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Islam, Scharia, Demokratie

Prof. Gudrun Krämer

Prof. Gudrun Krämer

Prof. Dr. Gudrun Krämer <br/> Foto: Marcus Bleyl

Prof. Dr. Gudrun Krämer Foto: Marcus Bleyl

Prof. Dr. Gudrun Krämer ist Islamwissenschaftlerin, kennt die Vereinbarkeit von politischer Mitbestimmung und islamischer Tradition und weiß, dass die Kreuzzüge die islamische Welt nicht erschütterten.

WIR Der islamischen Welt wird hier zu Lande ein starkes autokratisches und quasi antimodernes Beharrungsvermögen unterstellt. Tatsächlich gibt es aber eine lebhafte Debatte über Demokratie.

Gudrun Krämer Ja, die Frage ist nur: welche Demokratie? Der westliche Demokratiebegriff ist durch die bornierte, belehrende und mitunter brachiale Art, wie er vermittelt wird, in den Augen vieler so weit diskreditiert, dass er zumindest für sie nicht mehr zur Debatte steht. Gerade die reformerischen und liberalen Kräfte in islamischen Ländern wollen sich nicht als Bannerträger einer westlichen Moderne vereinnahmen lassen – oder als politische Partner des Westens, denn das kann sie in ihrer eigenen Gesellschaft nur diskreditieren. Nicht umsonst treten gerade sie als dezidierte Kritiker amerikanischer, israelischer und europäischer Politik auf. Im modernen politischen Islam sucht man indessen nach eigenen Lösungen. Und einen Pluralismus der Meinungen, Interessen und gesellschaftlichen Gruppen hat es in der islamischen Welt immer gegeben.

WIR Das lässt sich aus der islamischen Tradition ableiten?

Gudrun Krämer Politische Mitbestimmung lässt sich aus der islamischen Tradition durchaus ableiten. Das Prinzip der Konsultation, „shura“, beinhaltet die gegenseitige Beratung in allen Lebenslagen – dazu gehört auch die Beratung des Herrschers. Hier knüpfen moderne Theoretiker an und versuchen, demokratische Praxis – zum Beispiel in parlamentarischen Gremien – mit den Traditionen des Islam vereinbar zu machen. Die parlamentarische Mehrparteiendemokratie könnte demnach als eine zeitgemäße Form von shura gelten, solange sie sich auf dem Boden des Islam bzw. im Rahmen der Scharia bewegt.

WIR Welche Rolle spielt dabei die Scharia?

Krämer Die Scharia muss man verstehen als ein Gefüge von Normen und Werten, das nach Auffassung der Muslime auf göttlicher Satzung ruht und sich allein über den Koran als dem unverfälschten Wort Gottes und über die Prophetentradition, die Sunna, erschließt. Die Scharia regelt vor allem die Lebensführung in allen Sphären. Ein Gesetz ist sie nicht, ebenso wenig wie der Koran. Exklusiv wird sie übrigens nirgends angewendet, nicht einmal in der Islamischen Republik Iran oder in Saudi-Arabien, so laut manche Islamisten auch danach rufen.

WIR Würde nicht die exklusive Anwendung der Scharia auch einen islamischen Staat voraussetzen?

Gudrun Krämer Ja, aber auch der islamische Staat findet in der islamischen Welt keine ungeteilte Zustimmung. Man hört zwar Rufe nach „Islamischer Ordnung“ oder Aussagen wie „der Islam ist Religion und Staat“, und „das göttliche Gesetz soll gelten“. Aber solche großen Schlagworte sind sehr umstritten. Man sollte sie als Teil einer kultur- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung sehen, in der sich Islamisten nach innen wie nach außen gegen ihre Widersacher abgrenzen. Die Kritiker im Innern lehnen Verknüpfungen von religiöser Überzeugung und öffentlicher Ordnung ohnehin ab. Die Fixierung der Islamisten auf diesseitiges Handeln, auf Fragen des Rechts, der Politik und damit in letzter Konsequenz der Macht wird auch in muslimischen Kreisen vielfach stark kritisiert.

WIR Das Verhältnis des Islam zum Westen wird heute fast nur noch als ein Verhältnis dichotomer Auseinandersetzung aufgefasst: „der“ Islam gegen „den“ Westen.

Gudrun Krämer Misstrauen und Angst auf beiden Seiten beherrschen die Debatte, aber das war nicht immer so. Europa war zum einen für die islamische Welt bis in die Neuzeit hinein gar nicht der wichtigste Bezugspunkt. Zwar hat sich der Islam im Vorderen Orient in stetiger Auseinandersetzung mit Juden, Christen und Zoroastriern herausgebildet. Aber die repräsentierten nicht Europa oder „den Westen“. Natürlich gab es im Zuge dieser Begegnungen politische Konflikte und manchmal waren die Verflechtungen zwischen Europa und islamischen Gesellschaften Ergebnis dieser Konflikte. So manches Meisterwerk der materiellen Kultur verdankt sich verschleppten Baumeistern und Handwerkern. Aber man hat sich nicht am christlichen Europa abgearbeitet – das waren Orte unter anderen. Iran und Zentralasien spielten über Jahrhunderte eine zentrale Rolle, auf gewissen Feldern auch Indien. Für das Bagdader Kalifat * war „Europa“ weit weg, Wilder Westen sozusagen.

WIR Einige Islamisten sprechen von einer „Kreuzfahrer- Allianz“, wenn sie den Westen meinen, und Bücher tragen Titel wie „Der Kreuzzug der Barbaren“.

Gudrun Krämer Die Kreuzzüge waren für Europa viel bedeutsamer als für die islamische Welt – abgesehen von den unmittelbar betroffenen Gebieten, wo muslimische Fürsten und Gelehrte im Namen des Jihad, des Heiligen Kampfes, gegen die Kreuzfahrer mobil machten. Der Kalif in Bagdad war indessen nicht beteiligt; er blickte nach Osten, nach Iran und Transoxanien. Es waren nicht die Kreuzzüge, die die islamische Welt erschütterten. Erst der Mongolensturm im 13. und 14. Jahrhunderts hob sie aus den Fugen. Und erschütternd wirkte vor allem der europäische Kolonialismus seit dem 18. Jahrhundert. Die Wirkungen waren umfassend, tiefgreifend, traumatisch, und sie sind bis heute lebendig. Gerade für die arabische Welt ist die Kolonialzeit jüngste Geschichte – wir übersehen leicht, dass Menschen dort der Kolonialismus zeitlich näher ist als den Deutschen das Dritte Reich. Die Wirkungen des Kolonialismus in die Gegenwart hinein sind widersprüchlich. Sie unterfüttern zum einen die Wahrnehmung westlicher Politik und Einflussnahme. Sie sind aber zugleich der Boden für enge Verbindungen, die Migrationströme bestimmen, die politische und strategische Kooperation stärken und die kulturelle Kontakte prägen.

Interview: Susanne Weiss