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Das globale Trauma eines Jahrhunderts

Wie der Historiker Oliver Janz der Freien Universität zusammen mit internationalen Forschern ein globales Bild des Ersten Weltkriegs entwirft – unter anderem mit der weltweit ersten Online-Enzyklopädie zum Ersten Weltkrieg.

07.10.2014

Der große Krieg ist entgrenzt, er ist industriell und geprägt von neuer Technik.

Der große Krieg ist entgrenzt, er ist industriell und geprägt von neuer Technik.
Bildquelle: Bundesarchiv

Im Ersten Weltkrieg standen sich Soldaten aller Kontinente auf den Schlachtfeldern gegenüber. Doch bisher hat sich die Forschung meist auf Teilaspekte des großen Krieges aus nationaler Sicht konzentriert, sagt ein Historiker der Freien  Universität Berlin. Gemeinsam mit Kollegen aus dem In- und Ausland arbeitet er an der ersten Online-Enzyklopädie, die das Ereignis umfassend aus globaler Perspektive beleuchten soll.

Ein wahnsinniger Husten setzt ein. Die Kehle ist wie zugeschnürt, als die grünlich-braunen Schwaden in die Gräben der Briten und Franzosen eindringen. Gas! Stimmen die Gerüchte über seinen Einsatz doch? Pferde scheuen, nach Atem ringend stürzen die Soldaten aus den Stellungen und stolpern ins Hinterland. Ein beißender Geruch breitet sich aus, panisch greifen sie nach ihren Taschentüchern, halten sich die Ärmel ihrer Uniform schützend vor die Nase. Sie schreien nach Wasser, spucken Blut, wälzen sich am Boden und ringen nach Luft.

Es ist der 22. April 1915, gegen 18 Uhr, als der Krieg seine schaurigste Fratze zeigt und das Deutsche Heer ein Tabu bricht: Die neu geschaffene „Desinfektionskompanie“ der 4. Armee hat aus 5730 Stahlflaschen rund 150 Tonnen giftiges Chlorgas in die Luft geblasen. Der erste Einsatz eines Massenvernichtungsmittels. Auf sechs Kilometern Breite schlagen sie so in der Nähe der westflandrischen Stadt Ypern eine Bresche in die Front der Franzosen und Briten. „Der Gasangriff von Ypern ist sicher einer der bekanntesten Wendepunkte in der Geschichte der Kriege“, sagt Professor Oliver Janz vom Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaften an der Freien Universität Berlin.

Allerdings ist die Erinnerung an den Gaskrieg vor allem geprägt von der späteren Rezeption in Romanen – in Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ etwa oder Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“. „Historisch betrachtet spielt er für die Gesamtbewertung des Ersten Weltkrieges eine untergeordnete Rolle und ist als Teilaspekt einer moralischen Entgrenzung des Krieges zu sehen“, sagt der Historiker. Janz ist Leiter des Projekts „1914-1918-online“, einer Internet-Enzyklopädie zum Ersten Weltkrieg, die am 8. Oktober 2014 online geht.

Der große Krieg ist entgrenzt, er ist industriell und geprägt von neuer Technik

Mehr als 1.500 Artikel von rund 1.000 Autoren werden dann verfügbar sein – Forschungseinrichtungen aus 14 Ländern sind seit einigen Jahren an der Erarbeitung dieser Inhalte beteiligt. Würde man sämtliche Beiträge drucken, entstünde ein Handbuch mit 30 Bänden. Ziel der umfangreichen Enzyklopädie ist es, ein anderes Bild des Ersten Weltkrieges zu zeichnen: „Bis heute beruht die Vorstellung vom Ersten Weltkrieg in der deutschen Öffentlichkeit auf Erlebnissen an der Westfront – wie dem Gasangriff von Ypern“ sagt Janz. Lange wurde der Krieg vornehmlich als europäischer Konflikt betrachtet, als Ergebnis der Entwicklung vom Bismarckschen Bündnissystem eines Gleichgewichtes der Kräfte hin zu einem europäischen Krieg zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich und Russland. Dabei sind die Dimensionen des „Großen Krieges“, wie ihn die Zeitgenossen meist nannten, weitaus größer. Er ist der erste globale Krieg, der erste umfassende Krieg, er ist entgrenzt, industriell und wird durch neue Technologien geprägt.

