Springe direkt zu Inhalt

Die Entdeckung der Dritten Welt

Im Paris der Zwanzigerjahre trafen Intellektuelle und Politiker aus allen Teilen der Welt zusammen. Der Historiker Michael Goebel erforscht, wie sich die Gruppen gegenseitig beeinflussten und wie sich in dieser Zeit die Idee einer „Dritten Welt“ verf

13.12.2013

Nicht nur Hô Chí Minh (li.) sondern auch Deng Xiaoping sammelten im Paris der frühen 20. Jahrhunderts erste politische Erfahrung.

Nicht nur Hô Chí Minh (li.) sondern auch Deng Xiaoping sammelten im Paris der frühen 20. Jahrhunderts erste politische Erfahrung.
Bildquelle: Wikipedia (Public domain) / Michael Goebel (Friedrich- Meinecke-Institut)

Als der drahtige Junge, der sich Ba nennt, im Juni 1911 als Schiffskoch in Saigon anheuert, kann er nur erahnen, was ihn in den kommenden Monaten und Jahren erwartet: Er will die westliche Welt kennenlernen, um sie zu verstehen; um zu sehen, was diesen Teil der Erde so erfolgreich macht, und warum wenige Soldaten aus Frankreich ausreichen, um seine Heimat Vietnam politisch zu kontrollieren. Sein Ziel ist Paris.

Geboren als Sohn eines konfuzianischen Gelehrten, heißt er zunächst Nguyên Sinh Cung. Jetzt, auf seiner Reise in den Westen, nennt er sich Nguyên Tât Thành – was soviel wie „Nguyên muss sein Ziel erreichen“ bedeutet. Berühmt wird er unter einem Namen werden, den er erst 1942 annimmt: Hô Chí Minh.

„Paris war im frühen 20. Jahrhundert neben London die wohl bedeutendste Weltmetropole Europas, ein Schmelztiegel für Intellektuelle und Politiker aus aller Welt – insbesondere aus den Regionen, die später als sogenannte Dritte Welt ins Bewusstsein der Europäer drangen“, sagt Michael Goebel vom Friedrich- Meinecke-Institut, dem Institut für Geschichtswissenschaft an der Freien Universität.

„Asiaten, Afrikaner und Latein-Amerikaner entwickelten hier mithilfe zahlreicher Netzwerke ihre kulturelle Identität und einen antiimperialen Nationalismus, der nach 1945 in viele Befreiungsbewegungen mündete.“ Die Stadt an der Seine ist damit einer der wichtigsten Orte für die Neuordnung der Staatenwelt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Nicht nur Hô Chí Minh, auch Zhou Enlai und Deng Xiaoping, beide später Führer in der Kommunistischen Partei Chinas, oder Léopold Sédar Senghor, der spätere Präsident des Senegal, lebten und wirkten im Paris der Zwischenkriegsjahre, sammelten hier politische Erfahrung und scharten Anhänger um sich.

Hô Chí Minh landet zunächst in Marseille: Straßenbahnen machen auf ihn den Eindruck fahrender Häuser, in einem Café wird er zum ersten Mal in seinem Leben als „Monsieur“ angesprochen, schreibt er beeindruckt in seinen Memoiren. Aus Angst vor der Polizei wechselt der junge Hô Chí Minh seine Namen wie andere ihre Schuhe: Bis zu 50 Pseudonyme werden ihm zugerechnet. Er reist quer durch Europa. Im Ersten Weltkrieg verliert sich seine Spur. Wahrscheinlich hat er New York gesehen und in London als Küchengehilfe im Carlton-Hotel gearbeitet.

Deng Xiaoping, später Führer der Kommunistischen Partei Chinas, sammelte erste politische Erfahrung im Paris der Zwischenkriegsjahre

Deng Xiaoping, später Führer der Kommunistischen Partei Chinas, sammelte erste politische Erfahrung im Paris der Zwischenkriegsjahre
Bildquelle: Wikipedia/Autor: anonym (Public domain) commons.wikimedia.org/wiki/File%3AStudent_Deng_Xiaoping_in_France.jpg

Als er – vermutlich 1919 – erstmals nach Paris kommt, schließt er sich der Sozialistischen Partei Frankreichs an und gründet die „Association des Patriotes Annamites“ – die Gemeinschaft der annamitischen Patrioten, einen Verein, der sich an die bis zu 4.000 in Paris lebenden Arbeiter aus Vietnam richtet. Annam war der chinesische Name für Vietnam.

„Viele solcher Vereine standen damals unter ständiger Beobachtung der französischen Behörden“, sagt Michael Goebel, der die Überwachungsakten in den Polizeiarchiven studiert hat, um die Strukturen und Netzwerke der verschiedenen Gruppen zu entschlüsseln. Insbesondere interessiert ihn, wie sich die verschiedenen Ethnien gegenseitig wahrnahmen, wie sie sich beeinflussten und unterschieden, wie sich anti-imperialistische Intellektuelle gegenseitig befeuerten und stritten.

