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Wie ein Lauffeuer

Gerüchte kennt jeder – sei es aus Gesprächen mit Freunden, dem berühmten Flurfunk oder den Medien, manchmal können sie auch den Lauf der Geschichte beeinflussen.

13.10.2016

Die Wahrheit lässt das Gerücht verpuffen: Den Weg des Gerüchts hat der britische Künstler Thomas Derrick (1885-1954) in seiner Illustration „The Rumour“ skizziert.

Die Wahrheit lässt das Gerücht verpuffen: Den Weg des Gerüchts hat der britische Künstler Thomas Derrick (1885-1954) in seiner Illustration „The Rumour“ skizziert.
Bildquelle: wikimedia commons, Thomas Derrick

Am Morgen des 9. November 1989 geistert ein Gerücht durch die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik. In Ost-Berlin feile man an einer neuen Reiseregelung, heißt es. Angeblich steht eine wichtige Entscheidung bevor. Was das genau bedeutet, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand. Aber dass etwas passieren wird, ahnen auch die Journalisten, die sich gegen 18 Uhr im Saal des Pressezentrums in der Ost-Berliner Mohrenstraße einfinden. Sie warten darauf, dass sich Günter Schabowski zur Reiseverordnung äußert. Doch das, was dann passiert, hat niemand erwartet: Der nervös wirkende SED-Medienbeauftragte bestätigt nicht nur das Gerücht, er beschleunigt es noch: Die neue Reiseregelung trete, so viel er wisse, in Kraft, und zwar „sofort, unverzüglich“.

Was folgt, gleicht einem Lauffeuer: Nachrichtenagenturen, Fernsehen und Radio verkünden auf beiden Seiten der Mauer: „Ausreise über alle DDR-Grenzübergänge ab sofort möglich“. Kurz darauf versammeln sich Menschen an Grenzübergängen in Ost- und West-Berlin, um zu sehen, ob die Meldung wirklich stimmt. Richtig glauben kann es zunächst niemand. Erst, als Stasi-Offiziere mit dem Satz „Wir fluten jetzt!“ den ersten Grenzübergang an der Bornholmer Straße öffnen, begreifen viele Menschen, dass sie gerade einen historischen Moment erleben. Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie ein Gerücht Geschichte machen kann. Günter Schabowskis Bekanntmachung war zugleich der Höhepunkt und das Ende dieses Gerüchts.

Gerücht ist nicht gleich Klatsch

„Ein Gerücht ist eine unbestätigte, unsichere oder unbestimmte Nachricht, die wahr oder falsch sein kann“, sagt Professor Jürgen Brokoff. Der Literaturwissenschaftler vom Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin hat sich intensiv mit Gerüchtekommunikation befasst. „Wird ein Gerücht bestätigt, wandelt es sich zur Nachricht; stellt es sich nachweislich als falsch heraus, ist es eine Falschmeldung.

Ob das Gerücht wahr oder falsch ist, ist für die Verbreitung des Gerüchts jedoch zunächst unerheblich.“ Typisch für ein Gerücht sei außerdem, dass es von allgemeinem öffentlichen Interesse ist. Damit unterscheide es sich auch vom Klatsch, der immer das Privatleben einer Person zum Thema habe. „Gerüchte können gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Konsequenzen haben“, erklärt Jürgen Brokoff. Rücktritte, Umstürze, Börseneinbrüche – all das könnten Gerüchte beschleunigen, begünstigen oder sogar auslösen.

Der Urheber eines Gerüchts lässt sich in den meisten Fällen nicht mehr ermitteln. In der Politik spricht man gerne von den „gut unterrichteten Kreisen“, die eine Information weitergegeben haben sollen. Die ungeklärte Urheberschaft machen sich manche Menschen auch zunutze, indem sie gezielt Gerüchte streuen. So tauchten im vergangenen Jahr in Deutschland immer wieder Gerüchte im Zusammenhang mit Flüchtlingen auf. Von geschächteten Ziegen, Diebstählen, die aus Political Correctness nicht verfolgt würden, und von Vergewaltigungen war die Rede. Diese Behauptungen waren laut ARD-Magazin Panorama allesamt frei erfunden. Dennoch verbreiteten sie sich über die sozialen Medien mit hoher Geschwindigkeit.

Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees der SED, informierte am 9. November 1989 Pressevertreter aus dem In- und Ausland über die neue Reisefreiheit – und bestätigte damit ein Gerücht, das sich schon im Laufe des T

Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees der SED, informierte am 9. November 1989 Pressevertreter aus dem In- und Ausland über die neue Reisefreiheit – und bestätigte damit ein Gerücht, das sich schon im Laufe des T
Bildquelle: Thomas Lehmann-Bundesarchiv

„Gerüchte lassen sich nicht kontrollieren“, sagt Jürgen Brokoff. Die Kommunikationswissenschaft vergleicht die Entwicklung von Gerüchten daher unter anderem mit einer epidemischen Ausbreitung: „Es findet eine Ansteckung im übertragenen, kommunikativ- symbolischen Sinn statt“, sagt der Wissenschaftler. „Das Gerücht lässt sich nur mühsam eindämmen, weil so viele Menschen an seiner Weitergabe beteiligt sind.“ Besonders in den sozialen Medien, allen voran Twitter, wird es zunehmend schwierig, Gerüchte als solche zu entlarven und Falschaussagen zu verhindern.

Social-Media-Strategien entwickeln

Die interaktive Landkarte hoaxmap.org ist ein Versuch, den vielen Gerüchten über Flüchtlinge etwas entgegenzusetzen. Bisher wurden in der Karte mehr als 400 Vorfälle verzeichnet, die sich nachweislich als falsch herausgestellt haben. Zum Beweis verlinken die Administratoren glaubhafte Quellen wie Zeitungsmeldungen, offizielle Angaben von Stadt- oder Gemeindeverwaltungen sowie Stellungnahmen von Politikern. Eine gute Strategie, wie eine im Frühjahr 2016 veröffentlichte Studie der University of Washington zeigt.

Wissenschaftler der Universität hatten untersucht, welchen Einfluss offizielle Twitter-Accounts auf die Verbreitung von Gerüchten nehmen. Das Ergebnis: Dementi und Richtigstellungen offizieller Akteure wie Nachrichtenagenturen, Hilfsorganisationen oder von den Gerüchten betroffene Einrichtungen haben großes Gewicht und können mit eigenen Tweets Gerüchte eindämmen oder gar stoppen. Eine entsprechende Social-Media- Strategie sei, so das Fazit der Studie, für Unternehmen und offizielle Stellen wichtig, damit sie schnell reagieren könnten, falls ein Online-Gerücht über sie verbreitet werde. Doch auch wenn sie dementiert oder widerlegt werden, können sich Gerüchte hartnäckig halten.

Während des Ersten Weltkriegs kam etwa das Gerücht auf, jüdische Männer hätten sich vor dem Dienst an der Front gedrückt. „Dieses antisemitisch motivierte Gerücht wurde böswillig verbreitet“, sagt Brokoff. „Obwohl es später statistisch widerlegt werden konnte, hielt sich das Gerücht und wandelte sich sogar zum Stereotyp.“ In Krisen- und Kriegszeiten spielten Gerüchte eine besondere Rolle, sagt Jürgen Brokoff. Also immer dann, wenn man nicht genau wisse, was vor sich geht, und es schwer sei, eine Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. „Die Menschen sind verunsichert und klammern sich an die wenigen Informationen, die sie bekommen können, auch wenn es sich möglicherweise um Halbwahrheiten oder Falschmeldungen handelt.“

Während Gerüchte heute vor allem über das Internet verbreitet werden, gab es zu früheren Zeiten typische Treffpunkte, an denen man sich austauschte. Der Begriff „Klatsch“ hat etwa seinen Ursprung im „Klatschen“ der Wäsche: Am Waschplatz tauschten sich zu früheren Zeiten die Frauen über Neuigkeiten aus. Für Soldaten im Ersten Weltkrieg waren dagegen etwa Feldküchen und Latrinen typische Umschlagsorte von Gerüchten, welche deshalb auch „Latrinenparolen“ genannt wurden: An jenen Orten trafen sich Männer aller Mannschaftsgrade und tauschten Informationen aus, die sie auf offiziellem Wege nicht bekommen konnten. Aufgrund seiner Schnelllebigkeit ist das Gerücht Jürgen Brokoff zufolge eine „eher literaturferne Kommunikationsform, die kaum zwischen zwei Buchdeckel passt“.

Gerüchte in der Literatur

Dennoch spielten Gerüchte in der Literatur als Thema immer wieder eine Rolle. „In der Literaturgeschichte finden wir verschiedene Figurationen und Vorstellungen von Gerüchten.“ So beschreibt der römische Dichter Ovid in seinen Metamorphosen das Haus der Fama, der römischen Gottheit des Ruhmes und des Gerüchts, als einen Ort des Hörensagens. Der Raum sei stets gefüllt mit „raunendem Gemurmel“. Manche Menschen, die sich dort aufhielten, würden dem Gerede zuhören, heißt es bei Ovid, andere trügen es weiter und reicherten es dabei mit eigenen Erzählungen an, sodass das Gerücht beständig wachse.

