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Der Zugang zur Festung

Jedes Jahr versuchen tausende Menschen die Flucht nach Europa. Das stellt die europäische Asylpolitik vor große Probleme und neue Fragen

11.06.2015

Sie haben den Krieg überlebt, Familie und Freunde verloren und auf dem Weg nach Europa ihr Leben riskiert. Einmal angekommen, müssen Flüchtlinge oft die bittere Erfahrung machen, dass sie hier nicht willkommen sind. Der Umgang mit Menschen auf der Flucht stellt die Europäische Union vor eine Vielzahl rechtlicher, politischer und ethischer Probleme.

Der Umgang mit Flüchtlingen stellt die Staaten Europas vor große Herausforderungen

Der Umgang mit Flüchtlingen stellt die Staaten Europas vor große Herausforderungen

Der Weg in die Sicherheit ist nicht selten lebensgefährlich: Allein 2014 ertranken mehr als 3.000 Menschen bei dem Versuch, von Nordafrika aus per Boot über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Doch Europa nimmt die, denen die gefährliche Flucht geglückt ist, nur selten herzlich auf. In den Berliner Stadtteilen Hellersdorf, Lichtenberg und Köpenick demonstrierten Anwohner und Rechtsextreme in den vergangenen Monaten gegen Flüchtlingsheime in ihrer Nachbarschaft. In Dresden marschierten Pegida-Anhänger durch die Straßen, machten Stimmung gegen Menschen muslimischen Glaubens. Statistisch gesehen, finden in Deutschland pro Woche fünf solcher Demonstrationen gegen Flüchtlinge statt, berichtet die Organisation Pro Asyl. Erst vertrieben, dann unerwünscht – für die Flüchtlinge ist es ein Albtraum, der nicht aufhört.

In Wirklichkeit sind die rechten Protestler jedoch in der Minderheit. Immer mehr Bürger kommen zusammen, um zu helfen. In Berlin und anderswo sammeln sie Spenden, veranstalten Nachmittage für Kinder, nehmen Flüchtlinge mit in ihre Familien.

Über das private Engagement hinaus ist die Asylpolitik in Deutschland und Europa auch Gegenstand von Forschungsprojekten an der Freien Universität Berlin. Die französische Sozialwissenschaftlerin Marie Walter beschäftigte sich schon während ihres Politik- und Jurastudiums an der französischen Elite-Hochschule Sciences Po und der britischen London School of Economics mit dem Thema. Seit Oktober 2014 promoviert sie im Rahmen des interdisziplinären Graduiertenkollegs „Human Rights under Pressure“ an der Freien Universität Berlin.

Die Grundlage der Asylgesetze in Europa ist die 1951 verabschiedete Genfer Flüchtlingskonvention. Flüchtling ist der Konvention nach, wer wegen seiner Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung in seiner Heimat verfolgt wird.

Die Grundlage der Asylgesetze in Europa ist die 1951 verabschiedete Genfer Flüchtlingskonvention. Flüchtling ist der Konvention nach, wer wegen seiner Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung in seiner Heimat verfolgt wird.
Bildquelle: istockphoto.com / FooTToo

In ihrer Dissertation untersucht Marie Walter, welche Auswirkungen die europäische Asylpolitik auf die Gesetzgebung der einzelnen Mitgliedsstaaten hat. Dafür durchforstet sie Gesetzestexte aus Frankreich, Deutschland, Griechenland, Polen, Schweden und Großbritannien und vergleicht, welche Zugangschancen Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt haben oder wie minderjährige Migranten unterstützt werden. Es ist ein interdisziplinäres Projekt, bei dem Walter Ansätze der Politologie und Rechtswissenschaft kombiniert. „Gerade das macht die Arbeit so spannend“, sagt sie.

Die Grundlage der Asylgesetze in Europa ist die 1951 verabschiedete Genfer Flüchtlingskonvention. Wer ein Flüchtling ist und welchen rechtlichen Schutz, aber auch welche Pflichten er in seinem Gastland hat, steht in diesem Dokument festgeschrieben. Vertreter aus 145 Staaten haben es bis heute unterzeichnet. Flüchtling ist der Konvention nach, wer wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung in seiner Heimat verfolgt wird. Die Unterzeichner sichern zu, ihm Schutz vor Diskriminierung zu gewähren, ihn seine Religion frei ausüben zu lassen und ihn nicht in andere Länder auszuweisen, in denen er verfolgt würde.

