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Barbara Hahn

Geschichte weiblicher Intellektualität

Mit dem ersten Besuch von Barbara Hahn in der Biblioteka Jagiellonska in Krakau im Sommer 1984 begann – finanziert durch ein simples Reisestipendium des DAAD – eine Forschungsgeschichte, die ihresgleichen sucht. Die erste Einsicht in den zu Kriegsende aus Berlin nach Krakau ausgelagerten Nachlass Rahel Varnhagens gab den Anstoß für das, was üblicherweise ein 'Lebenswerk' genannt wird: die Aufarbeitung, Transkription und Neuherausgabe eines der umfangreichsten und bedeutendsten Briefwerke der Literaturgeschichte. Die Schwierigkeiten, mit denen dieses Projekt zu kämpfen hatte, sind repräsentativ für die Widerstände, die die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Autorinnen noch in den 1980er Jahren zu überwinden hatte. Mit ihrer Mitherausgeberin Ursula Isselstein bemühte sich Barbara Hahn jahrelang um eine Finanzierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Immer wieder wurden die Antragstellerinnen aufgefordert, eine männliche Leitung für das Projekt zu suchen. Als die Bewilligung endlich erfolgte, wurde von Seiten der DFG angemerkt, es handele sich um das erste von ihr geförderte Projekt, in dem nur Frauen arbeiten.

Nach über 20 Jahren, in denen die Arbeit oft unter prekären Bedingungen weitergeführt wurde, ist die Edition der Briefe von Rahel Varnhagen fast abgeschlossen; daneben erscheint demnächst in fünfbändiger Ausgabe die erste vollständige Veröffentlichung von Rahel Varnhagen.Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, das Barbara Hahn in mühevoller Editionsarbeit aus den nie zuvor publizierten Manuskripten Karl August Varnhagen von Enses rekonstruiert hat.

Mit dem Margherita-von-Brentano-Preis wird aber nicht nur dieses Lebenswerk ausgezeichnet. Barbara Hahn erhält die Auszeichnung im Jahr 2010 für ihr herausragendes Engagement im Hinblick auf eine umfassende Rekonstruktion der Geschichte weiblicher Intellektualität und ihre Bemühungen um eine Rehabilitierung der Werke von geisteswissenschaftlich tätigen Frauen aus der Zeit vom frühen 19. bis zum 21. Jahrhundert. Dazu gehört neben der Arbeit am Rahel-Varnhagen-Nachlass die Rekonstruktion der Werkbiographien der wichtigsten deutschsprachigen Kulturwissenschaftlerinnen u. a. in dem von ihr herausgegebenen Band Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt (München 1994). Diese mit enormem Aufwand an Archivrecherche nebenberuflich betriebene Wiederentdeckung und Aufbereitung des verdrängten Beitrags von Frauen zu den Kultur- und Geisteswissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Nachweis des Verlusts, den diese Tradition mit dem Jahr 1933 erfuhr, muss als Initialzündung für die Bemühungen um eine Korrektur der Wissenschaftsgeschichte unter den Aspekten Geschlechtergeschichte und jüdische Geschichte gelten.

Mit einzelnen Wissenschaftlerinnen, insbesondere mit Hannah Arendt, Ricarda Huch und Margarete Susmann hat sich Barbara Hahn in Buchveröffentlichungen, aber auch in Ausstellungen und Filmen immer wieder beschäftigt. Ihre Ausgangspunkte waren dabei stets der Hannah Arendtsche Wunsch nach Verstehen und das Bemühen, das Wissen über die Geschichte weiblicher Intellektualität in eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation von Wissenschaftlerinnen und dem aktuellen Stand der Geschlechterforschung zu verknüpfen.

Bei diesen Bemühungen hat Barbara Hahn den Kontakt zur Frauen- und Geschlechterforschung an der Freien Universität, an der sie promoviert und gearbeitet hat, nie aufgegeben. Neben verschiedenen Forschungskontakten hat sie insbesondere immer wieder Nachwuchswissenschaftlerinnen der Freien Universität Berlin durch Möglichkeiten, an Editionen und Forschungsprojekten mitzuarbeiten, gefördert. Mit dem Margherita-von-Brentano-Preis wird auch dieses Engagement für eine internationale Vernetzung, insbesondere der literaturwissenschaftlichen Geschlechterforschung, ausgezeichnet.

Ihre aktuelle Position als Distinguished Professor of German an der Vanderbilt University, Nashville, Tennessee, ermöglicht es Barbara Hahn, ihre Editionsarbeiten und Forschungsvorhaben zu Autorinnen und Wissenschaftlerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts zeitweise auch in Berlin fortzusetzen. Mit dem Preisgeld wird es möglich sein, diese Chance (etwa in Form von gemeinsam organisierten Tagungen oder durch den Austausch von Nachwuchswissenschaftlerinnen) für den Ausbau und die Festigung der bestehenden Kooperationsbeziehungen zwischen der Freien Universität und der Vanderbilt University zu nutzen.