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Belesen

Die Friedrich Schlegel Graduiertenschule setzt neue Maßstäbe in der Ausbildung von Literaturwissenschaftlern – Beispiele der Arbeit

Der Namenspatron der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule

Der Namenspatron der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule
Bildquelle: wikimedia

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Viele kennen Friedrich Schlegel nur als denjenigen, der sich so heftig mit Schiller stritt – schriftlich, gescheit, verletzend –, dass es schließlich zum Bruch zwischen den beiden kam. Darüber hinaus kennt jeder – der ihn kennt – „seinen“ Schlegel als etwas anderes, denn der Mann war vieles, schritt intellektuelle und schöpferische Welten aus, die heute kaum noch jemand selbst zu ermessen wagt. Schlegel war Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, Kritiker und Historiker, Kulturwissenschaftler Übersetzer, und Philosoph. Seit 2008 ist er der Namensgeber einer Graduiertenschule an der Freien Universität, in der theoretisch und konzeptionell herausragende Dissertationsprojekte auf dem Gebiet der Literaturwissenschaften betreut werden.

„Schlegel hat sich schnell unvermeidlich gemacht“, sagt Prof. Dr. Peter-André Alt, der Sprecher der Graduiertenschule. Anfangs skeptisch beäugt und mit Zweifeln belegt, ob sein Name eine solche Schule trüge, bestimmen nun „seine Denkfiguren die Forschungsagenda“. Friedrich Schlegel hat nicht nur Studien zur altgriechischen, lateinischen, italienischen, französischen, spanischen, englischen, deutschen, sondern auch etwa zur indischen Literatur verfasst. Als „intellektueller Kosmopolit“ und philologisch geschulter homme de lettres will er kulturellen Nationalismus nicht gelten lassen. Seine Arbeit sieht er als Forschungsgebiet, auf dem die Geschichte „aller gebildeten Völker“ in der wechselseitigen Beleuchtung ihrer nationalen Eigentümlichkeiten sichtbar werden darf. Literaturgeschichte kann also ihm gemäß nur im Sinne einer Kulturgeschichte konzipiert werden. Aber nicht nur im Raum, auch in der Zeit schreitet Schlegel den Rahmen weit aus. Beginnend bei der griechischen Antike, erstrecken sich seine Arbeiten über das Mittelalter, die Frühe Neuzeit und das 18. Jahrhundert bis hinein ins beginnende 19. Jahrhundert. Er bleibt also keiner historischen Phase „treu“, bleibt nie im Partikularen stecken, sondern begreift Epochen, Stile und Texte stets als veränderliche Konfigurationen.

Übersetzungsarbeit
Friedrich Schlegel war auch Übersetzer. Gemeinsam mit seinem Bruder August Wilhelm und Ludwig Tieck lieferte er neue Standards für literarische Übersetzungen sowie maßgebliche Beiträge zur Theorie des Übersetzens. Für Schlegel ist die Übersetzung aber nicht einfach eine Praxis, die herrschende Normen vollstreckt. „Die Aufgabe des Übersetzers liegt für Schlegel darin, Transfers unter den Bedingungen des Differenzbewusstseins zu leisten“, erklärt Alt. „Dieses Ziel ist gleichermaßen dem Respekt vor der kulturellen Alterität und dem Bemühen um einen Dialog der Weltliteraturen geschuldet.“