Kritker sprachen von einer Schutz-Lotterie

Wie die Genfer Vereinbarungen in die Praxis umgesetzt werden, blieb den Ländern Europas Jahrzehnte lang selbst überlassen. Mit der Zeit gestalteten sich die Standards der Mitgliedstaaten jedoch so unterschiedlich, dass Kritiker von einer „Schutz-Lotterie“ sprachen. Je nachdem, in welchem Land der Union Flüchtlinge Asyl beantragten, konnten sie Glück oder eben auch Pech haben – oder sogar wieder ausgewiesen werden. 1999 dann verständigten sich die EU-Staaten auf die Entwicklung eines einheitlichen Verfahrens – das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS). Bis 2005 traten immer mehr Regelungen und Verordnungen in Kraft, die die großen Unterschiede ausgleichen sollten.

Dieser „Ersten Phase“ folgte eine zweite, in der die Mitgliedsländer über ein einheitliches Asylrecht verhandelten. Das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ wurde dann in seiner aktuellen Fassung 2013 vom Europäischen Parlament und dem Rat verabschiedet – wobei es große Unterschiede gibt, was den Umfang der Reformen angeht, die die EU Mitgliedstaaten zur Umsetzung der GEAS-Instrumente durchführen mussten. In Ländern, die bereits viele der neuen EU-weiten Mindesstandarts erfüllten, wie beispielweise Schweden, war wenig zu ändern.

Im Gegensatz dazu waren Asylverfahren in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen lange nicht geregelt. Seit den Beitrittsverhandlungen jedoch wurde das Asylrecht angeglichen und die zuständigen Behörden gefördert. Inwiefern Asylbewerber und Flüchtlinge von den Reformen profitieren konnten, sei allerdings noch zu erforschen, sagt Marie Walter.

Gemeinsame Standards einhalten

Dass Asyl eben keine Lotterie sein darf, das stellt die EU Kommission mittlerweile selbst immer wieder klar und verweist auf das gemeinsame Asylsystem. Dennoch würden diese Standards nicht immer eingehalten, sagt Bernd Ladwig, Professor für politische Theorie und Philosophie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er forscht zu den Themen Multikulturalismus, Einwanderung und zur Verwirklichung von Menschenrechten, etwa in Krisenregionen, in denen es kaum noch geordnete staatliche Strukturen gibt.

Aber auch in modernen Nationalstaaten klaffen Theorie und Praxis beim Thema Menschenrechte oft weit auseinander. Ladwig nennt beispielsweise Italien und Griechenland, wo die Flüchtlinge ebenfalls oft nicht die Rechte bekämen, die ihnen laut EU-Normen zuständen. „Es gibt zu wenig Rechtsberatung, die Notunterkünfte sind völlig überfüllt, die Bedingungen der Abschiebehaft unwürdig“, sagt Ladwig. Auch in Deutschland hapert es gelegentlich an der Umsetzung europäischer Standards. Von den knapp 200.000 Asylbewerbern wurden 2014 nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nur 41.000 tatsächlich Schutz gewährt. Alle anderen Asylbewerber werden abgelehnt oder nur geduldet und sind stets von Abschiebung bedroht – ein Schwebezustand, den Kritiker bemängeln.

Eine weitere Folge: Wer von Abschiebung bedroht ist, hat kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. „Viele Flüchtlinge sind hoch qualifiziert, gerade aus Syrien“, sagt Marie Walter. „Aber für sie ist es überall in Europa schwer, einen Job zu bekommen – auch nach mehreren Monaten Wartezeit.“ Ohne ein begrenztes Bleiberecht für die Flüchtlinge hätten Arbeitgeber zu wenig Planungssicherheit, klagte kürzlich zum Beispiel Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dabei sei in Deutschland das Interesse an qualifizierten Mitarbeitern in Betrieben wegen des drohenden Fachkräftemangels groß. Schon heute könnten Lehrstellen nicht mehr besetzt werden. „Die Menschen aus der Arbeitswelt auszuschließen, verhindert Integration, und es ist wirtschaftlich unsinnig“, sagt Walter.

