet, ferner der Name des zugehörigen Stadtviertels Tuba sowie ein Kanal. Reduziert auf einfache geometrische Formen wird der Stadtraum visualisiert. Auf der anderen Seite der Tontafel finden sich exakte Maßangaben für wichtige Bauwerke, zum Beispiel ihrer Mauern und Tore sowie die Abstände zu den Hauptgebäuden. Es handelt sich vermutlich um eine Lehrtafel, die zu Unterrichtszwecken eingesetzt wurde. Die maßexakte Abbildung von Städten basiert auf jahrhundertealten Techniken der Grundstücks- und Gebäudevermessung, die in Mesopotamien entwickelt worden waren. In der keilschriftlichen Dokumentation zu Babylon (aber auch zu anderen babylonischen Städten wie Sippar und Nippur) finden sich neben solchen topographischen Texten auch Detailaufmaße von Mauern und Toren sowie Kalkulationen zum Materialbedarf für die Wiederherstellung baufälliger Strukturen.

Auch über den Turm von Babylon haben sich entsprechende Unterlagen erhalten. So gibt die aus dem frühen 7. Jahrhundert v. Chr. stammende „Esangila-Tafel“ (erhalten in zwei späten Manuskripten aus dem 3. Jahrhundert v. Chr.) seine Außenmaße mit rund 90 x 90 x 90 Metern an; zudem werden die Detailmaße der insgesamt sieben übereinandergestellten Plattformen aufgeführt. Format und Werte stimmen mit den Rekonstruktionen aufgrund des Ausgrabungsbefundes überein – und widerlegen Herodot, der von einem kreisförmigen Bauwerk mit acht Stockwerken spricht.

Der Stufenturm mit dem Hochtempel des Götterherrn Marduk ragte wie ein Berg über die flache Landschaft des Zwischenstromlandes und war von weither zu sehen. So wie die gewaltigen Mauern die Fläche – die horizontale Ausdehnung – markierten, so symbolisierte der Turm die vertikale Achse, seine Spitze reichte an den Himmel heran. Der Name des Tempelturms: Etemenanki – „Haus, Fundament von Himmel und Erde“. In Babylon war nach babylonischer Vorstellung der Sitz und Versammlungsort der Götter. Das Weltschöpfungslied „Enuma Elisch“ erzählt, wie Götterherr Marduk selbst – nachdem er die mythischen Urwesen Tiamat und Apsu besiegt und Himmel und Erde neu gestaltet hat – Babylon im Mittelpunkt des Kosmos gründet:

„Erbaut Babylon, die Aufgabe, die ihr gesucht habt. Lasst Ziegel dafür geformt werden und errichtet das Heiligtum!“ Die Anunna-Götter schwangen die Hacke. Ein Jahr lang strichen sie die nötigen Ziegel. Als das zweite Jahr herankam, errichteten sie Esagil, eine Nachbildung des (Süßwasserozeans) Apsu. Sie erbauten den hohen Tempelturm (...)“

Religiöse Dimension der Stadt

Die religiöse Dimension Babylons als Sitz des Götterkönigs und mythischer Urstadt sollte für die nächsten Jahrhunderte prägend bleiben. Doch Babylon schöpft nicht nur aus dieser einen mythhistorischen Tradition: Der Stadt eingegliedert sind andere sakrale Orte, und es ist sicher kein Zufall, dass die beiden wichtigsten Identitätsgeber der Stadt die beiden altsumerischen Städte Eridu und Nippur sind. Eridu, einst am Ufer des Persischen Golfes gelegen, galt als die uranfängliche Stadt per se – die erste Gründung der Götter nach der Erschaffung der Erde. Ähnliches nahm für sich das weiter nördlich gelegene Nippur in Anspruch – mehr noch, diese Stadt galt als Weltenachse: Sie trug auch den sumerischen Prunknamen Duranki „Band (zwischen) Himmel und Erde“. Zahlreiche Anklänge an die sakrale Namengebung Nippurs finden sich in den Lobpreisungen, die die Einleitung der zitierten Stadtbeschreibung in Keilschrift bilden. Babylon übernimmt offenbar die theologischkosmologische Identität dieser beiden Städte und fügt auf diese Weise der konkreten räumlichen Wirklichkeit eine weitere, eine theologische Wirklichkeit hinzu – sie schafft einen sakralen Raum, dessen Inhalt und Mittelpunkt die Stadt ist. Die Stadtmauern – dem Stadtherrn Marduk in seiner Funktion als oberstem Gott als Enlil ila_ni zugeeignet – sind Bestandteil dieser sakralen Topographie.

