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Nearer, My God, To Thee

Religion in Amerika

04.12.2007

2.700 Menschen finden Platz in der „Blue Sanctuary“, dem Gotteshaus der First Baptist Church.

2.700 Menschen finden Platz in der „Blue Sanctuary“, dem Gotteshaus der First Baptist Church.

Wer sich in den USA mit Evangelikalen unterhält, muss auf die entscheidende Frage nicht lange warten: „Have you accepted Jesus Christ as your personal savior?“ Oder einfacher: „Are you saved?“ Die Mission ist das vorrangige Bedürfnis, „to save souls“ die größte Befriedigung der Evangelikalen, eine Richtung innerhalb des Protestantismus, die sich auf die Bibel als zentrale und einzig wahre Grundlage ihres christlichen Glaubens beruft. Welcher konkreten evangelikalen Gruppe man genau angehört, ist dabei zweitrangig. Nicht errettet worden zu sein, stellt aber einen Mangel dar, der unter Umständen zum Stigma werden kann. Die Schar der Gläubigen in den Gemeinden rekrutiert sich in der „ersten Kolonie“ Virginia noch stark entlang ethnischer Zugehörigkeit, so auch in der First Baptist Church der 300.000 Einwohner zählenden Stadt Roanoke, deren Mitglieder fast ausschließlich der weißen Mittelklasse entstammen.

Die First Baptist Church ist die größte Gemeinde der Stadt im Süden Virginias und ihre einzige Megachurch. Mehr als 2.000 Gläubige kommen hier mittwochs und sonntags zu den Gottesdiensten. Die Mitgliederzahl der First Baptist Church, die den Southern Baptists angehört, wuchs zwischen 1970 und Ende der 1990er Jahre rapide; seit wenigen Jahren stagniert sie und liegt damit im Trend. Das Einzugsgebiet der Megakirche ist größer als das kleinerer Glaubensgemeinden in der Stadt, einige Mitglieder fahren eine Stunde zu Gottesdiensten oder Bible Studies. Das Angebot auf dem Gelände der Kirche ist reichhaltig: neben dem alten und dem neuen großen Gotteshaus finden sich hier eine Vorschule, ein Kindergarten, die Kirchenverwaltung, eine Turnhalle sowie eine Vielzahl von Seminar-, Gemeinde- und Proberäumen für die breit gestreuten Gemeindeaktivitäten. Weil die First Baptist Church aus einer schon 1906 gegründeten Gemeinde heraus entstand und durch ihr Wachstum zur Megakirche wurde, unterscheidet sie sich von einer Vielzahl von Megakirchen, die mehrheitlich Neugründungen der letzten 20 Jahre sind. Der dadurch aufrechterhaltene familiäre Eindruck der Kirche ist ein Aspekt in einer Reihe von ganz pragmatischen Gründen, wegen derer sich Mitglieder für die Kirche entschieden haben. Die aktuell am stärksten wachsenden Gruppen in Roanoke sind jedoch die pentekostalcharismatischen (pfingstkirchlichen) Kirchen. Zwei Charakteristika amerikanischer Religion werden heute in einem durch die westeuropäischen Medien vermittelten Bild primär wahrgenommen: eine anti-liberale, moralisierende und „fundamentalistische“ Orientierung des Christentums, die seit der Präsidentschaft von George W. Bush auch einen politischen – und polarisierenden – Ausdruck gefunden hat, und das Phänomen der Megachurches – große, überwiegend neu gegründete Kirchen mit großen Mitgliederzahlen, an denen mehr oder weniger beiläufig auffällt, dass die Zahl der regelmäßigen Kirchenbesucher und die religiöse Aktivität in der amerikanischen Bevölkerung erheblich höher ist als in einem „säkularisierten“ Europa, in dem Religion eine reine „Privatangelegenheit“ geworden zu sein scheint.

Alt- und Neutestamentarische Prophezeiungen treten in den Dienst eines endzeitlichen Bildersturms – Rapture-Vortrag in Roanoke.
Quelle: Katharina Eglau

Anti-liberal, moralisierend, fundamentalistisch

Hinter Fundamentalismus und Megakirchen stehen allerdings Entwicklungen und Eigenheiten amerikanischer Gesellschaft und Kultur, die aus europäischer Perspektive nicht leicht zu deuten sind: die stetige Erneuerung amerikanischer Religion und der in ihr immer weiterentwickelte direkte Zugang zu und die direkte Kommunikation mit Gott.