Vieles von dem wird in den Akten deutlich, die die französischen Behörden anlegten. Die Regierung in Paris fürchtete die Anti-Kolonialbewegungen, seit US-Präsident Woodrow Wilson sich in seinem 14-Punkte-Programm in den Grundzügen einer Friedensordnung nach dem Krieg für die Selbstbestimmung der Völker ausgesprochen hatte. Um die zahlreichen Gruppen kontrollieren zu können, schleuste die Polizei von 1923 an Spitzel in die zumeist als Selbsthilfevereine auftretenden politischen Zirkel der Migranten ein und gründete eine Spezialpolizei, die dem Kolonialministerium unterstellt war.

Ein aussichtsloses Unterfangen, lebten doch um das Jahr 1930 bereits rund 80.000 Menschen aus den französischen Kolonien im Großraum Paris. Es waren zum Teil Veteranen, die im Ersten Weltkrieg als Soldaten für Frankreich gekämpft hatten und sich nun an der Seine niederließen – viele von ihnen holten ihre Freunde und Verwandten nach, der Arbeitskräftemangel in den Boom-Jahren vor der Weltwirtschaftskrise machte Paris zu einem Eldorado für junge Arbeiter aus Algerien, Syrien und Marokko, zum Teil aber auch aus Siam und Madagaskar. Nach den Vereinigten Staaten von Amerika war Frankreich in dieser Zeit – gemessen an den absoluten Zahlen – das zweitwichtigste Einwanderungsland der Welt.

„Meist waren es die gebildeteren, jungen Menschen aus den Kolonien, die nach Frankreich gingen in der Hoffnung, dort ein wirtschaftlich besseres Leben führen zu können als in ihrer Heimat“, sagt Goebel. „Anders als die meisten ihrer Altersgruppe konnten sie lesen und schreiben und fassten deshalb schnell Fuß in Paris.“

Um sich in ihrem neuen Leben in Europa besser zurechtfinden zu können, bildeten sie Selbsthilfegruppen und unterstützten sich in Notsituationen. Üblich war eine geringe Monatsgebühr zur Deckung der Kosten – als Gegenleistung gab es Armenküchen und ein Netzwerk von Arbeitsvermittlern. „Solche Strukturen finden sich in fast allen Ethnien, obwohl die Gruppe der Einwanderer eine sehr heterogene war“, sagt Goebel.

So erhielten seit 1848 die Menschen in den alten Kolonien zum Teil die Bürgerrechte, der Mehrheit der algerischen Muslime blieben diese jedoch ebenso verwehrt wie den meisten West-Afrikanern und Einwanderern aus Indochina. Hô Chí Minh schlägt sich, wie viele seiner Landsleute, zunächst als einfacher Arbeiter durch. Viele Vietnamesen kommen als Hauspersonal in großbürgerlichen Wohnungen unter, andere arbeiten als Köche oder Lackierer. Der spätere Führer der Kommunistischen Partei Vietnams retuschiert 1922 Fotos, malt Fächer und Lampenschirme an.

Den Ankömmlingen aus den Kolonien fehlten in Paris nicht nur die Bürgerrechte. Sie durften auch keine Zeitungen gründen, verdienten für die gleiche Arbeit weit weniger Geld als ein Franzose. Gezielt suchte die Polizei verarmte Menschen aus dem Milieu, um sie mit Geld oder der Aussicht auf die Staatsbürgerschaft als Spitzel zu rekrutieren und so die Selbsthilfegruppen auszuspionieren.

Manche von ihnen standen mit dem Gesetz in Konflikt, so etwa der madagassische Agent mit dem Codenamen „Joe“, auf dessen Protokolle Goebel während seiner Arbeit stieß und dessen Identität er rekonstruieren konnte. Täglich sendete der Spion Berichte an die Behörde, oft mit recht profanem Inhalt: Wer hat mit wem gegessen? Worüber hat man sich unterhalten? Joe spricht von sich selbst in seinen Berichten in der Dritten Person, wohl, um seine Identität zu verschleiern.

Als er in den Westen aufbricht, nennt er sich noch Nguyên Tât Thành („Nguyên muss sein Ziel erreichen“). Berühmt wird er unter einem anderen Namen: Hô Chí Minh.

Als er in den Westen aufbricht, nennt er sich noch Nguyên Tât Thành („Nguyên muss sein Ziel erreichen“). Berühmt wird er unter einem anderen Namen: Hô Chí Minh.
Bildquelle: Wikipedia (Public domain)/Autor: Agence de presse Meurisse commons.wikimedia.org/wiki/File%3ANguyen_A%C3%AFn_Nu%C3%A4'C_(Ho-Chi-Minh)%2C_d%C3%A9l%C3%A9gu%C3%A9_indochinois%2C_Congr%C3%A8s_communiste_de_Marseille%2C_1921%2C_Meurisse%2C_BNF_Gallica.jpg

Auch Hô Chí Minh gerät schnell in den Blickpunkt der Sonderpolizei, die sein politisches Engagement bei der „Association des Patriotes Annamites“ argwöhnisch beobachtet. Allerdings sind die Vietnamesen in Paris schwieriger zu beschatten: Ihr Milieu ist geschlossener, die französischen Behörden misstrauen den Spionen, wohl auch, weil Hô Chí Minhs Landsleute eine sprachlich geschlossene Gruppe bilden.

