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Rechenkunst: Das muss Liebe sein

Wie Wissenschaftler der Freien Universität Begeisterung für Mathematik entfachen - nicht nur bei Schülern und Lehrern

22.10.2012

Wie Wissenschaftler der Freien Universität Begeisterung für Mathematik entfachen – nicht nur bei Schülern und Lehrern, sondern in der ganzen Gesellschaft

Wie Wissenschaftler der Freien Universität Begeisterung für Mathematik entfachen – nicht nur bei Schülern und Lehrern, sondern in der ganzen Gesellschaft
Bildquelle: istockphoto/craetive

So klar, so eindeutig, so vielseitig: Mathematiker geraten ins Schwärmen, wenn sie über ihr Fach sprechen. Warum nur bleibt anderen diese Schönheit oft verborgen? Warum kokettiert manch ein Intellektueller auf der Dinnerparty mit seiner Rechenschwäche, verachtet aber jeden, der Adorno für ein Pasta-Gericht hält? Wissenschaftler der Freien Universität zeigen, wie es anders geht: Sie entwickeln neue Lernkonzepte, bilden Lehrer fort und enthüllen, wo überall sich die Mathematik im Alltag versteckt hält – und welche Probleme sich mit ihrer Hilfe lösen lassen. Selbst bei manch einem Rechen-Muffel wecken sie so Begeisterung.

Lasst uns nicht lamentieren über das ach so dröge Fach, an dem Schülerkohorten verzweifeln. Lasst uns keine Klischees aufwärmen von Nerds, die zwar die binomischen Formeln beherrschen und die Differentialrechnung, denen Mama aber bis zum Abitur etwas zum Anziehen rauslegen muss. Sondern lasst uns schwärmen von Eindeutigkeit, von Kreativität, ja von Schönheit; von Meisterleistungen des menschlichen Geistes. Lasst uns die Entdeckung der Null feiern wie die Entdeckung Amerikas. Lasst uns die einzig universelle Sprache bewundern, die es Menschen erlaubt, sogar mit Maschinen zu kommunizieren – und Maschinen untereinander. Die uns die Komplexität des Universums abbilden hilft. Lasst uns eine Wissenschaft preisen, die zugleich Kunst ist.

Lasst uns die Mathematik lieben lernen. So ließe sich die Mission des Mannes zusammenfassen, der Sätze sagt wie: „Wer sich verteidigt, ist ein Loser.“ Er heißt Günter M. Ziegler, ist Professor an der Freien Universität und zählt zu den bekanntesten Mathematikern Deutschlands. Er versteht sich als Botschafter eines selbstbewussten Fachs, das sich zu verstecken überhaupt keinen Grund hat, geschweige denn sich zu verteidigen. Er hält nichts von dem Ansatz: „Mathe hat euch in der Schule keinen Spaß gemacht, aber ich zeig euch jetzt mal, dass es doch irgendwie ganz schön sein kann.“ Aktiv herzeigen, so nennt er es, wenn er in Vorträgen, Interviews oder im Fernsehen aus unerwarteter Perspektive auf die Mathematik blickt – wenn er etwa anhand eines archäologischen Knochenfundes und dem Science-Fiction-Klassiker „2001: Odyssee im Weltraum“ die Faszination von Primzahlen erläutert. Dann erzählt er von einem Tierknochen, der über 20.000 Jahre alt ist und in den fünfziger Jahren am Ishango-See im Kongo gefunden wurde. Einkerbungen überziehen fast die gesamte Oberfläche des Artefaktes: Sie lassen sich als die Zahlen 11, 13, 17 und 19 interpretieren – alles Primzahlen. Ziegler stellt sich vor, dass es dieser Knochen ist, den der Frühmensch in der Eröffnungsszene von „2001“ Richtung Himmel schleudert – kurz vor dem Schnitt zum Raumtransporter. Es ist einer der berühmtesten Schnitte der Filmgeschichte, über Jahrtausende der Menschheitsgeschichte hinweg, von der Steinzeit in die futuristische Welt der Raumfahrt.