Fundamente des Glaubens und der Bibeltreue

Tatsächlich gab es etwa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine Phase, in der sich Strömungen innerhalb des Protestantismus in den USA explizit auf die Fundamente des Glaubens und auf Bibeltreue beriefen, um sich von einer sozialpolitisch engagierten Deutung des Evangeliums in der protestantischen und intellektuellen Social-Gospel-Bewegung jener Zeit abzugrenzen – eine Reaktion auf die gegen Ende des 19. Jahrhunderts vehement vorangetriebene Industrialisierung mit ihren negativen sozialen Folgen. Das Muster von Reaktion und Gegenreaktion ist typisch für die Erneuerungsprozesse amerikanischer Religion. Von den protestantischen „Fundamentalisten“ führt eine direkte Linie zu den evangelikalen Christen, denen Bush Wahl und Wiederwahl zu verdanken hat; etwa über die aus diesem Fundamentalismus heraus 1942 gegründete National Association of Evangelicals. Die moralisch konservativen evangelikalen Christen in den USA grenzen sich heute in erster Linie von den Mainline Denominations ab, die einer zunehmenden Liberalisierung der amerikanischen Überflussgesellschaft seit den 1960er Jahren nur wenig entgegenzusetzen hatten. Als Mainline Denominations werden jene eigenständigen Glaubensrichtungen innerhalb des amerikanischen Protestantismus bezeichnet, die sich zumeist schon in der Kolonialzeit etablierten (unter anderem gehören dazu Presbyterians, Congregationalists, Episcopalians, Lutherans).

Der Multimedia-Gottesdienst in einer Megachurch erfordert den technischen Aufwand eines Rockkonzerts.
Quelle: Tobias Scholz

Eine Folge von Erweckungsbewegungen

Ihre Vielfalt symbolisiert im Kontrast zu einer einheitlichen Staatsreligion jene positive Religionsfreiheit, auf die sich auch die Evangelikalen nachdrücklich berufen. Die Social-Gospel-Bewegung wird heute als dritte einer Folge von Great Awakenings amerikanischer Religion gedeutet. Sie hatte bei der Gründung des amerikanischen Sozialstaats eine wichtige Rolle gespielt und die New-Deal-Politik Franklin Delano Roosevelts vorbereitet. Auch die anderen Erweckungsbewegungen waren für das amerikanische Gemeinwesen in hohem Maße bedeutsam: Die erste von Wanderpredigern getragene, noch vorrevolutionäre Erweckungsbewegung schuf ein die religiösen Unterschiede zwischen den verschiedenen Kolonien übergreifendes erstes, moralisches Bewusstsein „amerikanischer“ Identität. Die zweite Erweckungsbewegung leistete dies in der Expansion nach Westen: An der Frontier kamen in Camp Meetings Hunderte, manchmal Tausende Siedler für einige Tage zum Gottesdienst zusammen. Viele von ihnen hatten dort ein Konversionsbeziehungsweise Wiedergeburtserlebnis, wurden vom Heiligen Geist erfüllt oder in anderer Weise von der kollektiven Emotionalität dieser Veranstaltungen beeindruckt, die vor allem eine Quelle gemeinsamer moralischer Orientierung in einem Leben in der Wildnis wurden. Man kann schließlich die evangelikale Bewegung als Träger eines vierten Great Awakening sehen und die Megakirchen als eine neue Organisationsform, die wesentliche Elemente des Camp Meeting übernommen hat: Dass als Megakirchen nur (protestantische) Kirchen mit mehr als 2.000 Mitgliedern bezeichnet werden, hat seinen substantiellen Sinn darin, dass in einer solch großen Gemeinde Erfahrungen kollektiver Emotionalität leichter möglich sind als in kleineren Gemeinden.

