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Mehr als nur Geometrie

Der Raum in Texten, Bildern und Handlungen

Stephan Seidlmayer ist Professor für Ägyptologie an der Freien Universität und Projektleiter des „Altägyptischen Wörterbuchs“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Stephan Seidlmayer ist Professor für Ägyptologie an der Freien Universität und Projektleiter des „Altägyptischen Wörterbuchs“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

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Es ist keineswegs so, dass alle Menschen sich selbst im Mittelpunkt des Raumes denken. Die psycholinguistische Forschung hat den spezifischen und kulturellen Charakter der Formen, in denen Raum und Räumlichkeit zur Sprache gebracht werden, verblüffend deutlich werden lassen. Deshalb ist für die Sprachen der Alten Welt je für sich aufzuklären, wie in ihren Strukturen und im Kernbereich ihres Wortschatzes, im System der Präpositionen etwa, die Orientierung im Raum, räumliche Relationen, die dimensionale Erfüllung des Raums ausgedrückt werden. Diese sprachlichen Mittel tragen einen metaphorischen Charakter in sich: Nicht nur räumlich, auch sozial kann man vor, hinter, über, unter, rechts oder links neben jemandem sein! Im Alten Ägypten werden auch Zahlen „aufeinander gelegt“, um arithmetische Operationen zu bezeichnen. Raum ist nicht nur Geometrie – er hat auch soziale Bedeutung und dient als kognitives Modell zum Verstehen des Nicht-Räumlichen.

Text

In Texten entfaltet sich das Denken über Raum und Räume vollends im Medium der Sprache. Abhängig von historischen und sozialen Erfahrungen – der Weitung des politischen Horizonts von einer Welt der Stadtstaaten zu einem Gefüge großer Reiche, ja Weltreiche – entstehen neue literarische und philosophische Perspektiven auf das Phänomen des Raumes. Die Entstehung des Hellenismus oder die Spätantike sind große Umbruchszeiten, deren tiefgreifende geistige Wandlungsdynamik in der Erforschung ihres Raumdenkens signifikant sichtbar gemacht werden kann. In Texten werden jedoch auch imaginäre Räume entworfen. Religion wie Wissenschaft projizieren ihre Gedankengebäude in Raumkonstrukten und machen sie dadurch vorstellbar. Im Alten Ägypten befassen sich die detailliertesten Raumbeschreibungen mit der mythischen Welt des Himmels und der Jenseitswelt, in die die Toten eingehen.

Bild

Komplementär und kontrastiv zur Sphäre der Sprache ist die Welt der Bilder ein zweites kulturelles Medium, Raum begrifflich zu erfassen und darzustellen. Der in der Konvention perspektivischer Darstellung gefangene moderne Betrachter hat es schwer, den fundamental anderen Charakter der Bildräume der Kulturen der Alten Welt zu verstehen. Diese haben je eigene Wege gefunden, komplexe, dreidimensionale Objekte und Szenarien der physischen Welt in die zweidimensionale Bildfläche einzutragen. Weniger das geschaute Bild als eine analytisch-digrammatische Darstellungsweise führt zu Lösungen erstaunlichen Reichtums und optischer Plausibilität.

Durch semantische Zusammengehörigkeit, nicht gemeinsame visuelle Präsenz, bestimmte Kompositionen, die Themen ganz verschiedener räumlicher und zeitlicher Ordnung zusammenführen, lassen die Darstellungen an die moderne Kategorie der mind map denken. So deckt die nähere Analyse der früher oft als „fehlerhaft“ gescholtenen Bildformen ihre überlegene Ausdruckskraft auf.

Auch die Beziehung von Bild und Raum wird erst in doppelter Perspektive erfasst. Mit der Darstellung des Raums im Bild ist nur ein Aspekt genannt; die Definition der Räume durch Bilder muss notwendig mit bedacht werden. Bilder sind in den Kulturen der Alten Welt nicht einfach „Dekor“. Sie bestimmen, was die Räume bedeuten, was sich in ihnen abspielt – sei es in Form realer Handlungen, sei es in Gestalt imaginärer Prozesse – wenn etwa der Sonnengott nachts die Grabkammer des ägyptischen Königs durchläuft.

Handlung

Das flüchtigste aber vielleicht wichtigste Medium, in dem Menschen ihren Begriff des Raums artikulieren, ist das der Handlung. Die Rekonstruktion vergangener Handlungsräume muss daher ein entscheidendes Forschungsanliegen bilden. Wie Vorstellungen von Raum menschliches Handeln definieren und wie Menschen durch ihr Handeln Räume schaffen, ihnen Bedeutung geben, ist hier aufzuklären. Rituelles Handeln an heiligen Orten, in heiligen Landschaften ist hier besonders signifikant. Deshalb wird die Rolle von Prozessionen und Pilgerreisen für die Definition sakraler Räume in ihrem Anknüpfen an distinktive Elemente der Landschaft – Felsen, Gewässer, mächtige Bäume und dergleichen – untersucht. Methodisch spannen diese Arbeiten den Bogen von modellhaften kulturanthropologischen Studien an rezenten Gesellschaften Afrikas über historisch dokumentierte Festbegehungen bis hin zur Rekonstruktion heiliger Orte aus archäologischen Spuren.

Von Stephan Seidlmayer