Das Lesen der anderen
Diese Denkfiguren haben dem Forschungsgebiet „Literatur und kulturelle Differenz“ den Zuschnitt gegeben. „Man kann heute kaum noch eine Nationalphilologie ohne Blick auf fremdsprachige Texte betreiben“, sagt Alt. Dennoch solle und müsse ein jeder seine Basis behalten. Gerade die Grenzüberschreitung benötige ein sicheres Standbein. Eines zumal, das dem Vergleich seine Tragfähigkeit verleiht – wenn etwa die Germanisten mit den Japanologen gemeinsam fragen, was denn die Moderne hier und dort bedeute. Und auch die Intensivierung der Verbindung von Literatur- und Kulturwissenschaft solle keineswegs zu einer Nivellierung der Unterschiede zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten führen. „Wir gehen vielmehr von der Erkenntnis aus, dass Gattungen, rhetorische Strukturen, stilistische Merkmale sowie literarische Produktion und Rezeption nicht universell gültig sind.“ Die Projekte in diesem Bereich werden die komplexen Beziehungen zwischen der Literatur und den Diskursen, Medien und Institutionen spezifischer Gesellschaften untersuchen. Hier wird die Literaturwissenschaft zum Versuch, kulturelle bzw. historische Brüche zu überbrücken oder zu überwinden. „Literatur und historische Differenz“, „Literatur und Sprachliche Varietäten“, „Interkulturelle und transkulturelle literarische Phänomene“ sowie „Literatur und kulturelle Übersetzung/ Übertragung“ sind die Schwerpunkte der Arbeit.

Das Wort zur Wissenschaft
Literatur stand immer in einem spannungsreichen Verhältnis zum Wissen in ihrer Zeit – und damit ist auch das naturwissenschaftliche Wissen gemeint. Das Forschungsgebiet „Literatur und andere Diskurse des Wissens“ setzt sich dieser Spannung aus auf der Spurensuche nach den Wechselbeziehungen zwischen Wissen und literarischer Fiktion. Die Literatur gewinnt Hoheitsrechte, wenn sie das Wissen neu organisiert und es hinausträgt in öffentliche Bereiche. „Kenntnisse über Psychologie und vor allem die Psychoanalyse sind in erster Linie durch die Literatur populär geworden“, erklärt Alt. „Schon im späten 19. Jahrhundert wusste sie mehr über die Formen und Äußerungen des Wahnsinns als die Wissenschaft“. Die Literatur formt das Wissen. – Und Wissenschaft ist ein unverzichtbares Element in den Kriminalromanen von Arthur Conan Doyle, der seinen Detektiv Sherlock Holmes dem unbedarften Watson den Unterschied zwischen induktiver und deduktiver Analyse erklären lässt. „Schlegel hat in großem Stil Literatur und diskursive Wissenstypen zusammengedacht“, sagt Alt. In seinen Texten sind die Naturwissenschaften nicht nur als Metaphernspender präsent, sondern ebenso als Bezugssysteme, die Vorgaben für die literarische Reflexion, Impulse für deren Wissensproduktion und Organisationsstruktur vermitteln.Die Schwerpunkte sind „Unterschiede zwischen literarischem und nicht-literarischem Wissen“, „Literarische Repräsentation von Wissen“, Literarisches Wissen und historische Dynamik“ sowie „Literarische Strategien in nicht-literarischen Texten“.

„Berlin Now!“
„Es ist naheliegend, in Berlin über Berlin zu forschen“, sagt Peter-André Alt. In einer Literaturstadt zumal, die immer lebendiger wird und in der sich besonders seit dem Mauerfall immer mehr Kulturen und Subkulturen ansiedeln ... „Eigentlich sind ja alle hier ...“ „Berlin Now“ ist die literaturwissenschaftliche Forschung zur Stadt, in der zahlreiche deutsche und internationale Autoren, Übersetzer und Literaturkritiker leben. Und auch der Bohème der Gegenwart will man auf die Spur kommen, sich den Performances und dem Poetry Slam nähern, den Querköpfen des Betriebs, die sich seit jeher gegen Versuche der Analyse sperren. Wie entsteht Literatur unter urbanen Bedingungen? In Berlin hat sich ein dichtes Netzwerk aus Institutionen und Medien etabliert, das die Stadt zu einem bedeutenden Umschlagplatz für Literatur macht, zu einem Knotenpunkt für die Vermittlung von Literatur zwischen Osten und Westen, zwischen Mitteleuropa und dem Rest der Welt. Die Themen des Forschungsgebiets sind „Institutionen und Medien“, „Literatur als ‚Event’“, „Literatur und kulturelles Kapital“ und „Internationale literarische Transaktionen“.

