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Warum die Antwort auf die Krise ein vereintes Europa sein muss

Vorwort des EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz

11.06.2015

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz
Bildquelle: European Union 2012 – EP

Was in Europa seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde, ist für mich eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften, die unser Kontinent je gesehen hat. Nach den Verheerungen und Verwüstungen des Krieges reichten sich Erzfeinde zur Versöhnung die Hände und wurden Freunde; Nachbarn rissen trennende Mauern ein und öffneten Grenzen; Diktaturen wurden zu Demokratien und Europa zur Rechtsgemeinschaft. Das ist in der Geschichte unseres Kontinents beispiellos.

70 Jahre später befindet sich Europa am Scheideweg. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich rapide zu einer Sozial- und Vertrauenskrise ausgeweitet. In Ländern wie Griechenland und Spanien hat fast jeder zweite junge Mensch keine Arbeit. Diese Menschen zahlen mit ihren Lebenschancen für eine Krise, die sie nicht verursacht haben. Schon ist die Rede von einer verlorenen Generation. Wenn es uns nicht gelingt, vor allem das Problem der Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, dann ist Europa ernsthaft in Gefahr.

In dieser wirtschaftlich und sozial angespannten Lage schüren nun anti-europäische Parteien mit billigem Populismus Angst und wollen den Menschen weismachen, dass ohne die EU alles besser wäre. Welch ein Irrtum! Es ist absurd, angesichts der wirtschaftlichen, demografischen, sicherheits- und währungspolitischen Herausforderungen zu glauben, jetzt sei die große Stunde der Nationalstaaten gekommen. Was ist denn die Alternative zu Europa? Die Alternative wäre weniger Zusammenarbeit, weniger Wohlstand, weniger Sicherheit. Wir müssen all jenen, die Europa abwickeln wollen, entgegenhalten, dass ihre Alternative verheerend wäre für die Menschen in Europa. Denn wenn wir nicht zusammenhalten und nicht gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme finden, dann driften wir in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit ab und büßen unsere Handlungsfähigkeit, unser Gesellschaftsmodell und unsere Demokratie ein. Wer das will, soll es den Menschen offen sagen.

Die Idee Europas, nämlich dass Staaten und Völker über Grenzen hinweg zusammen arbeiten, um gemeinsame Probleme gemeinsam zu lösen, weil sie wissen, dass sie gemeinsam stärker sind als allein – diese Idee ist unbestritten und wird von den Menschen unterstützt. Aber leider verbinden immer weniger Menschen diese Idee mit der EU, wie sie sich heute präsentiert. Wir müssen deshalb die Europäische Union reformieren und verbessern, wenn wir die Idee von Europa verteidigen wollen.

Dazu gehört zum einen die weitere Demokratisierung der EU. Die Europawahl im Mai 2014, bei der zum ersten Mal Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten antraten und der Gewinner der Europawahl dann auch vom Europaparlament zum Kommissionspräsidenten gewählt wurde, war ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Zum anderen muss die EU aufhören, sich in Dinge einzumischen, die sie besser anderen überlassen sollte, weil diese es besser können. Genau dies hat die neue Kommission angekündigt, und das Europäische Parlament wird sie auf diesem Weg unterstützen. Was lokal, regional oder national geregelt werden kann, soll auch dort entschieden werden. Mein Plädoyer ist: Europa muss sich auf die großen Fragen konzentrieren, etwa auf die weltweiten Handelsbeziehungen, den Kampf gegen Spekulation, Steuerflucht und -vermeidung, den Klimawandel, auf Migrationsfragen oder auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität.

Nur so kann es uns gelingen, das Vertrauen der Menschen zu Europa und seinen Institutionen wiederherzustellen, um die beispiellose historische Erfolgsgeschichte EU fortzuschreiben. Bündeln wir die Macht der 28 Staaten, unserer 500 Millionen Menschen und des reichsten Binnenmarktes der Welt, dann können wir etwas bewegen. Wir brauchen die EU heute mehr denn je.

Martin Schulz
Präsident des Europäischen Parlaments