In Vergils Aeneis ist Fama ein monströses Ungetüm, „ein Übel, das nie von andern im Laufe besiegt ward, sich der Beweglichkeit freut und an Kraft zunimmt, wie es forteilt“. Es hat mehrere Zungen, Mäuler und Ohren, um zu sprechen und zu horchen. „Das zeigt, wie unförmig das Gerücht ist, und wie schwierig, es in eine feste Form zu bringen“, sagt Jürgen Brokoff. „Das Gerücht privilegiert das genaue Gegenteil von Form, nämlich Formlosigkeit, Delinearität, wenn man so will Monstrosität.“ Damit bildet das Gerücht gewissermaßen eine Gegenform zur Literatur, die sich gerade durch ihre Formhaftigkeit auszeichnet. Was Jürgen Brokoff noch vermisst, ist eine Ethik des Gerüchts: Niemand ist gern Gegenstand eines Gerüchts.

Gerüchte haben eine verbindende Funktion

Doch wie kann man die Verbreitung von Gerüchten verhindern? Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: „Man sollte sich etwa fragen: Ist es wirklich notwendig, dass ich diese Darstellung weiterverbreite? Wie wäre es, wenn das Gesagte mich selbst beträfe?“ Nichtwissen will Brokoff als Entschuldigung nicht gelten lassen. „Sobald ich merke, dass eine Nachricht nicht gesichert ist, könnte ich darauf verzichten, sie weiterzuverbreiten.“ Indikatoren dafür fänden sich schon in der Sprache: „Bei Redewendungen wie Die Leute sagen, dass…, Ich habe gehört, dass… oder Man sagt, dass… ist Vorsicht geboten! Gerüchte stehen häufig in der indirekten Rede. Sie sind Kommunikation, die sich auf Kommunikation bezieht.“

Auch wenn Gerüchte meist kritisch zu sehen sind, haben sie eine gesellschaftliche, verbindende Funktion. Dem französischen Gerüchteforscher Jean-Noël Kapferer von der Pariser École des hautes études commerciales zufolge entstehen Gerüchte aus dem Bedürfnis heraus, Verstöße gegen Regeln und Traditionen aufzudecken und damit die Ordnung innerhalb einer Gesellschaft zu erhalten. Für Kapferer ist das Gerücht das „älteste Massenmedium der Welt“. Grundsätzlich richtig, findet Jürgen Brokoff, denn auch in früheren Gesellschaften, die noch keine Medien im technischen Sinne kannten, wurden Informationen sehr schnell weitergegeben. „Das Gerücht ist nicht nur metaphorisch die Stimme des Volkes“, sagt Jürgen Brokoff. „Die Bevölkerung kann durch die Verbreitung eines Gerüchts die Machthaber in Schwierigkeiten bringen, Druck ausüben und mitunter sogar der Demokratie auf die Sprünge helfen.“

 

Der Wissenschaftler

Aufgrund seiner Schnelllebigkeit ist das Gerücht Jürgen Brokoff zufolge eine „eher literaturferne Kommunikationsform, die kaum zwischen zwei Buchdeckel passt“.

Aufgrund seiner Schnelllebigkeit ist das Gerücht Jürgen Brokoff zufolge eine „eher literaturferne Kommunikationsform, die kaum zwischen zwei Buchdeckel passt“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Prof. Dr. Jürgen Brokoff

Jürgen Brokoff ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit der Literaturgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, wozu auch die Gerüchtekommunikation gehört. Er ist Mitherausgeber des 2008 erschienenen Sammelbandes „Die Kommunikation der Gerüchte“. Außerdem forscht Jürgen Brokoff zu folgenden Themenfeldern: Ernst Jünger und die Deutung des Ersten Weltkrieges; Krieg und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert, Popularästhetik und Geschmacksbildung im 19. Jahrhundert; Gegenwartsliteratur. Im Dezember 2016 erscheint im Wallstein Verlag eine Monografie zum Thema „Literatur und öffentliche Meinung. Botho Strauß, Peter Handke, Martin Walser“.

Kontakt

Freie Universität Berlin
Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
Arbeitsbereich Neuere deutsche Literatur
E-Mail: juergen.brokoff@fu-berlin.de