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Dem DDR-Grenzregime fielen mehr Menschen zum Opfer als bislang angenommen

Forschungsverbund SED-Staat veröffentlicht Zwischenergebnisse

Nr. 344/2013 vom 08.11.2013

Dem DDR-Grenzregime fielen Recherchen von Forschern der Freien Universität Berlin zufolge mehr Menschen zum Opfer als bislang angenommen. Die Wissenschaftler des Forschungsverbundes SED-Staat der Universität fanden im Rahmen ihrer Recherche Unterlagen zu 43 Todesfällen an der innerdeutschen Grenze, die bislang unbekannt waren Zu 408 Opfern lagen den Forschern detaillierte biographische Angaben vor. Die Gesamtzahl der Todesfälle ist noch nicht ermittelt.

Seit August 2012 untersucht der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin die Schicksale von Opfern des DDR-Grenzregimes. In dem bis Ende 2015 angelegten Forschungsprojekt recherchieren die Wissenschaftler Lebensläufe von Männern, Frauen und Kindern, die zwischen 1949 und 1989 an der innerdeutschen Grenze starben. Erstellt werden soll ein sogenanntes Totenbuch mit Kurzbiographien aller nachweisbaren Todesopfer. Die Forschungsarbeiten werden aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Bundesländer Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

Der Untersuchung des Forschungsteams der Freien Universität liegen derzeit 1.129 Verdachtsfälle zu Opfern des DDR-Grenzregimes zugrunde. Dabei handelt es sich überwiegend um personenbezogene Daten, zu einem kleinen Teil aber auch um Hinweise auf namentlich unbekannte Opfer. Im bisherigen Verlauf der Archivrecherchen konnten vertiefende biographische Angaben zu insgesamt 408 Personen gefunden werden, die im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben kamen. Beispielhafte Fälle werden auf der Website des Forschungsverbunds im Internet veröffentlicht.

Darunter befinden sich:

  • 248 Personen, die an der innerdeutschen Grenze zu Tode kamen,
  • 59 Grenzsoldaten, die Suizid verübten,
  • 54 Grenzsoldaten, die nach Unfällen vor allem durch Schusswaffen und Minen ums Leben kamen.

Weiterhin erbrachten die Archivrecherchen Angaben zu:

  • 42 Personen, die bei Fluchtversuchen an der Seegrenze starben.

Bei der überwiegenden Zahl der überprüften Todesfälle von DDR-Flüchtlingen handelt es sich um Personen unter 25 Jahren, die Arbeiter- oder Handwerksberufe ausübten. Das jüngste aus dem Archivgut ermittelte Todesopfer war ein im Juli 1977 im Kofferraum eines Fluchtfahrzeugs ersticktes sechs Monate altes Baby. Das älteste Todesopfer an der innerdeutschen Grenze war ein 80-jähriger Bauer aus dem niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg, der im Juni 1967 irrtümlich in ein Minenfeld geriet. Ihm wurden durch Landminen beide Beine abgerissen. Sein Todeskampf dauerte mehr als drei Stunden. Er verblutete unter den Augen eines DDR-Regimentsarztes, der sich nicht in den verminten Grenzstreifen wagte.

Neben den DDR-Bürgern die bei Fluchtversuchen ums Leben kamen und den getöteten Zivilpersonen aus dem Westen gibt es eine weitere bislang wenig beachtete Opfergruppe. Die SED-Propaganda ehrte offiziell durch Denkmäler, Straßen- und Schulnamen ausgewählte DDR-Grenzer, die im Dienst uns Leben gekommen waren. Erich Honecker würdigte anlässlich des 40. Jahrestags der Grenztruppen am 28. November 1986 namentlich 17 dieser DDR-Grenzer. Dabei handelte es sich ausschließlich um solche Fälle, die nach Schusswechseln mit Angehörigen der westalliierten Streitkräfte, dem Bundesgrenzschutz oder westlichen Zivilpersonen zu beklagen waren; ferner ging es um Angehörige der Grenztruppen, die von fahnenflüchtigen Kameraden erschossen wurden. Die zahlreichen Todesfälle von Soldaten, Offizieren und Zivilangestellten der Grenztruppen, die während des Dienstes bei Unfällen mit Minen oder Schusswaffen ums Leben kamen oder wegen Pressionen, denen sie ausgesetzt waren, Suizid begingen, fielen in der DDR unter strengstes Schweigegebot. Durch Einzelfallprüfungen werden im Rahmen des Forschungsprojektes der Freien Universität auch diese weithin unbekannten Opfer des DDR-Grenzregimes, ihre Namen und ihre biographischen Daten ermittelt; sie sollen in einer abschließenden Gesamtdarstellung der Forschungsergebnisse Berücksichtigung finden.

Erstaunlich hoch ist die Zahl der vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit unter Vorwänden vom Grenzdienst zurückversetzten Soldaten und Offiziere. So wurden im Jahr 1986 insgesamt 1.506 Angehörige der Grenztruppen abgezogen oder außerhalb von Einheiten eingesetzt, die die Grenze sicherten, weil der Staatssicherheitsdienst Verdachtsgründe für mögliche Absichten zur Fahnenflucht ermittelt hatte. Ausreiseanträge von Verwandten oder Freundinnen oder auch nur positive Äußerungen über westliche Fahrzeuge und die westliche Mode konnten zu sogenannten „legendierten Abversetzungen“ führen.

Die Wissenschaftler der Freien Universität haben bislang im Archivgut des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde und im Bundesarchiv Koblenz mehrere tausend Akteneinheiten ausgewertet, in denen Informationen zu Fluchtversuchen und anderen Zwischenfälle an der innerdeutschen Grenze enthalten sind. Als besonderes Problem erwies sich die biographische Recherche zu sowjetischen Soldaten, die nach Fahnenfluchten in der Nähe der innerdeutschen Grenze erschossen wurden oder sich das Leben nahmen. Hier konnten durch das Forschungsteam zwar in einigen Fällen Namensangaben und Dienstorte ermittelt werden, nicht jedoch tiefergehende biographische Daten. Die Forscher wollen die russische Militärstaatsanwaltschaft zu diesen Personen um weitere Auskünfte bitten.

Weitere Informationen und Interview-Wünsche

  • Professor Dr. Klaus Schroeder, Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, Telefon: 030/838-56008, E-Mail: k.schroeder@fu-berlin.de
  • Dr. Jochen Staadt, Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, Telefon: 030 / 838-52091/55562, E-Mail: j.staadt@fu-berlin.de

Im Internet

www.fu-berlin.de/sites/fsed/Opfer_des_DDR-Grenzregimes/Biografien/index.html