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Was ist eigentlich ein Tierversuch?

In der EU-Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere ist der Umgang mit Versuchstieren auf rund 80 Seiten in 65 Artikeln juristisch definiert.

Professorin Christa Thöne-Reineke leitet das Institut für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde

Professorin Christa Thöne-Reineke leitet das Institut für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Wie sieht es in der Praxis aus? Was zählt eigentlich alles als Tierversuch? Darüber sprach Catarina Pietschmann mit Christa Thöne-Reineke. Seit  2014 hat die Tierärztin die Professur für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde an der Freien Universität Berlin inne und ist als Tierschutzbeauftragte der Fachbereiche Veterinärmedizin sowie Biologie, Chemie und Pharmazie Ansprechpartnerin für alle Forscherinnen und Forscher, die einen Tierversuch beantragen wollen.

Was ist eigentlich ein Tierversuch?

Thöne-Reineke: Nach dem Tierschutzgesetz sind das zu wissenschaftlichen Zwecken durchgeführte Eingriffe oder Prozedere, die für die Tiere mit Schmerzen, Leiden oder Schäden einhergehen.

Wo fängt Tierleid an?

Leid ist alles, was über den Stich mit einer Injektionsnadel hinausgeht. Nach der EU-Richtlinie fällt unter den Begriff Leiden aber auch Angst. Und Angst entsteht schneller als körperliches Leiden. Studien haben gezeigt, dass Herzfrequenz und Stresspegel bereits drastisch steigen, wenn ich mit der Hand in den Käfig greife und eine Maus aus der Gruppe herausnehme. Schlimmer kann es für sie in diesem Moment gar nicht kommen. Der Pieks mit der Spritze ist dagegen fast zweitrangig. Ich kann einem Tier ja nicht erklären, was ich mit ihm vorhabe. Um die Belastung durch den Versuch abschätzen zu können, muss man Parameter anlegen, die tierbasiert sind – und nicht unserer Betrachtungsweise entspringen.

Was bedeutet das für den Umgang mit Tieren in der Lehre?

Wenn wir Studierende der Veterinärmedizin am Tier ausbilden, sind das nach der EU-Richtlinie heute auch Tierversuche. Zwar lässt sich vieles in Filmen zeigen und bestimmte Fingerfertigkeiten können an Modellen trainiert werden. Aber so wie jeder Arzt einmal den ersten Patienten behandelt, muss auch ein künftiger Tiermediziner unter Anleitung an den Tieren üben, die er später ärztlich betreuen soll – Hund, Katze, Rind, Schwein oder Pferd.

Veterinärmediziner behandeln nicht nur kranke Tiere. An einer Universität erforschen sie auch bessere Haltungsbedingungen und die ideale Ernährung von Haus- und Nutztieren. Zählt das ebenfalls als Tierversuch?

Ja. Wer sich privat einen Hund zulegt, kann ihm in den Fressnapf tun, was er möchte. Das interessiert niemanden. Aber wenn wir eine neue Diät am Tier ausprobieren und einer Vergleichsgruppe das Standardfutter geben, ist das ein Fütterungsversuch und muss beantragt werden. Das gleiche gilt, wenn es um Tierhaltung oder Wohlbefinden geht.

Auch Fütterungsversuche müssen beantragt werden

Auch Fütterungsversuche müssen beantragt werden
Bildquelle: Michael Fahrig

Angenommen ein Tier wird in der Tierklinik in Düppel behandelt und sein Krankheitsbild ist auch wissenschaftlich interessant. Kann der Veterinär, mit Zustimmung des Besitzers, zusätzliche Untersuchungen an seinem Patienten durchführen? Oder wäre das auch ein Tierversuch?

Es kommt darauf an, was im Vordergrund steht – die notwendige Behandlung oder eine wissenschaftliche Fragestellung. Ein Beispiel: Ein Hund hat sich versprungen und geht lahm. Wenn ich ein Röntgenbild mache, ist das medizinisch indiziert. Verwende ich die Aufnahme später, um noch etwas anderes daran abzulesen, wäre das kein Tierversuch. Mache ich das Röntgenbild ausschließlich aufgrund einer wissenschaftlichen Fragestellung, ist es ein Tierversuch.

So ist es auch in folgendem Fall: Von einem Rinderbestand werden im Rahmen der Bestandsbetreuung Blutproben entnommen, um die Tiere auf einen bestimmten Erreger zu untersuchen. Wird ein Rest des Blutes später für Forschungszwecke verwendet, ist das kein Tierversuch. Entnehme ich aber denselben Rindern Blut, um ihren Stresslevel zu messen, ist es ein Tierversuch – weil es nicht medizinisch indiziert ist.

Diese Unterscheidung fällt manchmal schwer. Deshalb rate ich, auch wenn die medizinische Indikation die primäre ist, den wissenschaftlichen Part bei der Behörde zu beantragen. So ist man auf der sicheren Seite.

Gibt es Situationen, in denen Sie selbst ins Grübeln kommen?

Ja, natürlich – erst kürzlich bei einem Gespräch mit Verhaltensforschern. Sie wollen Primaten im Zoo Aufgaben stellen, um ihre kognitiven Fähigkeiten zu studieren. Sie sagen: Das ist doch kein Tierversuch, weil wir die Tiere beschäftigen und ihnen das gut tut.

Ja, vermutlich macht es den Affen sogar Spaß! Aber um die wissenschaftliche Frage zu klären und die Tiere zu trainieren, müssen sie aus der Gruppe genommen werden – was sonst nicht nötig wäre. Also ist das ein Tierversuch.