Springe direkt zu Inhalt

Wie man seine Sprachkenntnisse im Internet testet

Wie man seine Sprachkenntnisse im Internet testet

Das EU-Projekt DIALANG

von Dr. Wolfgang Mackiewicz

Die Sprachenpolitik der Europäischen Union
Die Europäische Union ist als vielsprachige Gesellschaft konzipiert. Alle Nationalsprachen der Mitgliedsstaaten sind gleichberechtigt. Anders als die Vereinigten Staaten von Amerika lehnt die Union die Vorstellung einer lingua franca ab und hat stattdessen die Förderung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt zum Programm erhoben. Für die europäische Integration bedeutet diese Politik eine gewaltige Herausforderung – eine Herausforderung, die mit jeder Aufnahme neuer Staaten gewachsen ist und die mit der bevorstehenden Osterweiterung eine neue Dimension gewinnt. Wie können wirtschaftliche Zusammenarbeit, gesellschaftlicher und politischer Austausch trotz der bestehenden sprachlichen und kulturellen Barrieren bewerkstelligt werden? Wie können die Menschen in der EU trotz der Sprachenvielfalt von der im Unionsvertrag verbrieften Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen und aus ihr persönlichen Nutzen ziehen?

Die Union begegnet dieser Herausforderung mit einer doppelten Strategie. Zum einen wird die gesamte Gesetzgebung – der acquis communautaire – in alle Gemeinschaftssprachen übersetzt, wird im Ministerrat und im Parlament aus jeder Sprache in jede andere gedolmetscht, hat jede Bürgerin und jeder Bürger der EU das Recht, an die Europäischen Institutionen in einer der elf Amtssprachen zu schreiben und eine Antwort in derselben Sprache zu verlangen.

Zum anderen fördert die Union seit langem durch konkrete Maßnahmen das Sprachenlernen, wobei das Lernen der weniger weit verbreiteten Sprachen Priorität genießt. Seit 1995 besteht die Forderung, dass jede Bürgerin, jeder Bürger mindestens drei Gemeinschaftssprachen beherrschen soll. Die individuelle Mehrsprachigkeit ist ein wesentliches Merkmal des im Maastrichter Vertrag begründeten EU-Bürgertums. All dies erklärt, warum sich die EU der Initiative des Europarats angeschlossen und das Jahr 2001 zum Europäischen Jahr der Sprachen erklärt hat.

Die Förderung des Sprachlernens
Bei der Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit setzt die Union nicht nur auf Maßnahmen im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung. Sprachen gelten in der Schule oft als schwere Fächer und werden abgewählt. Andererseits bringt es die verstärkte europäische Integration mit sich, dass Sprachen immer mehr außerhalb von Bildungseinrichtungen gelernt werden. Die so erworbenen Kenntnisse werden nur selten formell bescheinigt, sie können in der Regel von den Lernenden selbst nicht adäquat eingeschätzt werden. Dabei ist es mit Blick auf die von der Union gewollte transnationale Mobilität wünschenswert, dass die Bürgerinnen und Bürger problemlos verlässliche Informationen über ihre Sprachkenntnisse erhalten können.

Grundprinzipien und Aufbau des DIALANG-Systems
Dies ist der Hintergrund eines großen, von der Europäischen Union seit Ende 1996 im Rahmen des SOKRATES-Programms (Lingua 2) geförderten Projekts zur Entwicklung von computergestützten Sprachtests für 14 europäische Sprachen im Internet. Bei den 14 Sprachen handelt es sich um die elf offiziellen EU-Sprachen sowie Irisch, Isländisch und Norwegisch. Derzeit existiert das System in Form eines Prototyps auf CD-ROM. Im Laufe des Jahres 2001 wird eine erste Version mit fünf Sprachen ins Internet gestellt. Eine zweite Version mit allen 14 Sprachen wird im Frühjahr 2002 verfügbar sein. Ziel des Systems ist es, allen Bürgerinnen und Bürgern mit Zugang zum Internet die Möglichkeit zu geben, verlässliche Informationen über Ihre Kenntnisse anderer EU-Sprachen zu erhalten. DIALANG ist ein kostenlos bereitgestelltes, diagnostisches Testinstrument, das seinen Nutzern ausführliche Rückmeldungen über ihre Testergebnisse und ihren Kenntnisstand gibt, jedoch keine Zertifikate ausstellt. Getestet werden einzelne Fertigkeiten – Leseverstehen, Hörverstehen, Schreiben, Grammatikstrukturen und Wortschatz, nicht Globalkenntnisse.