Persönliches Erfüllt-Sein vom Heiligen Geist ist Zentrum und Ziel eines pentekostalischen Gottesdienstes.
Quelle: Katharina Eglau

Vom Süden der USA in fast alle Bundesstaaten

Heute bekennen sich bis zu 39 Millionen Amerikaner als evangelikale Christen; mit etwa 17 Millionen Mitgliedern ist die Southern Baptist Convention (SBC) deren größte Kirchenorganisation. In stetiger Missionsarbeit ist es ihr gelungen, sich vom Süden der USA in fast alle Bundesstaaten auszubreiten. Neben Bibeltreue, Konversions- oder Wiedergeburtserfahrung und Missionsverpfl ichtung ist ein weiteres Element für diese vorläufi g letzte große Erneuerungsbewegung in den USA typisch: der Glaube an die Rapture (Entrückung), eine bestimmte Fassung des in der Bibel vorausgesagten Endzeitgeschehens. Der Begriff beschreibt einen Vorgang, in dem Gott die von ihm Auserwählten von der Erde holt und im Himmel mit den Heiligen und Engeln vereint – für die meisten Evangelikalen findet das vor einer Phase der Prüfungen (Pretribulations), vor der Wiederkunft Christi und dem Zusammenleben mit ihm in einem tausendjährigen Reich (Premillenialism) statt. Fernsehprediger wie der kürzlich verstorbene Jerry Falwell und andere prominente evangelikale Christen wie Tim LaHaye haben diese Vorstellung in der amerikanischen Bevölkerung (wieder) populär gemacht – LaHaye durch eine ursprünglich zwölfbändige Buchreihe mit dem Titel Left Behind (der auf die Zurückgelassenen nach der Rapture anspielt), die das Endzeitgeschehen romanhaft beschreibt. Mit den Vorgeschichten und Fortsetzungen wurde inzwischen eine Aufl age von fast 70 Millionen Exemplaren erreicht, und aus der Reihe sind zwei Kinofilme entstanden (die zuerst in Kirchen gezeigt wurden). Die evangelikale Deutung des Endzeitgeschehens und der damit verbundene christliche Zionismus wurden inzwischen von vielen Politikbeobachtern als Kausalfaktor in der Nahostpolitik der Bush-Regierung kontrovers diskutiert.

Kirchen in freier Unternehmerschaft

In den USA existieren heute mehr als 1.200 Megakirchen. Mehr als die Hälfte von Ihnen sind denominationell nicht gebunden, das heißt, sie gehören nicht wie die überwiegende Zahl kleinerer Kirchengemeinden einer Konfession oder Kirchenorganisation an. Sie sind Kirchen in freier Unternehmerschaft und nutzen diese Freiheit, indem sie in besonderer Weise auf die alltäglichen Bedürfnisse ihrer Mitglieder eingehen – durch eine Vielfalt an Aktivitäten und Programmen weit über Bibelstudien und Sonntagsschule hinaus. Auch die Gottesdienste sind nicht mehr Ausdruck einer strengen Religiosität, sondern sollen vor allem erreichen, dass die Gläubigen sich wohlfühlen und motiviert ihrem Alltag zuwenden, und zwar gerade in Kirchen, in denen eine konservative Moral gepredigt wird. Nur etwa zehn Prozent aller Megakirchen strukturieren ihren Gottesdienst nach einem traditionellen liturgischen Ritual. Showelemente und eine ausgeklügelte Medientechnik charakterisieren, teils mit Übertragung der Gottesdienste in Satellitenkirchen, den Regelfall. In vielen Megakirchen wie auch in anderen denominationell nicht gebundenen Kirchen fehlt das Kreuz an der Wand. Fällt Weihnachten auf einen Sonntag, fi nden in vielen Mega kirchen Gottesdienste nur in reduzierter Zahl oder gar nicht statt – damit tragen die Megakirchen dem Umstand Rechnung, dass die Zusammenkunft der Familie an diesem Tag wichtiger ist als die der Kirchengemeinde.

