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Zeitungsgeschichten

Wie aus der Zeitung wurde was sie ist

Zeitung

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Die Neugier sei übermächtig, klagte der preußische Kronjurist Johann Peter Ludewig (1668-1743), "daß nun fast kein Handwercks Mann der des lesens und schreibens kundig ist / sich findet / der nicht auch gern wochentlich seine Zeitungen lesen" will, und dadurch "Gelegenheit zu allerhand unnützen und ungebührlichen auch öffters in der Republique schädlichen discursen und urtheilen" hat.

Wenige Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen im Druck hatte die Zeitung ihren Platz in einer großen Gemeinschaft von Lesern gefunden, unter Händlern und Hofleuten, Akademikern und sogar Analphabeten, denn ihnen wurden die Artikel in Schenken, Werkstätten oder Caffé-Häusern vorgelesen. Professoren verwendeten um 1700 einige der damals sechzig periodisch erscheinenden Blätter für ihre Vorlesungen.

In einem "perpetuum über die wöchentlichen Gazetten" belehrten sie ihre Studenten über den Informationswert sowie die richtige Lektüre, räsonierten über den Nachrichtenhunger der Zeitgenossen, aber auch über die Missbrauchsmöglichkeiten des allgemein zugänglichen Mediums und die Zensurpolitik der Obrigkeit, die damit die Verbreitung von "eitle, sündige und schädliche Fürwitz" zu verhindern suchte.

Europäische Aufklärungsgüter

Seit dem 18. Jahrhundert trugen die Zeitungen zur Verbreitung aufklärerisch-freiheitlicher Ideen im Alltag der Stadt und mit der Rezeption der Französischen Revolution sogar zunehmend auf dem Land bei. Gemeinsame Lektüre in Lesekabinetten und Lesehallen fördete Gespräche zwischen Adel und Bürgertum und initiierte und verstärkte die Politisierungsprozesse in Europa.

Der "Hamburger unpartheyische Correspondent" fand kurz nach 1800 mehr als 55.000 Käufer und wohl mehr als eine Viertelmillion Leser. Zur selben Zeit druckte das auflagenstärkste englische Blatt, die "Times", 8.000 Zeitungen. Allmählich setzte sich die allgemeine Elementarschulbildung durch, so dass die Analphabetenquote unter 20% sank.

Das Bildungsniveau von Lesern und Journalisten stieg, und die Zahl der Zeitungen vermehrte sich bis zur Jahrhundertmitte auf über 1.200 mit einem Jahresumfang von rund eintausend Seiten. Der Zeitungspreis fiel auf ein Viertel. Darüber hinaus trug die Lektüre der Lokalpresse dazu bei, dass die Prozesse der Verstädterung weit gehend sozialverträglich abliefen.

Die Entstehung der Pressefreiheit und ihr vorübergehendes Ende

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte die Zeitung zunehmend die Diskussionen über Konstitution und Pressefreiheit, Parlamentarisierung, Demokratisierung und über die Bedeutung von Parteien mit prägen. Das Medium stieg zum ersten Instrument der "Erwachsenenbildung" auf und fundierte einen langfristigen Prozess, der vom gemeinsamen zum individuellen Lesen führte.

Die Ausgaben der durch Annoncen finanzierten "Generalanzeiger"-Presse, die sich keiner Partei verpflichtet fühlten, erreichten an der Wende zum 20. Jahrhundert mehrere hunderttausend Abonnenten und Käufer. Zu den Lesern zählten von nun an vermehrt Frauen. Ihnen boten die Zeitungen in der Weimarer Republik an bis zu sieben Tagen in der Woche in einem nochmals ausgedehnten Spektrum von Morgens-, Mittags-, Abends-, Nacht- und Postausgaben nicht nur spezifische Themen an, sondern sie nahmen sie auch als Wählerinnen ernst.

1932 erzielten 4.275 deutsche Zeitungen eine Gesamtauflage von knapp 17 Millionen. Nur wenige Monate später begann mit dem Verbot der kommunistischen, sozialistischen und linksbürgerlichen Publikationen der Weg in die nationalsozialistische Zensur. Es folgten Enteignungen und Zwangsverkäufe, Verhaftungen, wirtschaftliche Pressionen, Vertreibungen ins Exil und Ermordungen.

Am Ende befanden sich über 85% der Auflage aller Zeitungen im Besitz der Machthaber. Analyse, Kritik und Argumentation verschwanden aus den Blättern, stattdessen wurde die Leserschaft mit systemkonformer „Berichterstattung" beliefert.

In den westlichen Besatzungszonen schufen die Alliierten nach 1945 Grundlagen für eine freiheitliche Kommunikations- und Medienpolitik. In der sowjetisch besetzten Zone galten die Prinzipien einer propagandistisch streng reglementierten Politik, ein System, das die DDR fortsetzte. Den Lesern waren allerdings die westlichen Rundfunk- und Fernsehprogramme relativ leicht zugänglich. Das führte dazu, dass man gelegentlich über etwas berichten musste, was man ursprünglich hatte unterdrücken wollen: „Gelegenheit zu geben zu allerhand unnützen und ungebührlichen auch öffters in der Republique schädlichen discursen und urtheilen".

Die höchst persönliche Zeitung

Im kommenden Jahr wird in Mainz das vierhundertjährige Bestehen der Zeitung in einer großen Ausstellung gefeiert. Der Rückblick erfolgt in den Tagen der größten Herausforderung für Verlage, Redaktionen und Leserschaft. Radio und Fernsehen sind ungleich schneller als die Zeitung, und das Intenet ist mehr als je zuvor ein Medium geeignet, die klassische Zeitung weit gehend zu ersetzen.

Will die Zeitung aber in der Konkurrenz mit den elektronischen Medien bestehen, muss sie weiterhin die Maßstäbe eines verantwortungsbewußt agierenden Qualitätsjournalismus verteidigen, der mit Zuverlässigkeit überzeugt und eine faktengesättigte unabhängige Meinungsbildung ermöglicht. Wichtig ist ferner, dass die Zeitung - thematisch und formal - flexibel auf die Interessen ihrer verschiedenen Leser-Generationen reagiert. Und sie muss sich in Sprache und Form, Auswahl und Darstellung der Themen an den sich wandelnden Rezeptionsbedürfnissen orientieren.

Die Zukunft könnte darin bestehen, der Informationskakophonie im Netz mit einer "Neuen Zeitung" zu begegnen. Sie sollte den hohen Rang der traditionellen Zeitung in sämtlichen Bereichen der geistigen Produktion wahren, es aber dem Leser zu überlassen, sich aus einem Blatt oder dem Gesamtangebot der von ihm favorisierten Blätter sein persönliches Exemplar zusammenzustellen.

Traditionelle Zeitungen werden jedoch auch zukünftig ihren Platz behaupten, wie Erfahrungen aus der Kommunikations- und Mediengeschichte zeigen: für einen exklusiven Kreis in niedriger Auflage, im kleineren Format und zu einem hohen Preis.

Von Bernd Sösemann