In der Internet-Version gelangt man zu dem eigentlichen Test über die sogenannte Client Website, die allgemeine Hinweise zum DIALANG-System und seiner Funktionsweise sowie Links zu Sprachlernmaterialien und entsprechenden Portalen enthält. Der Nutzer kann wählen, in welcher der 14 System-Sprachen er diese Informationen erhalten möchte. Beim Eintritt in den eigentlichen Test ist zu entscheiden, in welcher der 14 Sprachen Arbeitsanweisungen und Rückmeldungen gegeben werden sollen; danach erfolgt die Wahl der Sprache und der Fertigkeit, die getestet werden sollen. Das DIALANG-System ist durchgehend als multilinguales Instrument konzipiert.

Bevor der Nutzer mit den Testaufgaben, den sogenannten Test Items, konfrontiert wird, wird ihm ein Selbsteinschätzungstest in Form von über 30 beliebig angeordneten ICH KANN-Aussagen angeboten, die mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten sind. Beim Leseverstehen finden sich Aussagen wie:

  • Ich kann ein breites Spektrum langer und komplexer Texte verstehen und dabei Feinheiten bezüglich Stil und Bedeutung, welche implizit oder explizit ausgedrückt sind, vollständig erfassen.
  • Ich kann bekannte Namen, Wörter und sehr einfache Redewendungen in einfachen Mitteilungen in den häufigsten Alltagssituationen erkennen.

Beim Hörverstehen werden Aussagen angeboten wie:

  • Ich kann einfache Angelegenheiten in Geschäften, Postämtern oder Banken erledigen.
  • Ich kann längeren Redebeiträgen folgen, selbst wenn diese nicht klar strukturiert sind und die gedanklichen Verknüpfungen nur angedeutet und nicht explizit benannt werden.

Die Selbsteinschätzungstests sind ein entscheidender Bestandteil des DIALANG-Systems. Das Lernen anderer Sprachen wird heute mehr denn je als Angelegenheit der Lernenden selbst begriffen. Die Menschen in Europa werden künftig ihr Leben lang Sprachen lernen müssen; hierfür ist es erforderlich, dass sie ihre Kenntnisse und Lernbedürfnisse selbst einschätzen können.

Die ICH KANN-Aussagen der Selbsteinschätzungstests sind grundverschieden von Beurteilungen, die in traditionellen Sprachprüfungen erteilt werden. Sie beziehen sich auf reale Sprachverwendungssituationen; sie betonen, was der Lerner kann und nicht, was er nicht kann. Hierin kommt eines der Hauptanliegen des Systems zum Ausdruck: Es will Mut machen zum Sprachenlernen.

Die Selbsteinschätzungstests basieren auf den sechs Niveaustufen des Gemeinsamen Bezugsrahmens des Europarats, die die Bandbreite vom Anfängerniveau bis zum Kenntnisstand eines gebildeten Muttersprachlers abdecken. Diesen Niveaustufen sind auch die Aufgaben der objektiven Tests und die Rückmeldungen über die Testergebnisse zugeordnet.


Foto: Ausserhofer

Die Version 2 des Systems ist voll adaptiv – ein entscheidender Vorzug von computergestützten Tests: Das System nimmt aufgrund des Ergebnisses des Selbsteinschätzungstests eine Einstufung des Lerners entsprechend den sechs Niveaustufen vor und bietet ihm eine seiner Stufe entsprechende Testaufgabe an. Löst der Lerner die Aufgabe richtig, wählt das System als nächstes eine Aufgabe der darüber liegenden Niveaustufe aus, gibt er eine falsche Antwort, bietet es als nächstes eine Aufgabe der nächst niedrigeren Niveaustufe an. Im übrigen kann der Nutzer selbst entscheiden, ob er nach jeder Testaufgabe sofort eine Rückmeldung erhalten möchte.

Die ausführlichen, unmittelbar nach Durcharbeiten eines Tests – Sprache X, Fertigkeit Y – abrufbaren Rückmeldungen sind eine weitere, durch die Verwendung des Internets ermöglichte Besonderheit des DIALANG-Systems. Der Nutzer bekommt sofort mitgeteilt, welcher Niveaustufe seine Kenntnisse entsprechen und welche sprachlichen Situationen er mit seinen Kenntnissen bewältigen kann. Auf Wunsch wird ihm erläutert, welche Anwendungssituationen er auf der nächst höheren Niveaustufe bewältigen könnte und es gibt Ratschläge zum weiteren Lernen. Vor allem aber nimmt das System einen Vergleich zwischen dem Ergebnis des Selbsteinschätzungstests und dem des eigentlichen Tests vor.