Close Reading
„Schlegels Lesepraxis ist eine wissenschaftliche Kunst der Versenkung, die der Hermeneutik, der explication de texte, dem gelehrten Kommentar der Editionswissenschaft und der strukturalen Analyse gleichermaßen Impulse vermittelt“, beschreibt Alt eine Kunst, die heute mehr und mehr ins Hintertreffen gerät. „Sie ist zudem eine Ausgangsbasis für jene Methodenrichtungen moderner literaturwissenschaftlicher Arbeit, die sich dem Anspruch genauer Lektüre verpflichten.“ Genaue Lektüre oder „Close reading“ wurde beherrscht in der Zeit des intensiven Lesens, als es außer der Bibel kaum etwas anderes zu lesen gab. Close reading könnte heute vor den allfälligen Missverständnissen bewahren, die in der Kakophonie der Massenverbreitung von Text zu unnötigen Misshelligkeiten auf allen Ebenen führen. „Niemand liest mehr richtig, das heißt: exakt“, betont Alt. Zu viel Text wird zu wenig begriffen.

 


Wege und Ziele der Graduiertenschule
Die Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien betreut theoretisch und konzeptionell herausragende Dissertationsprojekte auf dem Gebiet der Literaturwissenschaften, die Texte europäischen, amerikanischen, arabischen oder asiatischen Ursprungs untersuchen. Forschungsfelder sind die Beziehungen zwischen literarischen Texten, die Zusammenhänge zwischen literarischen Texten und Prozessen der Sprachreflexion, die Rhetorik und Poetik, die Korrelation zwischen Literatur und anderen ästhetischen Medien sowie die Interdependenz von Literatur und Wissensdiskursen. Leitend sind die philologische Konzentration auf Phänomene der Textualität bzw. Sprachlichkeit, das Verfahren des diachronen und synchronen Sprach-, Literatur-, Kultur- und Medienvergleichs, ein historisches Bewusstsein, das Zusammenhänge zwischen literarischen Texten und kulturellen Prozessen der Bedeutungsstiftung, Gesellschaftsbildung und Wissenskonstitution erschließt, sowie eine theoretische Orientierung im Sinne der kritischen Überprüfung literaturwissenschaftlicher Praxis und ihrer zentralen Begriffe bzw. Bezugssysteme.

Forschungsgebiete

I. Textualität und Intertextualität
II. Rhetorik, Poetik, Ästhetik
III. Literatur und Sprache 
IV. Literatur und Diskurse des Wissens
V. Literatur und kulturelle Differenz 
VI. Literatur und die Künste
VII. Positionen der Literaturtheorie 
VIII. Editionswissenschaft 
XI. Das Feld der Literatur – „Berlin Now!“

Der Namenspatron:
Die Wahl des Namenspatrons leitet sich aus der Erkenntnis ab, dass Friedrich Schlegels Arbeit wichtige Voraussetzungen für eine theoretisch anspruchsvolle, methodisch innovative Literaturwissenschaft geschaffen hat, wie sie an der Freien Universität Berlin seit vielen Jahren erfolgreich vertreten wird. Mit dem Namen Friedrich Schlegels verbindet sich eine international ausgerichtete, Fragen des Kultur- und Medienvergleichs reflektierende Literaturwissenschaft, die das philologische Verfahren des close reading mit einem ausgeprägten Sinn für die Vielfalt der europäischen und nichteuropäischen Sprachen verknüpft, editorische Praxis als Beitrag zur Bildung eines kulturellen Gedächtnisses versteht, Literaturgeschichte im Kontext einer modernen Wissens- und Bewusstseinsgeschichte betreibt und die Lehre von den poetologischen Fundamenten, Gattungen, Stilen und rhetorischen Strategien der Literatur auf eine theoretische Grundlage stellt.