Nicht gut in Mathe? Damit kokettierte auch der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Nicht gut in Mathe? Damit kokettierte auch der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Bildquelle: istockphoto/EdStock

Ohne Mathematik kaum Fortschritte

Mathematik, so lautet Zieglers Botschaft, verbindet als Kulturgut und als Wissenschaft die Anfänge des menschlichen Denkens mit der modernen Technik, die uns den Weg in die Zukunft weist. Sie ist viel mehr als bloßes Rechnen; ohne sie wären die meisten Fortschritte in Wissenschaft und Wirtschaft undenkbar. Ziegler sagt es gerne so: „Mathe ist wie ein Diamant – richtig hart, wunderschön und industriell wertvoll.“

Allerdings bleiben Schönheit und Glanz des Diamanten vielen verborgen. Nach wie vor ist es gesellschaftlich akzeptiert, sich als Mathe-Null auszugeben.

„In Mathe war ich unterdurchschnittlich“, kokettierte der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, jedenfalls wird ihm das Zitat zugeschrieben, wie das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ berichtet. Ähnliches lassen selbst Bildungspolitiker manchmal verlauten, in der Hoffnung, volksnah zu wirken und nicht wie Streber.

Im Bestseller „Bildung – Alles was man wissen muss“ erklärte Autor und Anglistikprofessor Dietrich Schwanitz bereits vor Jahren die sozialen Regeln des Bildungsspiels, wie er es nennt. Demnach ist es vollkommen in Ordnung, bei einer Dinnerparty zuzugeben, dass man den thermodynamischen Hauptsatz noch nie verstanden habe – nicht aber, nach diesem gewissen Vincent van Gogh zu fragen. Etwa kein holländischer Fußballspieler? „So bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht“, schreibt Schwanitz.

Merkwürdige Vorurteile gegenüber Mathe

Auch wenn er es nicht explizit formuliert, klingt dabei mit: Die Mathematik trifft dasselbe Schicksal. Mitunter prahlen selbst Intellektuelle geradezu mit ihrer Rechenschwäche, während sie jeden verachten, der Adorno für ein italienisches Pasta-Gericht hält. Das SZ-Magazin nennt es „pubertäres Verhalten“ und wettert in einem „Plädoyer für eine verfemte Wissenschaft“: Es handele sich um nichts anderes „als eine Form des Analphabetismus, wenn ein großer Teil der Gesellschaft von den Errungenschaften einer Wissenschaft profitiert, ohne auch nur zu ahnen, was sich dahinter verbirgt.“ Ein merkwürdiges Vorurteil gegenüber der Mathematik verbindet Elite und breite Masse, eine Lust am Nichtwissen, am Herabsetzen. „Ein allgemeiner Konsens hat sich herausgebildet, der stillschweigend, aber massiv die Haltung zur Mathematik bestimmt“, warnt Hans Magnus Enzensberger. „Daß ihr Ausschluß aus der Sphäre der Kultur einer Art von intellektueller Kastration gleichkommt, scheint niemanden zu stören.“

Nun wäre Günter M. Ziegler nicht so erfolgreich als Botschafter seines Faches, wenn er sich davon beeindrucken oder gar einschüchtern lassen würde. Er und seine Kollegen entwickeln neue Konzepte, um bereits in der Schule den Blick auf die Mathematik zu weiten.

Für die herausragende Vermittlung seines Fachs erhielt Günter M. Ziegler 2008 den Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft.