In der vor allem für die Fachwelt gedachten Online-Enzyklopädie, aber auch in seinem neuen Buch „14 – Der Große Krieg“, werden diese Aspekte des Krieges nun umfassend dargestellt und präsentiert. Janz hat dafür den historischen Blick auf den Ersten Weltkrieg ausgeweitet, hat ihn gleichsam globalisiert; denn lange bewerteten die Historiker ihn aus ihrer nationalen Perspektive. Für die Russen war er vor allem das Ende des Zarenreiches und der Beginn der bolschewikischen Revolution, für die Vereinigten Staaten der Aufstieg zur Weltmacht, für die Österreicher das Ende ihres Vielvölkerstaates, für Deutschland die Urkatastrophe auf dem Weg zu den Massenmorden des NS-Regimes.

Die neue Enzyklopädie verfolge deshalb einen transund internationalen Ansatz, sagt Professor Janz: „Dabei zeigt sich, dass der Krieg auch die scheinbar neutralen Staaten traf, dass er eine lange Vorgeschichte hatte und länger andauerte, als es in Schulbüchern steht.“ Schon Jahre vor dem Ausbruch des Krieges erkennen österreichische und deutsche Militärs, dass sich während der zweiten Marokko-Krise 1911 und den Balkankriegen 1912 und 1913 das europäische Machtgefüge zu Ungunsten der Mittelmächte verschoben hat. Nicht wenige Offiziere fordern einen Präventionskrieg insbesondere gegen Frankreich und den Einfluss Russlands auf dem Balkan.

Die Planungsstäbe in den Kriegsministerien haben zu diesem Zeitpunkt längst die Aufrüstung ihrer Armeen vorangetrieben. Zum Einsatz kommen erstmals neuartige Waffen wie das neu entwickelte Maschinengewehr. Es verstärkt die Verteidigungslinien ebenso wie die verbesserten Artilleriegeschütze, die Dank hydraulischer Rückstoßmechanismen die enormen Kräfte beim Feuern abfangen, sodass die Haubitzen und Feldkanonen nicht nach jedem Schuss neu ausgerichtet werden müs- 18 Fr sen. Zudem sorgt neue, rauchlose Munition dafür, dass die Verteidiger auch nach dem Beginn einer feindlichen Offensive freien Blick auf das Schlachtfeld behalten.

„Die enorm gesteigerte Feuerkraft der modernen Waffen, ihre Frequenz, Durchschlagskraft und Reichweite erschwerten den Angriff und boten dem Verteidiger einen deutlichen Vorteil. Diese strukturelle Überlegenheit der Defensive war neu und stellt einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der Kriege dar“, sagt Historiker Janz. Mit dramatischen Folgen: Das Vernichtungspotenzial der Infanterie und Artillerie nahm in den 50 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg insgesamt etwa um das Zehnfache zu.

Eine neue Form der Kriegsführung

Die moderne Form der Kriegsführung widerspricht den Erwartungen der Soldaten und bedeutet für die meisten einen Schock. Sie haben einen heldenhaften, ritterlichen Krieg vor Augen und möchten sich durch Mut, Tapferkeit und Ehre auszeichnen. Stattdessen heben sie vor allem an der Westfront Gräben aus, um sich vor dem feindlichen Beschuss zu schützen und die Front zu verteidigen. An der Südfront entstehen von 1915 an mitten im Hochgebirge zwischen dem damals noch österreichischen Südtirol und Italien Gefechtsstellungen. So wird etwa unterhalb des Ortlers, auf 3850 Metern Höhe, eine Gebirgskanone in Stellung gebracht. Zwar spielt die neue, defensive Form der Kriegsführung schon im Krimkrieg (1853 – 56), der Spätphase des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861 – 1865) und im Russisch- Japanischen Krieg (1904 – 1905) eine Rolle, dennoch beruht die Militärdoktrin beider Seiten bei Beginn der Kampfhandlungen 1914 noch auf dem althergebrachten Bewegungskrieg.

Der Erste Weltkrieg hatte nichts Heldenhaftes. Im Gegenteil: Er war geprägt von Grausamkeit, Brutalität, Industriellem Töten und dem erstmaligen Einsatz eines Massenvernichtungsmittels.

Der Erste Weltkrieg hatte nichts Heldenhaftes. Im Gegenteil: Er war geprägt von Grausamkeit, Brutalität, Industriellem Töten und dem erstmaligen Einsatz eines Massenvernichtungsmittels.
Bildquelle: Library of Congress

„Die obersten Militärs hatten die Zeichen der Zeit nicht erkannt“, stellt der Historiker fest. „Die Waffentechnik ermöglichte beiden Seiten nahezu undurchdringliche Abwehrstellungen – und dennoch schickten die Generäle gerade in den ersten Kriegsmonaten Tausende Soldaten in die feindlichen Linien.“ So ist es kaum verwunderlich, dass in den Anfangsschlachten des Ersten Weltkrieges die Verluste dramatisch sind – auch hier steht die Geschichte an einem Wendepunkt. Die veränderte Größenordnung zeigt sich etwa im Vergleich mit der Schlacht von Solferino im Jahr 1859, die als eine der blutigsten des 19. Jahrhunderts gilt. Damals fallen in diesem italienischen Ort etwa 10.000 Soldaten.

