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Charakterfrage

Eine symbolische Hauptstadt oder eine mit Macht?

Die Standorte des politischen Berlin von Bundes regierung, Bundestag, Bundespräsidialamt, Bundesrat, Bundeskanzleramt, der Parteien, der Länderdependancen und der Botschaften liegen weiträumig über die Innenstadt verteilt.

Die Standorte des politischen Berlin von Bundes regierung, Bundestag, Bundespräsidialamt, Bundesrat, Bundeskanzleramt, der Parteien, der Länderdependancen und der Botschaften liegen weiträumig über die Innenstadt verteilt.
Bildquelle: Gottschalk

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Die Hauptstadtkontroverse der Deutschen hat eine lange Geschichte, und sie ist noch nicht zu Ende. Dass Berlin wieder Hauptstadt ist, ist nun – zum Verdruss einiger – nicht mehr zu ändern. Aber welche Art Hauptstadt soll es sein? Eine mächtige Hauptstadt oder eine symbolische?

Die Ressentiments, die der Stadt an der Spree entgegenschlugen, als es 1990 um die Entscheidung ging – Bonner oder Berliner Republik – waren vielfältig. Seit 1701 ist Preußen europäische Großmacht, Berlin, seine Hauptstadt, gehörte damit zu den europäischen Hauptstädten. Es blieb dennoch lange Zeit nur eine Residenzstadt unter vielen anderen, und im deutschsprachigen Raum in seiner Bedeutung weit hinter Wien zurück. Man betrachtete die Stadt als Parvenue, Adenauer wird diese Figur später wieder aufnehmen. Die Bedeutung Berlins ändert sich erst mit der Industrialisierung und schließlich mit der verspäteten Nationwerdung Deutschlands.

In einer relativ kurzen Zeitspanne von nur wenigen Jahrzehnten entwickelt sich die Stadt an der Spree zu einer der führenden Metropolen der damaligen Welt, zur bedeutendsten Industrieregion neben dem Ruhrgebiet, zu einem europäischen Verkehrsknoten; sie wird der führende Finanz- und Medienplatz in Deutschland, ein Wissenschaftszentrum, aus dem zahlreiche Nobelpreisträger hervorgehen. Berlin wird zu einem Zentrum des Bürgertums und der Arbeiterbewegung und nicht zuletzt zu jenem kulturellen Zentrum, das im Begriff „Golden Twenties“ sprichwörtliche Berühmtheit erlangte.

Synergieeffekte setzten ein. Die Funktion trägt materielle Prozesse. Berlin wächst und entwickelt sich sprunghaft zur Supermetropole. Aber Berlin ist niemals – wie Paris oder London – ein zentralistisches Wesen geworden, hat niemals die Ressourcen der Umgebung absorbiert, wie das in Frankreich oder Großbritannien der Fall war. Im Zuge der Industrialisierung sind andere Städte in Deutschland mitgewachsen. Seinen Aufstieg verdankt Berlin der heraufziehen bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft, der allgemeinen Dynamik der Zeit. Der preußische Adel blieb reserviert bis ängstlich. Und auf der Ebene der politischen Symbolik blieb man auf Distanz. In Potsdam fühlte man sich wohler. Nichts kann diesen Sachverhalt mehr verdeutlichen als die Hauptstadtproklamation der Stadt. Berlin wurde – im Zuge der Reichsgründung wie der Kaiserproklamation – in Versailles, dem Symbol ort des monarchistischen Europa schlechthin, zur Hauptstadt des Deutschen Reiches ausgerufen. Die Berliner erfahren erst später davon.

Das Misstrauen der Mächtigen

Später sind es die Nazis, die der Stadt mit Misstrauen begegnen. Für sie war Berlin Zentrum der verhassten Republik, ein Ort der Dekadenz, des jüdischen Finanzkapitals und der entarteten Kunst, des Liberalismus und des Kommunismus. Nicht umsonst planten sie die Vernichtung der Stadt und den Neuaufbau zu einem gigantomanischen Germania. Ihre heimliche Hauptstadt blieb München, Ort der Parteitage war Nürnberg.

