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Unwahrscheinlich erfolgreich

Fußballstatistik beschränkt sich längst nicht mehr auf Ballbesitz, Torschüsse, Elfmeter und zurückgelegte Distanzen. Wissenschaftler der Freien Universität können Sieg und Niederlagen dank Marktwerttabellen und Mannschaftsanalysen prognostizieren.

10.04.2014

Es läuft die dritte Minute der Verlängerung. „Auf geht‘s, Bayern, schießt ein Tor“, singen die Fans in der Südkurve. Den Distanzschuss von Toni Kroos blockt die Abwehr des FC Chelsea. Anatolij Tymoschtschuk kann den abgewehrten Ball vor dem heraneilenden Didier Drogba nach außen zu Contento spielen. Der verzögert, spielt dann kurz auf Franck Ribéry, der in der Strafraumecke mit dem Rücken zum Tor steht, sich dreht und nach innen zieht.

Stürmer Drogba hilft in der Abwehr aus, versucht dem Franzosen den Ball abzunehmen – doch er trifft ihn an der rechten Ferse. Elfmeter! Die Entscheidung?

„Jeder, der schon einmal Fußball gespielt hat, weiß, wie winzig klein das Tor vom Elfmeterpunkt aus aussieht“, sagt Professor Raúl Rojas, der am Institut für Informatik die Arbeitsgruppe Intelligente Systeme und Robotik leitet und sich intensiv mit der Mathematik des Fußballs beschäftigt hat. „Soziologen an der Universität Leipzig haben alle Elfmeter aus den Bundesligapartien zwischen 1992 und 2003 analysiert“, sagt Rojas: „Demnach werden nur 75,5 Prozent aller Strafstöße verwandelt, 19,6 Prozent werden gehalten, 2,6 Prozent gehen am Tor vorbei und 2,3 Prozent treffen das Aluminium.“

Daten aus der französischen und der italienischen Liga bestätigen diese Quoten in etwa. Der Elfmeter ist wohl die spannendste und einfachste Entscheidung im Fußballspiel: Für einen kurzen Moment wird der Mannschaftssport zum Duell Schütze gegen Torwart. Der Torwart kann nur gewinnen, denn die Statistik spricht ohnehin gegen ihn. Aber wenn er den Ball hält, ist er der Held auf dem Platz.

Arjen Robben und seine Mitspieler sinken enttäuscht zu Boden: Bastian Schweinsteiger, Mittelfeldspieler des FC Bayern München, verschießt 2012 im Finale der Champions League in München, dem „Finale Dahoam“, den entscheidenden Elfmeter.

Arjen Robben und seine Mitspieler sinken enttäuscht zu Boden: Bastian Schweinsteiger, Mittelfeldspieler des FC Bayern München, verschießt 2012 im Finale der Champions League in München, dem „Finale Dahoam“, den entscheidenden Elfmeter.
Bildquelle: iStockphoto.com, Szirtesi László

Arjen Robben schnappt sich in der Münchner Arena den Ball. Von 2004 bis 2007 hat er 67-mal für Chelsea gespielt. Robben hat bislang zwölf Elfmeter für den FC Bayern München geschossen, elf verwandelt. Ausgerechnet in Dortmund, vier Wochen zuvor, verschießt er den vorentscheidenden Elfmeter im Kampf um die Meisterschaft. Die Borussia gewinnt, kann sich zwei Spieltage später die Meisterschaft sichern.

Doch jetzt geht es um die Champions League 2012. Endspiel in München. Das „Finale dahoam“. Es dauert fast zwei Minuten, bis der Schiedsrichter den Ball freigibt. Petr Cech, der Torwart des Londoner Clubs, hat die Arme weit ausgestreckt und steht still auf der Torlinie, wie die Spinne im Netz. Robben nimmt fast vier Meter Anlauf, schießt mit dem linken Fuß. Es dauert nur 0,3 Sekunden, bis der Ball die Torlinie zwischen Mitte und dem Pfosten links vom Torwart erreicht. Cech hält!

„Jeder Spieler hat seine natürliche Seite“, sagt Informatiker Rojas: „Robben ist Linksfuß, seine natürliche Seite ist also von ihm aus gesehen das rechte, untere Eck.“ Robben hatte schon beim Spiel in Dortmund die vermeintlich sichere Seite gewählt und den Schuss ähnlich schlecht platziert wie nun beim großen Finale gegen Chelsea. „Eigentlich hat er damit die beste Variante gewählt“, sagt Rojas: „78,2 Prozent aller auf die natürliche Seite des Spielers geschossenen Bälle treffen das Tor.“

Aber Robbens Ball im „Finale dahoam“ ist einfach schwach geschossen. Mit Mathematik ist das allerdings nicht zu erklären, eher mit Psychologie und Soziologie. Bayern München genießt zwar im großen Finale den Heimvorteil: Die Spieler kennen die Kabinen, den Rasen; das Publikum steht mehrheitlich auf Seiten der Roten. „Doch dieser psychologische Vorteil kann sich bei einem Elfmeter in einen Nachteil verkehren. Der Druck auf einen einzelnen Spieler wächst enorm“, sagt Jürgen Gerhards, Professor für Soziologie an der Freien Universität.