1914 dagegen kommen in den wenigen Tagen zwischen dem 20. und 23. August rund 40.000 französische Soldaten ums Leben, 27.000 davon alleine am 22. August. Teilweise verlieren Brigaden bei einem einzigen Angriff drei Viertel ihrer Männer. „Der Stellungskrieg ist als Reaktion auf diese traumatischen Erfahrungen zu verstehen“, sagt Oliver Janz. „Dabei kommen immer wieder neue Waffen und Taktiken zum Einsatz, die kurzfristig der einen oder der anderen Seite einen Vorsprung verschaffen. Doch die Gegenseite lernt schnell, und keiner Kriegspartei gelingt der entscheidende Durchbruch.“ An der Ostfront ist es weniger der rücksichtslose Einsatz von Menschen und Material, die den Krieg ab 1914 prägen, sondern sein verbrecherisches Antlitz.

Besonders in Osteuropa und dem Osmanischen Reich überschreitet der Krieg auch ethische und völkerrechtliche Grenzen, endet in Massakern und Völkermord. Fast zwei Millionen russische Soldaten verlieren bis 1917 ihr Leben, Millionen Zivilisten befinden sich auf der Flucht oder werden deportiert. Als Russland nach dem Frieden von Brest-Litowsk aus dem Ersten Weltkrieg ausscheidet, ist das Zarenreich schon Geschichte. Ein Bürgerkrieg erfasst Russland, in dem bis 1923 Millionen weiterer Menschen ums Leben kommen. Immer wieder kommt es zu Pogromen vor allem gegen die deutschstämmige und jüdische Bevölkerung im Land. Im Osmanischen Reich richten sich die Gräueltaten gegen die christliche Minderheit im Land.

1915 entlässt die militärische Führung alle armenischen Rekruten aus der Armee und lässt sie entweder erschießen oder in Arbeitskolonnen dahinsiechen; später ermorden die muslimischen Herrscher auch Frauen, Kinder und Greise – insgesamt fallen dem Völkermord eine Million Menschen zum Opfer. Auf dem Balkan deportieren und meucheln Bulgaren Angehörige der serbischen und griechischen Elite in Mazedonien; serbische Soldaten vergewaltigen und massakrieren Muslime bei ihrem Einmarsch in Bosnien; Griechen morden in Südalbanien.

Unfassbare Gräueltaten werden verübt

Auch im Westen überschreiten Soldaten Grenzen: Im August 1914 massakriert die österreichisch-ungarische Armee in Serbien 4.000 Zivilisten. Auf ihrem Vormarsch durch Belgien und Nordfrankreich wittert die deutsche Armee Freischärler und ermordet rund 6.500 Menschen. Allein beim Massaker von Dinant im August 1914 erschießen Wilhelms Truppen 674 Zivilisten. Ein französischer Offizier berichtet von den Kämpfen auf der Gallipoli-Halbinsel über die dort kämpfenden Truppen des British Empire: „Die Australier massakrieren jeden Türken.“ Kriegsgefangene beider Seiten sterben in den Gefangenenlagern an Typhus und Fleckfieber. Völkerrechtswidrig werden an allen Fronten gefangen genommene Soldaten erschossen, die Verantwortlichen lassen Hass und Rachegefühlen freien Lauf.

Die Zivilbevölkerung leidet nicht zuletzt auch unter den Folgen des Krieges: Die britische Seeblockade schneidet die Mittelmächte vom Welthandel ab – allein in Deutschland sterben in der Folge rund 800.000 Zivilisten, weil das Reich nicht mehr genügend Futter- und Düngemittel für die Landwirtschaft importieren kann und die Lebensmittel knapp werden. Deutschland antwortet, indem es den britischen Seehandel durch U-Boot-Angriffe stört und dabei vielfach das Völkerrecht missachtet, weil Schiffe ohne Vorwarnung versenkt werden. „Das Ausmaß der Verrohung vieler Frontsoldaten und die Entgrenzung des Krieges auch in moralisch-ethischer Hinsicht, sind ein weiterer Wendepunkt, den der Erste Weltkrieg markiert“, sagt Professor Janz. „Dabei sind es nicht nur die einfachen Soldaten – auch Offiziere und die Oberste Heeresleitung nehmen Völkerrechtsverstöße bewusst in Kauf oder ordnen sie sogar an.“