Das Verhältnis der Nazis zu Berlin war funktional, die Stadt wurde als Machtkulisse benutzt. In Berlin gab es weniger Nazis als anderswo – erst die Olympischen Spiele 1936 brachten Zuwachs. Da hatten die Berliner aber noch keine Ahnung, dass ihre Stadt abgerissen werden sollten. Berlin war zwar Hauptstadt, aber es war auch das Zentrum des Widerstandes. Tatsächlich begann mit den Nazis der Niedergang Berlins. Während sie Berlin zum Zentrum Deutschlands ausriefen und zu ihrer Machtzentrale erkoren, leiteten sie die innere Aushöhlung der Stadt durch die Vertreibung und Ermordung eines Großteils ihrer Eliten ein. Das hinderte 1990 den einen oder anderen nicht, zu erklären, Berlin könne nicht Hauptstadt werden, weil es die Hauptstadt der Nazis gewesen sei. Ein verwegenes Argument.

Im 19. Jahrhundert hätte die deutsche Kleinstaatenmentalität lieber etwas Kleineres als Haupstadt gehabt. Ein ideales Symbol des fürstlichen Deutschland, gegen die aufstrebenden freien Städte, gegen „die Massen“ – jenseits des Pöbels regiert sich’s nun mal besser. Es verwundert schon, wieviel von diesem Argumentations haushalt in der neuerlichen Hauptstadtfrage erhalten gebleiben war. In der Großstadtkritik vor allem verbanden sich konservative Massenskepsis und linksintellektuelle Kritik an der Moderne. Damals wie heute.

Sinkendes Schiff

So unangebracht das Naziargument war, so unangemessen war der immer wieder bemühte Vergleich zwischen der Metropole von einst und dem westlichen Teil der Stadt, dem nach dem Mauerbau alles, was zur Elite gezählt wurde, den Rücken gekehrt hatte. Bis auf ein einziges Großunternehmen, Schering, zogen alle weg, selbst alt eingesessene originäre Berliner Firmen wie Siemens machten sich davon, ein Aderlass ohne Beispiel. Der wirtschaftliche Niedergang wurde kompensiert durch Infusionen aus Bonn, der westdeutschen kleinen Stadt, die zum Regierungssitz der Bundesrepublik wurde und die nach dem Willen vieler auch hätte bleiben sollen. Und wann immer es um Umzüge von Ministerien oder Bundesbehörden vom Rhein an die Spree geht, wird Alarm geschlagen wegen angeblicher zentralistischer Gefahren. Lieber verschleudert man Milliarden jährlich für unnütze und dysfunktionale Doppelstrukturen.

Trotz alledem blieb Berlin die interessanteste und lebendigste deutsche Stadt, viele Kreative und Intellektuelle wurden magisch von ihr angezogen und bescherten der Stadt bis heute ihr unvergleichliches offenes Flair, in dem auch Platz für ordentliche Kleinbürger ist. Berlin ist das Zentrum der Hochkultur, vieler Subkulturen und ein Zentrum der Wissenschaft.

Welche Hauptstadt?

Die Hauptstadtentscheidung schließlich hatte Folgen, wenn auch Berlin immer noch eine symbolische Hauptstadt ist. Die Eliten beziehen sich nicht auf Spreeathen; sie bleiben in Frankfurt, Düsseldorf, München, in ihren Kleinstaaten. Einmal mehr hatte Berlin Widrigkeiten zu schultern wie keine andere deutsche Stadt jemals – was sie aber nicht vor Häme bewahrte. Fast über Nacht wurden die Subventionen gestrichen, die verbliebene Industrie wanderte wiederum ab, für viele Bürger der östlichen Stadthälfte folgte auf den Freudentaumel der soziale Absturz, die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe, und in den 90er-Jahren überholt der Westen sogar den Osten. Sie können’s halt nicht, hieß es. – Die beiden größten deutschen Städte zu einer zu machen.

Man möchte nicht, dass Berlin eine gesellschaftliche Entwicklung hat. Man will nicht umziehen. Berlin bleibt eine Hauptstadt ohne Macht. Die Zeitungen sind woanders, die Industrie, Versicherungen, Banken ebenfalls … Und nach wie vor sieht man aus Hamburg, Stuttgart oder Düsseldorf schmallippig auf den Parvenue herab, der zur Topadresse für Menschen aus allen anderen Teilen der Welt geworden ist und unglaubliche Besucherzahlen verzeichnet … Die Abstimmung mit den Füßen geht eben manchmal anders aus.

Von Werner Süss