Für die herausragende Vermittlung seines Fachs erhielt Günter M. Ziegler 2008 den Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft.
Bildquelle: David Ausserhofer

U-Bahn fahren ist Mathematik

„Wir wollen Schüler auf eine Entdeckungsreise schicken“, sagt er, „nur leider haben auch viele Mathelehrer aus den Wunderwelten der Mathematik nur schmale Ausschnitte kennengelernt.“

Genau an diesem Punkt setzt eine seiner Kolleginnen an: Brigitte Lutz-Westphal, Professorin für Didaktik der Mathematik an der Freien Universität. Sie studierte Musik und Mathematik, wurde Gymnasiallehrerin, entschied sich dann aber doch für eine Karriere in der Wissenschaft. Jetzt arbeitet sie von der Universität aus daran, den Mathe-Unterricht an den Schulen zu verbessern – und das heißt: ihn vor allem anschaulicher machen.

„Wir wollen den Schülern zeigen, wo überall Mathe stattfindet, ohne dass man es erwartet“, sagt Lutz-Westphal. Zum Beispiel im Alltag fast jedes Berliner Schülers: Auf einem Bus- und U-Bahn-Fahrplan den kürzesten oder schnellsten Schulweg zu ermitteln, das sei klassische Entscheidungsmathematik. Eine ein- bis zweiwöchige Unterrichtseinheit zur Wege-Optimierung lasse sich auf dieser Basis gestalten. Der didaktische Ansatz dahinter: konkret anfangen, eine Verbindung zur Lebenswelt der Schüler schaffen, dann immer abstrakter werden, bis sich ein Modell auch auf andere Situationen übertragen lässt. „Dafür braucht man zunächst keine Formeln“, sagt die Wissenschaftlerin, „vieles lässt sich bildlich darstellen, zum Beispiel als Graph.“ Allerdings bedeute Modellierung im Unterricht auch, dass die Schüler viel mehr selbst ausprobieren dürfen – was wiederum die Arbeit der Lehrer verändere. Denn sobald es nicht nur einen richtigen Lösungsweg gibt, muss der Pädagoge flexibel auf die Vorschläge der Kinder reagieren können; das erfordere einen souveränen Umgang mit dem Fachwissen.

Der Lehrer muss sich mehr als Moderator begreifen, weniger als Richter über Richtig und Falsch. Natürlich sei der Ansatz keine Allheil-Methode, sagt Lutz-Westphal: „Wir haben nicht für alle Probleme eine Lösung, aber wir versuchen, dort aktiv zu sein, wo wir etwas bewegen können.“

Dass viel schief läuft im Mathe-Unterricht, und das seit Jahren, zeigen unter anderem die Untersuchungen zur sogenannten Kapitänsaufgabe. Schon zu Beginn der achtziger Jahre stellten französische Wissenschaftlicher einigen Dutzend Grundschülern folgende Aufgabe: Auf einem Schiff sind 10 Ziegen und 26 Schafe, wie alt ist der Kapitän? Ein Großteil der Schüler rechnete fleißig, aber ziemlich stumpf: 26 + 10 = 36. Ähnliche Versuche in den vergangenen Jahrzehnten führten zu ähnlichen Ergebnissen, auch für deutsche Schüler – es wird einfach drauflos addiert. Viele Schüler scheinen aus dem Mathe-Unterricht vor allem die Lektion mitzunehmen, dass man Zahlen in eine Formel einsetzen muss. Besonders frappierend: „Je länger Kinder die Schule besuchen, desto schlimmer wird es“, sagt Lutz-Westphal. „Wir versuchen, gegen solche Reflexe anzugehen. Wir wollen zeigen, dass man in der Mathematik auch denken darf.“

Wie also umsteuern? Lutz-Westphal und ihr Kollege Ziegler sowie einige andere Wissenschaftler der Freien Universität setzen an bei der Aus- und Weiterbildung von Lehrern. Lutz-Westphal etwa leitet einen berufsbegleitenden Studiengang für fachfremde Lehrer, die sich zum Mathe-Lehrer weiterbilden lassen wollen: Sie werden für einen Tag pro Woche freigestellt und kommen für die Kurse auf den Campus. „Hier probieren wir neue Ausbildungskonzepte aus“, sagt die Didaktikerin.

Die Mathematik-Didaktikerin Brigitte Lutz-Westphal arbeitet daran, den Mathematikunterricht für Lehrer und Schüler pädagogisch sinnvoller zu gestalten.