Chance der direkten Erfahrung und Kommunikation mit Gott

Megakirchen haben schließlich eine besondere Affi nität zu einem bisher nicht weiter erläuterten Teil der evangelikalen Bewegung: zur pentekostal-charismatischen (pfingstkirchlichen) Bewegung. Die einem modernen Camp Meeting entsprechende Versammlung von Tausenden von Menschen zum Gottesdienst in der Megakirche verspricht eine besonders große Chance der direkten Erfahrung und Kommunikation mit Gott, wie sie in der Einsamkeit des Gebets oder in einer kleinen Gemeinde nicht besteht. In pentekostal-charismatischen Kirchen wird dies als subjektives „Erfülltsein“ durch den Heiligen Geist (Baptism of the Holy Spirit) erlebt.
Ein Ausdruck davon kann das „Zungenreden“ sein, wie es für die pentekostalen Kirchen kennzeichnend ist, oder es kann, typisch für charismatische Kirchen, auch andere, in der Regel spontane körperliche Ausdrucksformen annehmen (Gläubige wälzen sich zum Beispiel auf dem Boden). Die Betonung der subjektiven Erfahrung des Heiligen Geistes geht über eine einmalige Wiedergeburtserfahrung weit hinaus. Spiritualität wird zu einer alltäglich gesuchten Erfahrung. Man kann diese Erfahrung als Basis einer „dritten Bewegung“ jenseits von orthodoxem Protestantismus und Katholizismus sehen, die bis zur Theologie Thomas Müntzers zurückreicht, dem es möglich schien, durch direkte Kommunikation mit dem Heiligen Geist – und gegebenenfalls auch ohne jede Kenntnis der Bibel – zum rechten Gottesglauben zu gelangen. Die pentekostal-charismatische Bewegung ist eine Erneuerungsbewegung, die andere solche Bewegungen nochmals überlagert. Neben der Katholischen Kirche, deren Wachstum vor allem durch die mexikanische oder lateinamerikanische Immigration vorangetrieben wird, ist sie heute die am schnellsten wachsende religiöse Bewegung in den USA und hat die im Wachstum stagnierenden Southern Baptists überflügelt. Religiöse Entwicklung in den USA ist generell durch zunehmende Vielfalt gekennzeichnet. Weitere Kennzeichen sind ein als immer leichter empfundener Zugang und eine immer größere Nähe zu Gott. Bibeltreue, spirituelle Erfahrung und der Glaube an ein bestimmtes Schöpfungs- und Endzeitgeschehen scheinen die Distanz zu Gott für Evangelikale entscheidend zu verkürzen, die Verpflichtung zur Mission hat den Glauben zu einer öffentlichen und letztlich auch (wieder) politischen Angelegenheit gemacht.

Erleichterter Zugang, immer größere Nähe zu Gott

Heute bezeugen diese Entwicklung vor allem jene immer stärker wachsenden religiösen Gruppen, die den Gläubigen zu einer direkten, subjektiven Kommunikation mit Gott verhelfen wollen und dadurch die „Zugangsschwellen zu Gott“ spürbar senken – typisch dafür sind eben die denominationell ungebundenen pentekostal-charismatischen Megakirchen. Doch parallel zu diesen Wachstumstrends werden heute in den USA auch Rückzugsbewegungen aus der Religion immer deutlicher.

Der charismatische Prediger der „Tree of Life“-Gemeinde in Lynchburg verhilft auch den Zögerlichen zum „Baptism of the Holy Spirit“.
Quelle: Katharina Eglau