Exemplarisch hierfür ist auch die Vorgeschichte des Giftgas-Einsatzes. Mit dabei in Ypern an der Front in preußisch-grauer Uniform: der Chemieprofessor und spätere Nobelpreisträger Fritz Haber. Er gilt als Patriot und überzeugter Militär. „Im Frieden der Menschheit, im Krieg dem Vaterland“, lautet sein Motto. Blieb ihm nach seinem Studium aufgrund seiner jüdischen Herkunft eine Laufbahn als Reserveoffizier zunächst noch verwehrt, bietet sich dem ehrgeizigen Wissenschaftler nun die Chance, in die staatlich-militärische Führungselite des Reiches aufzusteigen. Schon vor dem Krieg kümmert er sich um die Versorgung der Munitionsfabriken mit Salpeter, von dessen Einfuhr aus Chile die Engländer das Reich durch eine Seeblockade abschneiden. Haber entwickelt ein Verfahren zu dessen synthetischer Herstellung, organisiert den Ausbau großer Produktionsanlagen.

Chemiewaffen als Mittel gegen feindliche Stellungen

Führende Militärs der Obersten Heeresleitung schlagen bereits kurz nach Kriegsbeginn vor, chemische Waffen einzusetzen, um die feindlichen Stellungen schnell zu überwinden. Deutsche Chemieunternehmen haben vor Kriegsbeginn einen Weltmarktanteil von 85 Prozent, und Haber hat gute Kontakte zu BASF und IG Farben. Er dient sich als Entwickler an. Dass der Einsatz von Gift gegen Völkerrecht verstößt, ficht die Verantwortlichen nicht an. Sie deklarieren das tödliche Chlor kurzerhand als Reizgas. Franzosen und Briten sind durch Deserteure und Gefangene über die Vorbereitungen der Deutschen informiert, nehmen die Berichte über den bevorstehenden Gas-Angriff aber nicht ernst. Zumal der Wind stetig von West nach Ost weht. Als er nach Wochen des Wartens aus Sicht der Deutschen endlich dreht, schießen sie von einem weithin sichtbaren Fesselballon drei rote Leuchtkugeln ab: das Signal zum Abblasen. Tausende Briten, Kanadier und Franzosen werden verletzt, hunderte sterben.

Die deutsche Generalität ist von der Wirkung der neuen Waffe überzeugt, beschließt zwei Gasregimenter aufzustellen. Haber wird zum Kaiser befohlen und zum Hauptmann befördert. Doch der Gaskrieg bringt keine Wende. Die deutschen Oberbefehlshaber unterschätzen die Durchschlagskraft des Giftes und schicken nicht genügend Truppen zum Nachrücken an die Front, die die gerissene Lücke hätten besetzen können. Als drei Tage später erneut Gas eingesetzt wird, schützen sich die Verteidiger bereits notdürftig durch Tücher, bald schon kommen die ersten Gasmasken zum Einsatz – die Wirkung der neuen Waffe verpufft.

In den Ersten Weltkrieg sind 40 Staaten verwickelt

Eine Zeitenwende ist der Erste Weltkrieg auch im Hinblick auf seine Ausdehnung. Insgesamt sind 40 Staaten beteiligt, mehr als 70 Millionen Menschen greifen zu den Waffen. Japan und China sind ebenso in Kampfhandlungen verwickelt wie Brasilien, die Vereinigten Staaten und Nepal. Das Britische Weltreich kämpft mit Truppen aus Neuseeland, Indien, Australien und Kanada. Auch die Kolonien in Afrika und Südostasien werden zu Schauplätzen von Kämpfen.

Erstmals beteiligen sich die außereuropäischen Großmächte Japan und die USA an einem ursprünglich europäischen Konflikt. Auch vermeintlich neutrale Staaten werden in die Auseinandersetzungen verwickelt: „Großbritannien etwa zwang die neutralen Staaten, ihren Handel einer britischen Kontrolle zu unterwerfen“, sagt Janz: „Der Erste Weltkrieg wurde nicht nur auf den Schlachtfeldern ausgetragen, sondern auch in den Fabriken und Bauernhöfen, den Banken, Häfen und auf den Eisenbahnlinien.“ Der Einfluss Großbritanniens und der Vereinigten Staaten auf die Finanzsysteme aller Staaten der Welt ist schließlich mitentscheidend für den Ausgang des Krieges.