So liegt die Trefferquote bei Elfmeter- Schützen der Heimmannschaft nur bei 73,6 Prozent, während Gast-Schützen in drei von vier Fällen das Tor treffen. Noch deutlicher ist der Unterschied bei der Quote der Fehlschüsse: Zuhause schießen Profis beim Strafstoß etwa um ein Drittel häufiger daneben als beim Auswärtsspiel. „Der Druck, dem ein Schütze von Seiten der Fans und der Mitspieler ausgesetzt ist, steigt im eigenen Stadion stark an“, sagt Gerhards: „Das kann die Konzentration beeinträchtigen und die Versagensangst schüren – offenbar war dies bei Robben im Spiel gegen Chelsea der Fall.“

Die Trefferquote sinkt mit der Dauer des Spiels

Das Beispiel Robben unterstreicht ein zweites statistisches Phänomen, das der in London lehrende Ökonom Ignacio Palacios-Huerta herausgearbeitet hat: Mit zunehmender Spieldauer sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Strafstoß zum Tor führt. Demnach fällt die Erfolgsquote von 83 Prozent in der ersten Halbzeit auf nur 73 Prozent in den letzten zehn Minuten eines Spiels.

Der Soziologe Gerhards beschäftigt sich schon länger mit Prognosen für den Ausgang von Fußball-Großereignissen. Gemeinsam mit dem Sportsoziologie-Professor Michael Mutz von der Georg-August-Universität Göttingen und Wirtschaftsprofessor Gert Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) entwickelte Gerhards eine Prognosemethode, die sich vor allem am Marktwert der teilnehmenden Teams orientiert – und erfolgreich ist: Für unsere Analysen haben wir die Kader und Ergebnisse der zwölf leistungsstärksten Fußball-Ligen Europas empirisch ausgewertet“, sagt Professor Gerhards.

Die Autoren versuchen, den Ausgang einer Meisterschaft durch vier Faktoren vorherzusagen: den Marktwert des Kaders, die Ungleichheit innerhalb einer Mannschaft, die kulturelle Diversität der Mannschaft und den Grad der Fluktuation im Team, bedingt durch den Verkauf und Kauf neuer Spieler. „Der Marktwert einer Mannschaft ist die zentrale Größe, die über den Erfolg entscheidet. Otto Rehhagel liegt mit seiner These ‚Geld schießt keine Tore’ nicht richtig“, sagt Gerhards.

Der Umkehrschluss, nämlich dass auf dem Platz nur das Geld gewinnt, ist allerdings auch nicht unbedingt korrekt. „Auch eine gute Durchmischung von Fußballschulen ist wichtig. Und das erreicht man durch Spieler aus verschiedenen Kontinenten im Kader. Die hohe Fluktuation durch Ankauf und Verkauf von Spielern hat hingegen eher einen negativen Einfluss auf den Erfolg“, sagt Soziologe Gerhards.

Schon bei der EM 2008 und den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 lag Gerhards mit dem so errechneten Tipp richtig – und war damit immerhin erfolgreicher als Krake Paul, Fußball-Orakel, der bei der WM 2010 aus einem Oberhausener Aquarium heraus die Spiele der deutschen Mannschaft „vorhersagte“.

Die „teuersten“ Mannschaften qualifizieren sich für Brasilien

Gerade hat er zusammen mit den beiden Kollegen die Qualifikation zur Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien analysiert: Insgesamt 204 Nationalmannschaften haben daran teilgenommen, 33 von ihnen dürfen nach Brasilien reisen und dort um den WM-Pokal spielen. „Die Ergebnisse der WM-Qualifikation zeigen wenige Überraschungen, besonders in Europa: Belgien, Italien, Deutschland, Niederlande, Schweiz, Bosnien-Herzegowina, England und Spanien haben den ersten Platz in ihrer Gruppe errungen – sie waren auch die teuersten Mannschaften in ihrer jeweiligen Qualifikationsgruppe“, sagt Jürgen Gerhards.