Konservative Moral als Antwort auf Unsicherheiten

Die Libertinage der 1960er Jahre kann den Erfolg der evangelikalen Gegenreaktion seit 1980 nicht zureichend erklären. Jene große, zwischen 1946 und 1964 geborene Generation von Amerikanern, die Baby-Boomers, hat gerade in der ökonomischen Krise der 1980er Jahre eine tiefgreifende Verunsicherung und einen Wandel ihrer Normalerwartungen erfahren – der von ihren Eltern erworbene soziale Status konnte nicht selbstverständlich übernommen, Berufskarrieren nicht bruchlos fortgeführt, der Unterhalt der Familie nicht mehr von einem Ehepartner allein geleistet werden – wobei die Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen zwar durchaus als ein Akt der Befreiung und als Aufbruch in die Selbstständigkeit begriffen wurde, Frauen aber in der Regel auch mit der Doppelbelastung von Haus- und Erwerbsarbeit konfrontierte. Die konservative Moral der Evangelikalen ist eine Antwort auf diese mit den neu gewonnenen Freiheiten gewachsenen Unsicherheiten. Dabei muss der Grad der Verinnerlichung einer solchen Moral nicht sonderlich hoch sein: Untersuchungen zeigen, dass die Hälfte der bibeltreuen Evangelikalen in Wirklichkeit nur einmal in der Woche oder noch seltener in der Bibel liest. Auch die persönlichen Gebete der Evangelikalen haben meistens einen eher repetitiven Charakter, als dass sie einer tiefen inneren Prüfung dienen. Die Kinder der Baby-Boomers, die Generation der heute 21- bis 45-Jährigen, sind in dieser Zeit gestiegener Unsicherheiten großgeworden. Den Zeitpunkt ihrer Etablierung im Beruf und der Gründung einer Familie zögern sie immer weiter hinaus. Eine Konsequenz davon ist die ebenfalls verzögerte oder ganz unterbleibende Rückkehr in eine Kirchengemeinde, die in der Regel mit der Eheschließung, spätestens jedoch mit der Einschulung der Kinder erfolgt. Die Hälfte der 21- bis 45-Jährigen in den USA gehört heute keiner Kirche an – schon allein, weil sie die dorthin führenden Lebensentscheidungen noch nicht getroffen haben. Die andere Hälfte verwirklicht die – wie man sieht – nicht ohne Grund beschworenen Family Values; diese Generation hat allerdings rege davon Gebrauch gemacht, die „Angebotsstruktur“ verschiedener Kirchgemeinden zu testen, bevor sie sich für eine Gemeinde entschieden hat: „Church Shopping“ kennzeichnet eine ganz selbstverständlich in Anspruch genommene Wahlfreiheit dieser Generation. Megakirchen mit ihrer hoch diversifizierten Angebotsstruktur, wie zum Beispiel Christian Aerobic oder Christian Weight Loss Groups, haben hier offensichtliche Vorteile gegenüber kleineren Kirchengemeinden. Sie siedeln sich zudem vorwiegend an den Wohnorten dieser jüngeren Generation an, den neueren suburbanen Zonen amerikanischer Großstädte. Umgekehrt haben oder bekommen kleinere Kirchengemeinden Probleme, die nur ein beschränktes Angebot haben: Sie überaltern. Selbst solche Rückzugsbewegungen werden die Unterschiede zwischen der amerikanischen und der europäischen Religiösität zumindest in naher Zukunft nicht relativieren, blendet man die von Amerikanern misstrauisch betrachtete „Islamisierung“ Europas und ihre fundamentalistischen Auswüchse hier aus. Religiöse Vielfalt und die spirituelle Annäherung an Gott charakterisieren die Religion der USA.

Aerobics, Callanetics, Christian Weight Loss. Die First Baptist Church Roanoke wirbt mit einem Angebot, so umfangreich wie das eines Fitnessstudios.
Quelle: Tobias Scholz

Unterschiede zwischen amerikanischer und europäischer Religiösität

Für Europa ist keines dieser beiden Merkmale typisch, dagegen wirken hier, insbesondere in den skandinavischen Ländern mit der im Vergleich geringsten religiösen Aktivität, staatskirchliche Traditionen fort, die auf die Zeit der Religionskriege zurückgehen, in deren Folge territoriale Herrschaft und konfessionelle Bindung eng verknüpft waren. Deutschland hat zwar keine Staatskirche, der Unterschied ist aber wohl nur graduell: Der Staat treibt hier für ein religiöses Oligopol den biblischen Zehnten ein. Insbesondere fehlt in Europa jedoch etwas, das gerade aus der Perspektive der Evangelikalen die Menschen näher zu Gott bringen sollte: die Idee einer Mission, die auf eine ganze Nation übergreift, sie aus der Menge der Nationen heraushebt, diese eine Nation näher zu Gott rückt als andere Nationen. Das ist eine Idee, die schon mit den puritanischen Pilgervätern in den USA Fuß gefasst hat. Die Erbauung eines New Jerusalem, einer City Upon a Hill ist das Ziel – so charakterisierte der puritanische Prediger John Winthrop diese Mission im Jahr 1630. In Europa folgte auf die Zeit der Religionskriege die Aufklärung.