Entwicklungarbeiten im Projekt
Die Entwicklung des hier in groben Zügen dargestellten DIALANG-Systems ist eine hochkomplexe Angelegenheit. In der ersten dreijährigen Projektphase, die im November 1999 abgeschlossen wurde, wurden zunächst die Grundlagen dafür geschaffen, dass die Tests für die 14 Sprachen nach weitgehend identischen Kriterien entwickelt werden konnten. Auf der Grundlage des Bezugsrahmens des Europarats wurde ein eigener DIALANG-Bezugsrahmen erstellt; darüber hinaus wurden allgemeine und sprachenspezifische Beschreibungen von Testaufgaben verfasst, die den Testentwicklungsteams in 16 europäischen Staaten als Leitfaden dienten. Die Freie Universität Berlin war in dieser Phase für die Entwicklung der deutschen Testaufgaben zum Leseverstehen zuständig. Die Selbsteinschätzungstests, Arbeitsanweisungen und Rückmeldungen mussten nicht nur entwickelt, sondern außerdem in 13 weitere Sprachen übersetzt werden – eine Aufgabe, die wiederum Experten in zahlreichen europäischen Ländern übertragen wurde und die zum Teil noch andauert.

Auf der Seite der Software wurde unter Verwendung der Programmiersprache Java an der Universität Lancaster (UK) ein komplexes System für die Eingabe, Überprüfung, Revision, Erprobung und Ausgabe der Testaufgaben entwickelt, dazu ein Werkzeug für die Eingabe und automatische Zuordnung von Übersetzungen. Wesentliche Teile der Softwareentwicklung sind Gegenstand der 2. Projektphase, die bis November 2002 läuft und von der Freien Universität Berlin koordiniert wird.

Die Frage der Qualität
Wie alle in einem gewissen Grade objektiven Tests kann DIALANG die Sprachkenntnisse größtenteils nur indirekt testen. Es ist in diesem Rahmen unmöglich, direkt festzustellen, ob ein Lerner lange und komplexe Texte vollständig erfassen kann. Hinzu kommt, dass bei computergestützten, über Internet angebotenen Tests die Zahl der möglichen Typen von Testaufgaben noch recht beschränkt ist. Auch DIALANG arbeitet vornehmlich mit verschiedenen Formen von Auswahlantworten, mit Lückenfüllaufgaben und kurzen freien Antworten. Trotz der umfassenden Anleitungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle produzierten Testaufgaben den Kriterien, die an objektive Tests angelegt werden, genügen und in das System passen. Um dies zu erreichen, sind neben verschiedenen Verfahren der Qualitätskontrolle und Qualitätsverbesserung vor allem drei Schritte erforderlich: Die Testaufgaben müssen in einer großangelegten Aktion an möglichst vielen Orten in Europa von möglichst unterschiedlichen Typen von Lernern mit unterschiedlichem Sprachstand – es wird von einer Mindestzahl von 1200 pro Sprache ausgegangen – erprobt werden. Danach werden die durch die Erprobung gewonnenen Daten analysiert, um den Zuverlässigkeits- und Schwierigkeitsgrad der einzelnen Items zu ermitteln und festzustellen, inwieweit die einzelnen Items zwischen Lernern mit unterschiedlichem Kenntnisstand diskriminieren. Items, die die üblichen Kriterien für formelle Tests nicht erfüllen, werden ausgeschieden. In einem weiteren Verfahren werden die für gut befundenen Items den Niveaustufen des DIALANG-Bezugsrahmens, die auf den Niveaustufen des Europarats basieren, zugeordnet. Die beschriebenen Entwicklungsarbeiten werden von der Universität Jyväskylä (FI), CITOgroep (NL) und der Universität Lancaster (UK) koordiniert beziehungsweise ausgeführt.

Besonders die Erprobung der Items hat sich als schwieriges Unterfangen erwiesen. Für die damit befassten Institutionen ist sie mit einem gewissen technischen und zeitlichen Aufwand verbunden. Für Testprobanden mit geringen Sprachkenntnissen kann die Teilnahme zu einem frustrierenden Erlebnis werden, wenn sie mit einer größeren Zahl von Aufgaben nicht zurecht kommen, weil diese für sie zu schwer sind. Positive Reaktionen aus Universitäten zeigen, dass die Zukunft des Systems gerade im institutionellen Kontext liegt, wo es zum Beispiel als Einstufungstest oder für die Orientierung von Studierenden in Sprachlehrveranstaltungen unterschiedlicher Niveaustufen eingesetzt werden kann.