Als Kreditgeber zur Finanzierung der Militärausgaben verschulden sich die europäischen Staaten der Entente – neben Russland und Italien vor allem Frankreich und das Vereinigte Königreich – in den USA, während die Mittelmächte mit den beiden Hauptverbündeten Deutschland und Österreich-Ungarn von den globalen Finanzmärkten abgeschnitten werden. Zunächst neutrale Länder in Lateinamerika und Asien treten der Entente bei, um neue Exportmärkte zu erschließen – insgesamt wirkt der Krieg als riesiges, von Europa finanziertes Konjunkturprogramm für die restliche Welt. „Nicht nur die unterlegenen Staaten Deutschland, das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn, auch Frankreich und Großbritannien verlieren weltweit durch diese Entwicklung an Einfluss. Die USA hingegen beginnen ihren Aufstieg zur Weltmacht“, sagt Janz.

Auch das Bild Europas in der Welt ändert sich durch die dramatischen Ereignisse: Für viele Außenstehende hat das Modell eines liberalen Europas Selbstmord begangen und taugt nicht mehr zum Vorbild. Neue Modelle – etwa die gerade entstehende Sowjetunion – prägen als antiimperialistisches, modernes Europa die Intellektuellen in den nach Unabhängigkeit strebenden Kolonien. Ho Chi Minh, der lange in Paris lebt, baut in den Zwischenkriegsjahren in Indochina die Kommunistische Partei auf; auch in China gewinnen die Ideen von Karl Marx und Wladimir Iljitsch Lenin einflussreiche Anhänger.

Mit dem Waffenstillstand ist der Krieg nicht beendet

Als am 11. November 1918 im nordfranzösischen Compiègne ein Waffenstillstand die Kampfhandlungen zwischen den Westmächten und Deutschland beendet, sind zehn Millionen Soldaten und etwa sieben Millionen Zivilisten tot. In anderen Regionen der Welt geht der Krieg weiter: In Russland befinden sich zaristische Truppen und die Rote Armee in einem Bürgerkrieg; im von den Westmächten unterworfenen Osmanischen Reich kämpft Mustafa Kemal Atatürk weitere fünf Jahre für einen unabhängigen Staat. An der Friedenskonferenz von Versailles nehmen die sich selbst verwaltenden britischen Kolonien, die Dominions, erstmals mit eigenen Vertretern teil – ein wichtiger Schritt hin zur Unabhängigkeit Australiens, Neuseelands und Kanadas.

„Das Ende des Ersten Weltkrieges hat unsere heutige Landkarte langsam geformt“, sagt Historiker Janz. Auf dem Boden des untergegangenen Osmanischen Reiches und der K.u.k. – Monarchie entstehen unabhängige Nationen, in Osteuropa gründen Polen, Finnen und Balten unabhängige Staaten auf ehemals russischem Territorium – auch in dieser Hinsicht ist der Erste Weltkrieg ein Wendepunkt. Fritz Haber, der Initiator des Kampfes mit Giftgas, bleibt auch nach dem Krieg ein einflussreicher Chemiker. Er wird 1919 Leiter der „Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung“. Zwei Jahre nach seinem Ausscheiden entwickelt das Unternehmen 1922 ein Verfahren zum Aufsaugen der niedrig siedenden Blausäure in Kieselgur: „Zyklon B“, das Gift, mit dem im Dritten Reich die Schergen der SS Tausende Juden in Gaskammern ermordeten. Darunter auch enge Verwandte Fritz Habers.  

Prof. Dr. Oliver Janz

Prof. Dr. Oliver Janz
Bildquelle: Jonah-Langkau

Der Experte

Prof. Dr. Oliver Janz Oliver ist seit April 2007 Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und Mitinitiator sowie Leiter des Projekts „1914 – 1918-online“, der ersten Internet-Enzyklopädie zum Ersten Weltkrieg, die am 8. Oktober 2014 online geht – und den Ersten Weltkrieg viel umfassender darstellt als bisher. Oliver Janz hat unter anderem die Buchreihe „Italien in der Moderne“ (Böhlau- Verlag) herausgegeben, er ist Mitglied im Kuratorium des Museums „Historial de la Grande Guerre / Museum of the Great War“ im französischen Peronne und schrieb die vielbeachtete Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs „14. Der Große Krieg“ (Campus-Verlag 2013). Kontakt: Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut (FMI) E-Mail: oliver.janz@fu-berlin.de