Eine Frage der Existenz
Gonzalo Ramirez, 24 Jahre alt, wohnt im Norden Nicaraguas in der Region des Abajo Flusses – ein Staatsbürger ohne Papiere.
„Ich finde keine Arbeit, weil ich keinen Personalausweis habe. Außerdem kann ich nicht aus Bilvi weg, denn ohne irgendwelche Ausweispapiere kannst Du nicht verreisen. Ich konnte mich auch nicht an einer technischen Universität einschreiben und kann keine Schecks in der Bank einlösen, denn die Angestellten dort misstrauen mir.“
Was der 24-jährige Gonzalo beschreibt, ist Realität für 75 Millionen Lateinamerikaner, Männer wie Frauen, insgesamt 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Weltweit leben etwa 41 Prozent aller Staatsbürger ohne Geburtsurkunde oder Ausweispapiere. Was auf den ersten Blick nach einer administrativen Lappalie aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eklatante Missachtung dieser Bürger. Ohne Papiere haben sie kein Wahlrecht, kein Bankkonto, sie können nicht heiraten, erreichen keinen Schulabschluss und bekommen keine Garantien für staatliche Beihilfen zu Ernährung, Bildung und Gesundheit.
Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Sie zeigt große Armut und eine besonders für Lateinamerika charakteristische soziale Ungleichheit, welche die „Indocumentados“ des Halbkontinents aufs soziale Abstellgleis schiebt. Die Ursachen dieses in Lateinamerika nicht erst seit gestern bekannten Problems sind vielfältig. Meist fehlt das Geld, um Ausweisgebühren bezahlen zu können, in Kolumbien und Haiti sind es beispielsweise politische Konflikte, die zu diesem ‚papierlosen’ Zustand führen. Oft ist es auch das Leben in schlecht zugänglichen Gebieten, seien es Gebirgszüge in Peru oder das Amazonasbecken in Brasilien. Bei nicht verheirateten Paaren kommt eine weitere Hürde bei der Geburtsregistrierung hinzu, wenn die Männer die Vaterschaft nicht anerkennen. In anderen Fällen sind schon die Eltern nicht gemeldet und haben keine Papiere – also bekommt auch das Kind keine.
In zentral organisierten Verwaltungssystemen ist darüber hinaus das Personal häufig schlecht ausgebildet oder unterbezahlt; Arbeiten wie das Ausstellen von Ausweispapieren werden nicht angemessen erledigt. Politisch prekär für Lateinamerika ist das fehlende Vertrauen der Betroffenen – der bolivianischen Indigena, des schwarzen Landarbeiters oder der Straßenverkäuferin in Bogota – in staatliche Institutionen und in Demokratie.
Was also können Staaten und internationale Organisationen tun, um Menschen aus dem rechtlichen Abseits zu führen? Einige Länder, zum Beispiel Kolumbien und Honduras, stellen die erste Kopie der Geburtsurkunde bereits kostenlos aus. In Chile oder Nicaragua fahren mobile Registrierungsstellen in abgelegene Gebiete, um die dort Lebenden zu erreichen. UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, ist seit Jahren weltweit mit Aufklärungskampagnen aktiv. Und die Inter-Amerikanische Entwicklungsbank (IDB) entwickelt derzeit Instrumente, die staatsbürgerliche Registrierung im Projektmanagement eines Entwicklungskredites mitberücksichtigen sollen. Doch diese externen Initiativen bleiben Kosmetik, so lange sich nicht die Regierungen selbst zu ihren Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern bekennen, die richtigen politische Prioritäten setzen und die dazu notwendigen Mittel bereitstellen.
Bettina Boelke