Foto: Ausserhofer

Die Bedeutung des DIALANG-Systems für die Förderung des Sprachlernens in Europa
Zwei komplementäre Entwicklungen weisen DIALANG eine zentrale Rolle bei der europaweiten Förderung des Sprachenlernens zu: Die Einführung des Europäischen Sprachenportfolios des Europarats und der Trend zur Entwicklung und Bereitstellung von Angeboten für kursunabhängiges Sprachenlernen. Das Portfolio will unter anderem Europäerinnen und Europäer dazu anhalten, ihre Kenntnisse verschiedener Sprachen fertigkeitsspezifisch entsprechend den Niveaustufen des Europarats einzuschätzen und festzuhalten. Es ist davon auszugehen, dass eine Vielzahl von Staaten, Regionen und Institutionen das Portfolio einführen werden. Dies wird zwangsläufig dazu führen, dass kommerzielle Lehr-/ Lernmaterialien, öffentliche und private Sprachlernangebote und Zertifikatssysteme sich an den Niveaustufen des Europarats orientieren. DIALANG kann hierbei eine zentrale Rolle übernehmen, indem es die Selbsteinschätzung der Lerner unterstützt und ihnen die Auswahl unter Kursangeboten und Zertifikaten erleichtert. Eine gemeinsam von zwei europäischen Hochschulverbänden entwickelte Version des Sprachenportfolios enthält deshalb Seiten für die Eintragung von DIALANG-Testergebnissen.

In Hochschuleinrichtungen, die wie die Zentraleinrichtung Sprachlabor der Freien Universität Angebote für kursunabhägiges Sprachenlernen entwickeln und bereitstellen, kann DIALANG für den Lerner zum Portal und Begleiter werden. Auch diese Angebote werden zweckmäßigerweise nach den Niveaustufen des Europarats aufgebaut. Lerner mit Vorkenntnissen werden durch DIALANG an Lernmaterialien verwiesen, die ihrem Kenntnisstand entsprechen, und sie können später zu DIALANG zurückkehren, um ihren Lernfortschritt zu überprüfen. Lerner – und Unterrichtende – haben häufig unklare Vorstellungen von den Lernzielen. Die ICH KANN-Aussagen und die Rückmeldungen des DIALANG-Systems ermöglichen eine differenzierte, auf tatsächliche Sprachverwendung bezogene Bestimmung institutioneller und individueller Lernziele – eine wichtige Voraussetzung für der Erwerb von Kenntnissen, wie sie für das Funktionieren einer europäischen Zivilgesellschaft unerlässlich sind.


Foto: Ausserhofer

Ein Blick in die Zukunft
Die zweite Projektphase wird mit Sicherheit nicht das Ende der Geschichte sein. Zum einen sind die Hauptprojektpartner derzeit dabei, die Vorraussetzungen für die Funktions- und Lebensfähigkeit des Systems über das Ende der EU-Förderung hinaus zu sichern. Ein Zusammengehen mit Partnern aus der Wirtschaft zeichnet sich ab. Von der Freien Universität aus wird die Vermarktung des Systems koordiniert. Zum anderen aber geht es um die Weiterentwicklung des Systems. Die Zahl der im System befindlichen Items muss vergrößert werden. Weitere innovative Typen von Testaufgaben, die zum Teil bereits entwickelt sind, müssen in das System eingefügt werden. Die größte Herausforderung besteht in der Ergänzung des derzeitigen Systems durch Tests für Sprechfertigkeit.

Der überarbeitete Prototyp wurde bei der Eröffnung des Europäischen Jahrs der Sprachen 2001 im Februar in Lund erstmals einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt. Anfragen und Gespräche während und in der Folge der Veranstaltung haben gezeigt, dass Regierungen und Bildungseinrichtungen an dem System interessiert sind. Besonders erfreulich war die positive Reaktion von Vertretern aus Mittel- und Osteuropa. Sicher wird es noch längere Zeit dauern, bis auch Tests für mittel- und osteuropäische Sprachen als Teil des DIALANG-Systems angeboten werden können – die Entwicklungskosten sind hoch. Wesentlich leichter und relativ preiswert ist die Übersetzung der Arbeitshinweise, Selbsteinschätzungstests und Rückmeldungen in diese Sprachen und deren Integration in das System zu bewerkstelligen. Aus politischer Sicht hat diese Entwicklungsaufgabe hohe Priorität, da hierdurch eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen wird, dass die Menschen in den neuen Mitgliedsstaaten die Herausforderung des Lebens und Arbeitens in einer vielsprachigen Gesellschaft erkennen und aufgreifen können.

 

Hinweis:

Der DIALANG-Protyp kann während der Berliner Konferenz zum Europäischen Jahr der Sprachen, die vom 28. bis 30. Juni an der Freien Universität stattfindet, besichtigt und ausprobiert werden.
Informationen zur Konferenz finden Sie unter: www.sprachlabor.fu-berlin.de/eyl2001conf
Weitere Informationen sind der DIALANG-Projektwebsite zu entnehmen: www.dialang.org