Mittelpunkt des Erdenkreises

Babylon – der Mittelpunkt des Erdkreises: Dieses Motiv bestimmt auch den Darstellungsmaßstab der mappa mundi einer stark zerstörten Tontafel aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., über deren Herkunftsort (vielleicht die Stadt Borsippa oder doch – zumindest ursprünglich – Babylon) sich nur Vermutungen anstellen lassen. Diese Weltkarte stellt Babylon geometrisch, politisch und mythologisch ins Zentrum. Aus der Perspektive des weit entfernten Betrachters erscheint die Stadt reduziert auf jene geometrische Figur als Rechteck, welches die Linie der Mauern im Gelände zeichnet. Ein kleiner Punkt innerhalb des Rechteckes symbolisiert vermutlich den Turm. Beischriften identifizieren Orte, Landschaften, Sumpfgebiete, Gewässer, Gebirge, welche der Erdscheibe eingeschrieben sind. Es handelt sich um politisch-geographische Realitäten, die ein Kräfteverhältnis abbilden, das in etwa dem frühen 6. Jahrhundert zugeordnet werden kann. In dieser Zeit beherrschten die chaldäischen Herrscher auf dem Thron Babylons ein große Teile Vorderasiens umspannendes Weltreich. Diese Herrschaft über die Gesamtheit, das „Königtum über die vier Weltgegenden“, wie es in der babylonischen Herrscherlobpreisung heißt, wird gleichgesetzt mit der Herrschaft über die bewohnte Erde. Ihre Grenze findet sie in der „Bitteren“, dem Ozean aus Salzwasser, der die feste Landmasse ringförmig umschließt. Außen um den Erdozean ist ein Kranz von (einst) insgesamt acht Zacken in regelmäßigen Abständen angeordnet, die nach Ausweis der erhaltenen Beischriften schwer zugängliche oder weitestgehend unbekannte Gebiete darstellen: Genannt wird zum Beispiel „die Große Mauer“, die in einer Region liegt, in der die Sonne nicht sichtbar ist. Hinter der scheinbar nüchternen, so wenig detailgetreuen, sondern hochabstrakten babylonischen Weltkarte entfaltet sich die gesamte Ideologie einer Stadt, die gleichermaßen Mittelpunkt der Welt ist und die ganze Welt in sich trägt. Urbane Realität und mythische Geographie, sakrale und politische Landschaften verbinden sich in Innen- und Außenansichten zu einem Raumgebilde von unglaublicher Komplexität:

Babylon – Sitz des Lebens!
Babylon – Macht der Himmel!
Babylon – Licht der Himmel!
Babylon – von den Himmeln ins Dasein gerufen!
Babylon – Stadt des Königs der Götter!
Babylon – Stadt von Wahrheit und Gerechtigkeit!
Babylon – Stadt des Überflusses!
Babylon – Schöpferin von Gott und Mensch!
Babylon – Stadt, deren Bewohner beständig feiern!
Babylon – Band der Länder!

(Aus der 1. Tafel der Stadtbeschreibung)

Weitere Informationen

Prof. Dr. Eva Cancik-Kirschbaum

Freie Universität Berlin, Institut für Altorientalistik, Hüttenweg 7, 14195 Berlin

www.geschkult.fu-berlin.de/e/altorient