„Das unterschied sie von den Westafrikanern, deren Verkehrssprache das Französische war“, sagt Goebel. Häufig wurden Spione enttarnt, geheime Operationen gingen schief. Manchmal arbeiteten politisch Aktive sogar in den Haushalten der Staatsbeamten, die die politische Arbeit der Migrantengruppen verhindern sollten. Der Polizeipräfekt Jean Chiappe etwa ließ sich von Vietnamesen bekochen, der Diplomat Paul-Émile Naggiar beschäftigte in seiner Küche Hoang Ngoc Khai, der als Verbindungsmann zwischen Hô Chí Minhs Kommunisten in Kanton und vietnamesischen Radikalen in Paris diente.

Oft halfen sich die Landsleute auch im direkten Kontakt außerhalb der Vereine gegenseitig, Neuankömmlinge und Arbeitslose zu vermitteln – und so gerät auch Hô Chí Minh ungewollt in die Fänge der Geheimagenten: Als er seine Arbeit als Foto-Retuschierer verliert, fragt er ausgerechnet einen verdeckten Ermittler der Kolonialpolizei, ob der ihm nicht eine Stelle als Bediensteter in einem bürgerlichen Haushalt besorgen könne – was der Spitzel sofort in einem Bericht festhält.

Mehr Informationen in den Archiven finden sich über die Verbindungen der afrikanisch-stämmigen Gruppierungen. „Hier gab es zwischen den hoch gebildeten, eingesessenen Einwanderern der alten karibischen Kolonien, die mit Bürgerrechten ausgestattet waren, und den schlechter gestellten Neuankömmlingen aus Westafrika so etwas wie eine Verbrüderung der Schwarzen Rasse“, sagt Goebel.

Eine dieser schillernden Figuren war der gebürtige Haitianer Léo Sajous, der in Paris Medizin studiert hatte und in den 1920er Jahren zur „Schwarzen Befreiungsbewegung“ gehörte. Im Dezember 1929 war er Mitorganisator einer Protestkundgebung gegen die US-amerikanische Besetzung Haitis, er war Autor der zweisprachigen Zeitschrift Revue du Monde Noir und beeinflusste mit seinen Werken viele junge schwarze Intellektuelle – und er war dank seiner guten Kontakte ein wichtiger Akteur in einer Schattendiplomatie für Afrikanische Kolonien und Staaten. So vermittelte er zwischen Liberia, Äthiopien, Madagaskar und dem Senegal auf der einen und Polen und Mitteleuropa auf der anderen Seite, um die Handelsbeziehungen zu verbessern.

Aber auch zwischen südamerikanischen und chinesischen Gruppen gab es in Paris einen regen Austausch: Als sich 1924 in Mexiko-Stadt die peruanische „Alianza Popular Revolucionaria Americana“ gründete, solidarisierten sich mit ihnen die in Frankreich lebenden chinesischen Anhänger der Chinesischen Nationalpartei Kuomintang. Gemeinsam war beiden Gruppen der Kampf gegen imperialistische Ansprüche fremder Staaten: Während die Peruaner den Zugriff der Vereinigten Staaten auf Lateinamerika thematisierten, wollten die Kuomintang den Einfluss der westlichen Staaten in den chinesischen Hafenstädten und den japanischen Anspruch auf das chinesische Festland zurückdrängen.

„Diese Vereinigung nationalistischer Bewegungen aus verschiedenen Ländern der Erde ist eine wichtige Etappe in der Geschichte der Dritte-Welt- Idee“, sagt Goebel. Der Austausch ihrer intellektuellen Eliten in Paris habe die Völker dieser Länder erst darauf gebracht, Analogien zwischen den Verhältnissen in ihren Ländern zu sehen.

Zu dieser Zeit hat Hô Chí Minh Paris schon wieder verlassen: 1923 folgt er einer Einladung der „Kommunistischen Internetionalen“, einem internationalen Zusammenschluss kommunistischer Parteien, und geht nach Moskau, wo er einflussreiche Genossen wie den Inder Manabendra Nath Roy, den Deutschen Ernst Thälmann und Nikolai Iwanowitsch Bucharin kennenlernt.

Paris bleibt bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein wichtiger Ort für die Ideengeschichte der „Dritten Welt“. In Moskau dagegen bereiten die Führer der Kommunistischen Parteien die Revolution vor, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein planwirtschaftlich- sozialistischer Gegenpol zur marktwirtschaftlichdemokratischen Staatengemeinschaft wird – und gründen so die „Zweite Welt“.