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Die vier Jahreszeiten

Oder das Potenzial der Mathematik als Strukturwissenschaft

Großräumig gemittelte Temperaturänderungen verteilen sich im Winter weitgehend zufällig über Kontinente und Ozeane, Foto: photocase

Großräumig gemittelte Temperaturänderungen verteilen sich im Winter weitgehend zufällig über Kontinente und Ozeane, Foto: photocase

Winter

Winter

Wenn wir komplexe Systeme modellieren, taucht immer wieder eine Frage auf: Wie akkumulieren sich kleinskalige, kurzzeitige Effekte zu einem Muster, das großskalige, langfristige Folgen hat?

Diese Frage taucht in so unterschiedlichen Disziplinen wie der Atmosphärenforschung, den Materialwissenschaften oder der Molekularbiologie auf, und mit einer Reihe gemeinsamer mathematischer Methoden versucht man, Antworten zu finden. Die zunächst unerwarteten methodischen Gemeinsamkeiten ergeben sich aus der Ähnlichkeit der Probleme. Die strukturellen Gemeinsamkeiten werden schnell offenbar, wenn man von der Sprachwelt der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin absieht und sich nur auf die mathematische Abstraktion der Sachverhalte beschränkt, die man untersuchen will.

Ein schönes Beispiel ergab sich kürzlich aus einem Gespräch zwischen Mathematikern, die in so verschiedenen Bereichen wie der Moleküldynamik und der Klimaforschung arbeiten. Die eine Arbeitsgruppe hatte eine neue Technik zur statistischen Analyse komplexer Datenzeitreihen entwickelt.

Statistische Analyse komplexer Datenzeitreihen

Mit dieser Technik ließen sich interessante Fragen aus dem Bereich der Moleküldynamik erstmals effizient beantworten. Nun liefern Langzeitbeobachtungen des Wettergeschehens, wie sie seit Jahrzehnten von Wetterdiensten in aller Welt zusammen gestellt werden, auch sehr lange und komplexeZeitreihen. Da lag die Frage nahe, was denn die neue Analysetechnik ergäbe, wenn man sie einmal „blind“, also ohne spezifisch meteorologische Vorgaben, auf diese Wetterzeitreihen anwendete. Der wissenschaftliche Mitarbeiter, der diese kleine Studie durchführte, meldete sich nach wenigen Tagen stolz mit einer Erfolgsmeldung.
Das Programm hatte erste Ergebnisse abgeliefert: Es hatte Frühling, Sommer, Herbst und Winter entdeckt.
Und das war noch nicht alles. Es konnte die Dauer der Jahreszeiten für jedes einzelne Jahr angeben und fand auf diese Weise eine zweijährige Oszillation, die geradewegs der wohlbekannten „Nord atlantischen Oszillation“ zu entsprechen schien*.

Darüber hinaus gab das Programm – das eigentlich für die Untersuchung von Molekülen geschaffen war – für jede der Jahreszeiten ein sehr stark vereinfachtes stochastisches (also auf dem Zufallsprinzip aufbauendes) Ersatzmodell an, das die statistischen Eigenschaften der täglichen Wetterfluktuationen mit erstaunlicher Genauigkeit und zudem in ihrer räumlichen Ausprägung widerspiegeln konnte. Wir wissen zum Beispiel, dass im Sommer die Temperaturen gleichmäßig über die Kontinente verteilt steigen, während sich im Winter großräumig gemittelte Temperaturänderungen weit gehend zufällig über Kontinente und Ozeane verteilen. Und das Programm lieferte die räumlichen Korrelationsmuster dazu.

What else is new?

„What else is new?“, könnten Meteorologen fragen. Und der Erfolg ist natürlich ein anderer. Diese zu nächst nicht wirklich überraschenden Ergebnisse zeigen, wie eine mathematische Analysetechnik, die in der einen Disziplin entwickelt wurde, auf Anhieb interessante und sinnvolle Aussagen in einer völlig anderen Disziplin liefern kann. Immerhin entdeckte das Progamm aus dem Stand heraus einige Phänomene, über die seit langem in der Meteorologie diskutiert wird, und es lieferte gleichzeitig ein effizientes, datenbasiertes Ersatzmodell.
Hier offenbart sich das Potenzial der Mathematik als einer Strukturwissenschaft. Sie kann die immer notwendiger werdenden Prozesse der interdisziplinären Forschung befördern, indem sie sehr allgemein anwendbare effiziente Werkzeuge bereitstellt.

* In mehrjährigen Zyklen lösen sich Winterwetterlagen mit großen Druckunterschieden zwischen Azorenhoch und Islandtief mit Wintern mit nur geringen Unterschieden ab. Dieses Klimaduo bestimmt seit etwa 120.000 Jahren das Wetter Zentraleuropas und des Nahen Ostens.

Rupert Klein