Berliner Exkursion in die USA

Im April 2006 unternahmen 14 Studierende, begleitet von Prof. Dr. Harald Wenzel, Soziologe am John-F.-Kennedy-Institut, Dr. Martin Gehlen, Theologe und Journalist beim Tagesspiegel, und die Fotografin Katharina Eglau eine Exkursion in die USA, um Experteninterviews in Washington D. C. zu führen und Feldforschung in Kirchengemeinden des Bundesstaates Virginia zu betreiben. Die Exkursion wurde durch ein Hauptseminar zum Thema „Die Religiöse Rechte in den USA“ vorbereitet. In Washington D. C. interviewte die Gruppe Vertreter konservativer Think Tanks, religiöser Interessensgruppen und progressiver Gegenbewegungen – unter anderem Gary Bauer, Präsident von American Values, und Richard Cizik, Führungsmitglied der National Association of Evangelicals. In Virginia Beach besuchte die Gruppe das Produktions- und Sendezentrum des von dem Fernsehprediger Pat Robertson gegründeten Christian Broadcasting Network (CBN) und nahm an der Aufzeichnung der täglichen Hauptsendung, des „700 Club“, teil. Dieser Besuch galt aber auch der unmittelbar benachbarten christlichen Regent University, die ebenfalls auf eine Gründung Robertsons zurückgeht. Robertsons „Christian Coalition“ und Jerry Falwells „Moral Majority“ waren in den 1980er Jahren die maßgeblichen Organisationen der Religiösen Rechten in den USA.

Der große Zuspruch, den sie fanden, erklärt sich durch Robertsons und Falwells Popularität als Fernsehprediger. Die Exkursion führte einige Studierende auch zur Kirche des im Mai verstorbenen Predigers Jerry Falwell, der Thomas Road Baptist Church, einer Megakirche in Lynchburg. Auch Falwell hat eine christliche Universität gegründet, die Liberty University. Insgesamt wurden 28 Kirchengemeinden und ökumenische Einrichtungen in Lynchburg, Roanoke, Charlottesville und Lexington besucht – zum größten Teil evangelikale Gemeinden, aber auch einige Gemeinden, die den eher liberalen Mainline Denominations zuzurechnen sind. Die Studierenden nahmen nicht nur an Gottesdiensten teil, sondern unter anderem auch an Bibelkreisen, christlichen Sozialprojekten und Religionsstunden, und sie führten Gespräche mit Gemeindeleitern und Mitarbeitern, Elterngruppen und Schulinitiativen – während einer im Gemeindeleben besonders intensiven Zeit, der Osterzeit. Christliche Radiostationen standen ebenso auf dem Programm wie der Unterricht von Schülerinnen und Schülern (Home Schooling), Missionsarbeit außerhalb der USA und christliche Rehabilitationsarbeit in Gefängnissen. Die Teilnehmer hatten durch diese Exkursion die einzigartige Gelegenheit, die Besonderheit des kirchlichen und religiösen Lebens in der amerikanischen Gesellschaft kennenzulernen – und zwar die lokale Basis einer religiösen Spiritualität und einer von Missionsideen geprägten christlichen Politik. Diese Eindrücke und Erfahrungen trugen dazu bei, die Weltsicht und moralischen Einstellungen vor allem der evangelikal orientierten Bevölkerung besser zu verstehen, die bei der politischen Meinungsbildung in den USA mittlerweile in vielen Feldern dominiert. Speziell der Kontakt zu charismatisch-pentekostalen Gemeinden war sehr intensiv. Gleichzeitig bekamen die Teilnehmer eine anschauliche Vorstellung davon, wie die evangelikale Bewegung sich auf kommunaler, einzelstaatlicher und bundesstaatlicher Ebene vernetzt und so ihre Aktivitäten zu politischem Einfluss bündelt. Nach der Rückkehr wurden die gesammelten Materialien und Erkenntnisse ausgewertet und von den Teilnehmern in Form von Transkriptionen und Feldberichten weiterverarbeitet. Im Juli vergangenen Jahres wurden die Ergebnisse im Rahmen einer Vortragsveranstaltung und einer Fotoausstellung einem größeren Publikum vorgestellt.

Weitere Informationen: www.religion-usa.de