Wie aber soll Europa reagieren, wenn der Flüchtlingsstrom nicht abreisst? Auf diese Frage antwortet Bernd Ladwig mit zwei großen Philosophen. John Locke und Immanuel Kant argumentierten, dass die Erde ursprünglich allen Menschen gemeinsam gehört habe. Daraus kann man schließen, dass staatliche Grenzziehungen grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig seien. Und rechtfertigen müsse sich nicht derjenige, der wandert. Vielmehr müssten die Staaten begründen, warum sie Wanderungswillige ablehnen.

Fragen zu Recht und Gerechtigkeit

Zur „Debatte um das moralische Recht auf Einwanderung“ forscht der Politologe Jan Brezger, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität tätig ist. „Wenn Bewegungsfreiheit innerhalb von Staaten durch das Menschenrecht gesichert ist, müssten grundsätzlich auch die selben Rechte für die internationale Personenfreizügigkeit gelten“, sagt er. Was dafür und was dagegen spricht, möchte er in seiner Dissertation untersuchen. Doch auch ganz konkret könne Europa noch viel mehr Flüchtlinge aufnehmen – wenn die Lasten gerechter verteilt würden.

„Überlastet sind vor allem die Länder an EU-Außengrenzen wie Italien oder Griechenland“, sagt Brezger. Grund ist die sogenannte Dublin- III-Verordnung. Sie legt fest, dass ein Flüchtling in dem Land Asyl stellen muss, über das er in die EU eingereist ist. Brezger hält dieses Prinzip für falsch: „Man müsste über eine Quote nachdenken“, sagt er. Die aktuelle Flüchtlingskrise habe aber mittlerweile dazu geführt, dass die Europäische Kommission konkrete Pläne zu einer Quote vorgelegt hat. Außerdem müsse man den Flüchtlingen das Recht zusprechen, sich frei zu bewegen und Zugang zu lebensnotwendigen Gütern zu erhalten.

„Die EU sollte hier hohe Maßstäbe setzen“, so Brezger. Die rechtspopulistischen Parteien in Europa sehen das ganz anders. Kriegsflüchtlinge sollten dort bleiben, „wo man ihre Sprache spricht“, sagte der AfD-Europaabgeordnete Bernd Lucke vergangenes Jahr – und bekam dafür kräftigen Applaus von seinen Anhängern. Die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen, die einst erklärte, Flüchtlinge noch auf dem Mittelmeer nach Nordafrika zurückschicken zu wollen, liegt mit ihrer Partei laut Wahlumfragen zwischenzeitlich bei 26 Prozent.

Der Reichtum einer Kultur hängt von ihrer Offenheit ab

Bernd Ladwig kann sich da nur mehr Gelassenheit unter den Europäern wünschen. Der Schutz der Menschenrechte müsse einen besonderen Stellenwert einnehmen, selbst wenn das die nationalen Haushalte belaste. „Der Reichtum einer Kultur hängt von ihrer Offenheit ab“, sagt er. Statt sich abzuschotten, müsse Europa seine Außenpolitik ändern. „Was sich ändern muss, sind die Bedingungen in den Heimatländern der Flüchtlinge, für die wir mitverantwortlich sind.“ Subventionen für die EU-Landwirtschaft trügen zur wirtschaftlich verheerenden Lage in vielen Herkunftsländern bei, Waffenexporte befeuerten Konflikte und Bürgerkriege. Hier müsse Europa sich korrigieren, damit Menschen gar nicht erst fliehen müssten. Gegen die Parolen der Rechtspopulisten wünscht sich Marie Walter politische Aufklärung und Fakten: „Die Türkei beispielsweise hat in den vergangenen Jahren viel mehr Flüchtlinge aufgenommen als Deutschland – und das Land existiert immer noch“, sagt sie. „Angesichts der Fluchtgeschichten vieler Asylbewerber, sind unsere alltäglichen Sorgen doch lächerlich.“