Nur in Gruppe F konnte sich Russland gegenüber Portugal durchsetzen, obwohl der Marktwert des portugiesischen Teams höher ist. „Das liegt insbesondere an Superstar Christi-ano Ronaldo, der mit seinen 100 Millionen Euro viermal wertvoller ist als Russlands wertvollster Spieler Alan Dzagoev“, sagt Gerhards. Eine endgültige Prognose für den Ausgang der Weltmeisterschaft mag er noch nicht treffen. „Erst wenn Anfang Mai die vorläufigen Kader bekannt gegeben werden, können wir errechnen, welcher Weltmeister am wahrscheinlichsten ist.“

Dass bis dahin viel passieren kann, zeigt ein Blick in die Vergangenheit: 2002 verletzte sich der WM-Hoffnungsträger Sebastian Deisler in einem Testspiel gegen Österreich, 2006 bangte die Nation um Philipp Lahm, der schließlich mit einem Gipsarm gegen Costa Rica antrat und prompt das 1:0 schoss.

Unvergessen auch das Drama um den damaligen Kapitän Michael Ballack, der beim FC Chelsea im Liga- Cup-Finale gegen den FC Portsmouth von Kevin-Prince Boateng gefoult wurde und wegen einer Knöchel-Verletzung 2010 in Südafrika kurzfristig ausfiel.

Und wenn die Weltmeisterschaft heute beginnen würde? „Betrachtet man allein die Marktwerte der Mannschaften, dann zählt Brasilien mit seinen Stars Neymar, Hulk und Thiago Silva als Gastgeber sicher zu den Favoriten“, sagt Gerhards: „Die fünf wertvollsten Spieler sind bei fünf unterschiedlichen Vereinen in vier europäischen Ligen beschäftigt – dazu kommen robuste Abwehrspieler aus der Bundesliga.“

Auch Spanien dürfte wieder eine entscheidende Rolle im Kampf um den Turniersieg spielen und ist ein Kandidat für das Endspiel, obwohl Mittelfeldstratege Xavi mittlerweile 34 Jahre alt ist. „Spanien hat vierzehn Spieler mit einem Marktwert von mehr als 20.000.000 Euro – und ist damit noch immer die Mannschaft, die die meiste Breite im Kader besitzt.“ Italien und England dürften bei dem kommenden Turnier nur Außenseiterchancen haben, ebenso wie Frankreich mit Ribery, Pogba und Benzema.

Argentinien besitzt mit Lionel Messi, Kun Agüero und Gonzalo Higuaín zwar den wertvollsten Sturm des Turniers, ist aber in der Abwehr nicht so gut aufgestellt. Und Deutschland? „Wir sind für diese Weltmeisterschaft vorsichtig optimistisch“, sagt Gerhards: „Der Kader hat in der Breite weiter an Qualität gewonnen, insbesondere Mario Götze, Toni Kroos, André Schürle und Philipp Lahm haben sich seit der vergangenen Weltmeisterschaft nicht nur fußballerisch weiterentwickelt – sie alle erreichen mittlerweile einen hohen siebenstelligen Marktwert“, sagt Gerhards.

Eine Sorge treibt allerdings nicht nur ihn, sondern auch den Bundestrainer Jogi Löw: „Bastian Schweinsteiger, Ilkay Gündogan, Mesut Özil und Sami Khedira und Mario Gomez waren oder sind in dieser Saison lange Zeit verletzt. Auch wenn ihr Marktwert stabil ist, fehlt ihnen Spielerfahrung – und deren Einfluss lässt sich statistisch schwer berechnen.“

Die Wissenschaftler

 

Prof. Dr. Raúl Rojas

Der Informatiker Raúl Rojas lässt Autos ohne Fahrer durch die Stadt fahren, er entwickelte Roboterbienen, um zusammen mit Biologen den Tanz der echten Bienen zu erforschen, und er hat die FU-Fighters, kleine Fußballroboter, ebenso erfunden wie die FUmanoids, das sind Fußball-Roboter auf Beinen. Einen von ihnen haben wir auch auf Seite 52 interviewt.

Raúl Rojas‘ Tipp für die WM in Brasilien: „Argentinien wird Weltmeister, und wenn nicht, dann Mexiko.“

Kontakt Freie Universität Berlin

AG Intelligente Systeme und Robotik

E-Mail: Raul.Rojas@fu-berlin.de


Prof. Dr. Jürgen Gerhards

Wenn jemand am besten wissen könnte, wie die kommende Fußballweltmeisterschaft in Brasilien ausgehen wird, dann ist es Jürgen Gerhards, Professor am Institut für Soziologie und dessen Geschäftsführer, der unter anderem Fellow des Wissenschaftszentrums Berlin war und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ist. Mit unterschiedlichen Kennzahlen, beispielweise dem Marktwert der Mannschaften und ihre kulturelle Zusammensetzung, haben er und seine Kollegen Michael Mutz und Gert Wagner den Ausgang von vergangenen Turnieren erfolgreich prognostiziert.

Sein vorläufiger Tipp für die WM: „Deutschland spielt im Endspiel gegen Spanien und hat diesmal die Nase vorn.“

Kontakt

Freie Universität Berlin

Institut für Soziologie

E-Mail: j.gerhards@fu-berlin.de