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Amerikanisches Nord-Südgefälle (II. Teil)

In Lateinamerika stellt sich niemand ernsthaft die Frage, warum Fußball so wichtig ist.

Dr. Ingrid Kummels

Dr. Ingrid Kummels

PD Dr. Ingrid Kummels ist Kulturanthropologin am Lateinamerika-Institut, Foto: von Richthofen

PD Dr. Ingrid Kummels ist Kulturanthropologin am Lateinamerika-Institut, Foto: von Richthofen

Hat es nicht dort überhaupt seinen Ursprung? Gab es nicht schon vor dreieinhalb Tausend Jahren im heutigen Mexiko ein Ballspiel namens ulama, bei dem zwei Mannschaften versuchen mussten, einen Naturkautschukball nur mit Hüften, Gesäß und Knien durch einen steinernen Ring zu stoßen? Könnten nicht aztekische Spieler, die das Spiel 1528 zur Erbauung Kaiser Karls V. präsentierten, diese Urform des Fußballs in die Alte Welt gebracht haben?

Alles Unfug, sagen Sporthistoriker und verweisen auf den Bruch zwischen präkolonialer Sportart, die wegen ihres religiösen Gehalts von katholischen Missionaren verfolgt wurde, und moderner Disziplin, die von Briten und Franzosen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach Lateinamerika gebracht wurde. Warum aber schlossen sich junge Uruguayer, Argentinier und Brasilianer ausgerechnet in Fußballvereinen zusammen? 1900 vermeldete der „Buenos Aires Herald“, Argentinier seien aufgrund „ihrer natürlichen Neigung zu Exaltiertheit“ eher dem Fußball als dem Cricket zugeneigt. Der Fußballexperte Eduardo Galeano nennt mit Blick auf Uruguay die progressive Bildungspolitik, die früh den Sport in den Unterricht mit einband. Das habe es dem winzigen Land 1924 ermöglicht, mit dem Gewinn der Olympia-Goldmedaille 1924 zur Fußball-Großmacht aufzusteigen. Südamerika hatte jetzt einen festen Platz auf der Fußball-Weltkarte.

Es waren zunächst die Eliten, die Freude daran hatten, den ehemaligen Lehrmeistern „ihr“ Spiel abzuluchsen. Sie bereiteten den jungen Briten, die regelmäßig zu Ehren von Königin Victorias Geburtstag aufspielten, erste bittere Niederlagen. Talente aus der Unterschicht, besonders Schwarze, wurden per Amateurregelung vom prestigeträchtigen Kicken ferngehalten. Erst der zunehmende Erfolgszwang löste in den 30er-Jahren einen Demokratisierungsprozess aus. Neue Rollenvorbilder lebten den Traum vom Aufstieg aus der Gosse vor – auf dem Weg zum unsterblichen Idol im Fußballolymp. Fútbol oder futebol wurde zum Selbstläufer. Die erste globale Fußball-Ikone, der Brasilianer Pelé, kam aus äußerst bescheidenen Verhältnissen, genau wie die zweite, der Argentinier Maradona. Seit 1958 haben sie einen nicht enden wollenden Strom ihnen nacheifernder Talente ausgelöst.

Die Brasilianisierung des Fußballs

Heute ist Fußball in Lateinamerika mehr als ein Spiel. Es ist eine gesellschaftliche Macht, und bedeutende Spiele werden nicht selten zu nationalen Schicksalsfragen erhoben. In Brasilien hat keine politische Partei je so lang gelebt wie die Fußballvereine; im Gegensatz zu Fußball gelten Justiz und Polizeisystem als korrupt, und nur der Fußball kann Angehörige aller Schichten miteinander vereinen.

Lateinamerikanischer Fußball ist schon früh in ein globales Gefüge eingebettet.

Bereits seit den 30er-Jahren wurden argentinische Spieler von italienischen Clubs eingekauft, wenig später kamen die ersten europäischen Trainer nach Amerika. Die Erfolge begründeten den Mythos eines originär lateinamerikanischen Fußballstils, bei dem die Spieler ein Feuerwerk an Ballkunststücken entfachen und die Mannschaften mit einer Mischung aus ungezügelter Spiellaune und magischer Ballbeherrschung stets den Sieg davontragen. Dieser Mythos trägt zur weltweiten Brasilianisierung des Fußballs bei. Mehr als 6.000 brasilianische Profis spielen heute in über 66 Ländern, allein in Deutschland sind über 20 Brasilianer in der ersten Liga aktiv. Mit paradoxen Folgen in Lateinamerika. Viele der dortigen Clubs sind zu Export-Gesellschaften geworden, die quasi industriell frische Balltalente exportieren, aber dennoch immer ärmer werden. Der Ausverkauf selbst und generelle wirtschaftliche Probleme sind die Ursachen. Und ihre Anhänger sehen sich lieber per Kabelfernsehen die Spiele der mit Latino-Kickern besetzten europäischen Top-Vereine an.

Den zentralen Platz des Fußballs in der nationalen Imagination können diese Krisen aber nicht erschüttern. Die weltweite Bewunderung des Genius von Spielern wie Ronaldo und Ronaldinho halten die Diskussion um einen lateinamerikanischen Sonderweg im Sport in Bewegung – vergleichbar mit dem in der Politik. Fußball bleibt das Symbol für internationale Anerkennung, und Lateinamerika bleibt fußballverrückt.