Die Experten

Marie Walter
Marie Walter studierte Politikwissenschaft und Jura an der Sciences Po Paris, der Universität Heidelberg und der London School of Economics, mit Schwerpunkt EU Integration im Bereich Migration und Asyl. Anschließend arbeitete sie am International Institute for Labour Studies und für die EU Kommission. Seit 2014 ist sie Promotionsstipendiatin am Graduiertenkolleg “ Human Rights under Pressure – Ethics, Law, and Politics”. Diese Kooperation der Freien Universität Berlin mit der Hebrew University of Jerusalem wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Einstein-Stiftung Berlin gefördert.
Kontakt
Freie Universität Berlin
Human Rights Under Pressure – Ethics, Law and Politics
marie.walter@hr-up.net


Prof. Dr. Bernd Ladwig

Bernd Ladwig ist Professor für politische Theorie und Philosophie am Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie des Otto-Suhr-Instituts. Nach seinem Studium an der Freien Universität Berlin promovierte er mit einer Arbeit zum
Gleichheitsverständnis des ethischen Liberalismus. Danach arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin und in Magdeburg, bevor er an die Freie Universität wechselte. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Fragen der Menschenrechte, Menschenwürde und Gerechtigkeit im Rahmen einer normativen politischen Theorie.  Aktuell arbeitet er an einer Monographie zu Tierrechten.

Kontakt
Freie Universität Berlin
Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie
ladwig@zedat.fu-berlin.de


Jan Brezger
Jan Brezger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie.Während seines Studiums an der Freien Universität und der Johns Hopkins University, Baltimore arbeitete er als studentische Hilfskraft für das Teilprojekt „Metaprobleme der Legitimität in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ des Sonderforschungsbereichs 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit: Neue Formen des Regierens?“ mit. Aktuell arbeitet er an seiner Dissertation, die sich mit der Debatte um das moralische Recht auf Einwanderung beschäftigt.
Kontakt
Freie Universität Berlin
Arbeitsschwerpunkt Theorie und Ideengeschichte
jan.brezger@fu-berlin.de

Erfolgsrezept

Das Team von „Über den Tellerand kochen“

Das Team von „Über den Tellerand kochen“

Studierende von Freier Universität und Technischer Universität engagieren sich für Flüchtlinge mit dem Projekt „Über den Tellerand kochen“

Sie hausten in Zelten, lebten ohne sanitäre Anlagen und drängten auf ein Bleiberecht: Als Flüchtlinge 2013 den Kreuzberger Oranienplatz besetzten, entbrannte eine politische Debatte. Statt nur zu reden, schritten Studierende von Technischer und Freier Universität zur Tat, suchten den Kontakt zu Flüchtlingen, kochten zusammen und setzten sich an einen Tisch: Das Projekt „Über den Tellerrand kochen“ war geboren.

Die Lebensgeschichten und Rezepte der Menschen in einem Kochbuch zu vereinen, diese Idee setzten sie mithilfe der Gründungsförderung der Freien Universität um. „Kochen für ein besseres Wir“ ist das Ziel. Außerdem bieten sie gemeinsam mit den Flüchtlingen Kochkurse an. Da wird etwa Yams-Brei namens Fufu angerührt oder das Essen mit Gewürzen wie Baharat verfeinert. Neben dem Kochen spielen sie auch gemeinsam Fußball und haben in 15 Städten Ableger der Idee gefunden. Das Geld für das erste Buch kam übrigens durch das Internet zusammen: Hunderte spendeten kleinere Beträge – insgesamt mehr als 20.000 Euro. Kochen verbindet, das haben die Studierenden mit ihrem Projekt gezeigt. Und gleichzeitig den Themen Asyl und Flucht ein anderes Gesicht gegeben.

Mittlerweile kam sogar hoher Besuch: Daniela Schadt, First Lady und Lebensgefährtin des Bundespräsidenten Joachim Gauck kochte gemeinsam mit den Studierenden. Das Flüchtlingsprojekt wurde außerdem das europaweit erfolgreichste Kochbuch-Crowdfunding aller Zeiten.
Im Netz: www.ueberdentellerrand.org