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Ein Yanqui in Santiago

"Chicago Boys" in Santiago de Chile, Foto: Gottschalk

"Chicago Boys" in Santiago de Chile, Foto: Gottschalk

"Chicago Boys" in Santiago de Chile

"Chicago Boys" in Santiago de Chile

Soziale Beziehungen und Praktiken, politische Loyalitäten und Machtstrukturen jenseits des Nationalstaates oder über dessen Grenzen hinweg sind keine vollkommen neuen Phänomene.

Als Anfang des 20. Jahrhunderts Investitionen aus den USA in Lateinamerika neue Rekordwerte erreichten, als Jazzmusik in den Hauptstädten des Subkontinents für Furore sorgte, als Hollywood die Herzen der Kinobesucher eroberte und der US-Amerikaner Jack Dempsey den argentinischen Boxchampion Luis Angel Firpo nach wenigen Minuten k.o. schlug, wurde erstmals in Lateinamerika breit in der Öffentlichkeit darüber debattiert, was die vielfältigen Begegnungen mit den US-amerikanischen Einflüssen, die „Norte Americanización“ bedeuten könnten.

Im von den Vereinigten Staaten weit entfernten Chile gewannen diese Debatten besondere Intensität. Als schließlich gegen Ende des 20. Jahrhunderts, im Jahr 1997, der chilenische Ex-Diktator Augusto Pinochet die Militärparade zum Nationalfeiertag am 19. September abnahm und sich von einem „Huaso“, einem chilenischen Cowboy, den traditionellen „Cacho de chicha“ (ein mit Weinmost gefülltes Horn) reichen ließ, blendete das chilenische Nationalfernsehen wie zufällig eine überdimensionale Coca-Cola-Werbung ein, deren Rot sich effektvoll vom Hintergrund der schneebedeckten Andenkette abhob. Zu dieser Zeit hatte die Nordamerikanisierung derart ungeahnte Ausmaße angenommen und war so in alle Sphären des Lebens eingedrungen, dass sie kaum noch sui generis wahrgenommen oder problematisiert, sondern vom neuen Konzept der „Globalisierung“ überlagert und verdrängt wurde.

Das konventionelle Modell der Nordamerikanisierung wurde durch die Dichotomien bestimmt, mit denen es die Welt in Zentren und Peripherien, in Nord und Süd, in Geber und Empfänger oder wahlweise in Täter und Opfer einteilte. Diesen Ansätzen war gemein, dass sie die Ebene der Rezipienten oder der Opfer kaum beachteten. Doch die scharfen Trennungen von modern-traditional, imperialistisch-abhängig sind längst nicht mehr haltbar, schon gar nicht, wenn von Kultur die Rede ist. Die US-amerikanischen Einflüsse wurden von der so genannten Peripherie nicht einfach gezwungenermaßen übernommen. Vielmehr wurden sie internalisiert und angeeignet und haben sich dabei verändert.

Das Resultat dieser Begegnung sind nicht Angleichungen, sondern neue kulturelle Symbole: heterogen, hybrid, unbeabsichtigt und oft auch widersprüchlich. Der chilenische Kultursoziologe José Joaquín Brunner beschreibt, wie umfassend diese Aneignung der Ausgangsformen des Nordens entlang lokaler Rezeptionscodes im Süden tatsächlich ist. Die neuen kulturellen Synthesen, die dabei entstehen, betreffen alle Lebensbereiche.

„Así ha occurido con la sociología, con el arte pop, con la música rock, con el cine, con la informática, con los modelos de la universidad, con el neoliberalismo, con los últimos medicamentos, las armas y, en largo plazo, con nuestra propia incorporación en la modernidad.“

Entscheidend ist dabei, wie und von wem beispielsweise als US-amerikanisch wahrgenommene Wissensbestände, US-amerikanisches Kapital oder kulturelle Symbole selektiv interpretiert, rekonstruiert und benutzt werden. Dieser Akt der Aneignung findet in höchst unterschiedlichen Kontexten statt, die von euphorischer Zustimmung zu eifernder Verdammung, von „US-Amerikanismus“ zu „Anti-US-Amerikanismus“, reichen können. Ein Spannungsfeld, das auch die chilenische Begegnung mit den Vereinigten Staaten im gesamten 20. Jahrhundert prägte, war das Bewusstsein ökonomisch abhängig zu sein, gepaart mit einem Gefühl kultureller Überlegenheit, ein Gefühl, das sich schon früh in der Bezeichnung „yanqui“ für die US-Amerikaner niederschlug.

Um solche Prozesse der Aneignung und der Entstehung dieser kulturellen Synthesen verstehen zu können, rücken heute neue Subjekte in den Mittelpunkt der Analyse des Historikers. Manager, Journalisten, Sozialreformer und Intellektuelle, aber auch Arbeiter, Personen, deren Handeln und Wahrnehmungen durch transnationale Zusammenhänge bestimmt werden. Diese Personen handeln in Kontaktzonen, in denen Bilder, Stereotype und Vorurteile über das „Andere“ oder „Fremde“ umdefiniert, angeeignet und abgesondert werden. Das geschieht oft nicht freiwillig, sondern ist das Produkt von Spannungen, die sich aus dem Zusammenprall von dem globalen Modernisierungsprozess entlehnten Innovationen mit lokalen Sitten und Gebräuchen ergeben, beispielsweise von ausländischen Unternehmensphilosophien mit lokalen Moralvorstellungen. Und dieser Prozess ist niemals ein einseitiger Prozess. Die Nordamerikanisierung Lateinamerikas geht schon seit geraumer Zeit mit der Lateinamerikanisierung der USA einher.

Prof. Stefan Rinke, Geschichtswissenschaft