Die Mathematik-Didaktikerin Brigitte Lutz-Westphal arbeitet daran, den Mathematikunterricht für Lehrer und Schüler pädagogisch sinnvoller zu gestalten.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Das Mathestudium reformieren und modernisieren

Besonders stolz sind Ziegler und Lutz-Westphal auf zwei Projekte, die die Deutsche Telekom Stiftung finanziert: das neu gegründete Deutsche Zentrum für Lehrerbildung Mathematik (DZLM) und das Projekt „MINT-Lehrerbildung neu denken“. Das DZLM ist deutschlandweit auf dem Gebiet der Lehrerfortbildung aktiv und erarbeitet Konzepte für die Weiterbildung von Fortbildnern. Das MINT-Lehrerbildungsprojekt ist an den MINTFachdidaktiken der Freien Universität angesiedelt. Das Teilprojekt von Lutz-Westphal beschäftigt sich damit, das Mathematikstudium für Lehramtsstudierende zu reformieren und modernisieren.

Angehende Lehrer sollen einen Blick für die Vielfalt und die Schönheit der Mathematik bekommen – ihr „fachliches Selbstbewusstsein“ soll gestärkt werden. Denn, so sagt es Ziegler: „Auch viele Lehrer kennen leider nur eine ziemlich eindimensionale Perspektive auf ihr Fach.“ Aber wer Schüler begeistern will, so Lutz-Westphal, muss ihre Ideen antizipieren und sich „fachlich frei bewegen können“.

Allerdings geht es nur langsam voran. Bis sich die Veränderungen der Lehrerausbildung in den Leistungstests von Schülern widerspiegeln, vergehen Jahre. Dazu kommt ein „neuralgischer Punkt“, wie es Lutz-Westphal nennt: der Übergang in die Praxis. Wer gut ausgebildet mit neuen Ideen von der Uni an die Schule komme, dem passiere es schon Mal, dass Lehrer-Kollegen über neue Methoden abfällig redeten. Auch zehn Jahre nach dem Pisa-Schock schwört manch ein Traditionalist im Klassenzimmer auf althergebrachte Methoden. Da müssen Junglehrer schon sehr gut ausgebildet und fachlich selbstbewusst sein.

Auch wenn es langsam vorangeht, es tut sich etwas, nicht nur an den Schulen, sondern in der ganzen Gesellschaft. Mittlerweile regiert eine Bundeskanzlerin, die als Jugendliche selbst an Mathe-Olympiaden teilnahm.

Die Zeitungen sind voll mit Sudoku-Seiten. Fernsehserien und Kinofilme machen Mathematiker, Programmierer und Naturwissenschaftler zu Helden – zum Beispiel in „A Beautiful Mind“ und der Sitcom „The Big Bang Theory“. Bücher über Mathematik werden zu Bestsellern, Ziegler hat auch selbst eines geschrieben. „Darf ich Zahlen?“ heißt es und darin erzählt er Geschichten aus der Mathematik, wie er sie seinen Freunden erklären würde. Das „Jahr der Mathematik“ 2008 hat er mitorganisiert, das dem Fach viel Aufmerksamkeit bescherte. „Wir haben eigentlich keinen Grund zu jammern“, sagt er.

Es geht den Botschaftern ihres Faches nicht darum, Mathematik als leicht darzustellen. Natürlich ist sie komplex – das macht ja gerade ihren Reiz aus. „Wer höhere Mathematik betreiben will, muss es lieben, sich durchzubeißen“, sagt Lutz-Westphal. Und Ziegler sprach in einem Vortrag mal darüber, dass Journalisten ihn immer wieder fragen: Können Sie in zwei Sätzen erklären, was Sie eigentlich tun? „Kann ich nicht“, sagte Ziegler selbstbewusst. Denn wenn es ginge, wäre die „Mathematik nur halb so spannend.“ Das muss Liebe sein.