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Rede von Vicco von Bülow (Loriot) anlässlich der Immatrikulationsfeier im Wintersemester 1999/2000, F reie Universität Berlin

Vicco von Bülow alias "Loriot": "An die Jugend"

Rede anläßlich der Immatrikulationsfeier im Wintersemester 1999/2000 zur Begrüßung der neuimmatrikulierten Studierenden am 10. Oktober 1999

Die Rede von Loriot (Abschrift des Originalskripts)


Liebe Neuimmatrikulierte und Studenten der FU Berlin,
hochverehrte Exzellenz,
hochverehrte Magnifizenzen und Spektabilitäten,
verehrte Professoren und Dozenten,
MEINE DAMEN UND HERREN,

Die Ausrichtung der diesjährigen Immatrikulationsfeier obliegt praktischerweise dem Fachbereich Humanmedizin. So können die angehenden Ärzte gleich einen verbreiteten Irrtum der Neuimmatrikulierten korrigieren: häufige Anwesenheit bei Vorlesungen gefährdet nicht die Gesundheit.

Das ist gut zu wissen. Immerhin hat man Euch jungen Menschen in dichter Folge ziemlich übel mitgespielt. Ihr wurdet entbunden, der Brust entwöhnt, in die Schule gezwungen, zum Abitur genötigt und wieder an die Luft gesetzt. Da seid Ihr nun und erwartet Kluges aus dem Munde älterer Männer. EINES ALTEN MANNES.

DER KANN
Die können sich auf verschiede Weise blamieren. Zum Beispiel mit dem Versuch, nach Vollendung des 75. Lebensjahres eine Rede an die Jugend zu halten. Schon die schelmisch vorgetragene Behauptung, "ich bin auch mal jung gewesen" wirkt ziemlich unwahrscheinlich. Das ist auch garnicht zu beweisen. Wer hat denn schon gesehen, dass ich klein war? Niemand!

Glaubwürdiger ist doch, dass alte Menschen, sogenannte Grosseltern, immer schon alt waren. Und in abgelegenen Teichen darauf warten, von Störchen aufgenommen und nach ruhigem Anflug dort abgeworfen zu werden, wo sie von Nutzen sind. Das leuchtet ein.

Aber wie funktioniert das mit Vater und Mutter? Es ist doch verhängnisvoll, dass Eltern früher auf die Welt kommen, als ihr Kind. Dadurch entwickeln sie vorzeitig ein ungutes, durch nichts begründetes Überlegenheits- gefühl.

Kämen Eltern und Kinder gleichzeitig auf die Welt, wüchsen sie gemeinsam, in wohltuender Chancengleichheit in ihre Aufgaben hinein. Wieviel Verständnis hätte dann der Jugendliche für die Irrtümer seiner Eltern, wieviel nachsichtiger verliefe jede Meinungs- verschiedenheit!

Nur wenn Vater, Mutter und Kind gemeinsam sprechen lernen, finden sie die nötige Gelassenheit für den Austausch pädagogischer Argumente.

Aber so weit sind wir eben noch nicht. Bis auf weiteres wird die Jugend, auch die neuimmatrikulierte, doch ziemlich allein gelassen mit der Frage: "wie erziehe ich meine Eltern zu ordentlichen, gebildeten Mitgliedern unserer Gesellschaft?". Nicht einmal im Fachbereich Erziehungswissenschaft der FU findet sich ein entsprechender Studiengang.

Es ist sonderbar, aber Eltern sind auch Menschen und sie sind, was die Herstellung und Aufzucht von Nachwuchs betrifft, so was wie ungelernte Arbeiter.

Niemandem ist es erlaubt, ohne gründliche Ausbildung und Führerschein am Strassenverkehr teilzunehmen, aber zur Produktion eines Kindes - das angeblich Kostbarste, was eine Nation besitzt - bedarf es keiner Eignungs- prüfung. Nicht einmal Abitur wird verlangt.

Kein Wunder, dass die sogenannten Erwachsenen hinsichtlich der Lebensgewohnheiten der Jugend völlig im Dunklen tappen. Hier bedarf es behutsamer Nachhilfe.

Kinder sollten ihre Eltern rechtzeitig daran gewöhnen, abends nicht zu lange aufzubleiben. Quängelnde, übermüdete Erwachsene benötigen Ruhe, um für die Anforderungen des Lebenskampfes gerüstet zu sein, während die Jugendlichen den endlich freigewordenen Wohnraum nutzen für entspannte Geselligkeit mit ihren gleichaltrigen Freunden. Eine wichtige Übung zur Formung des späteren Sozialverhaltens.

Vor allem sollte genügend Zeit zum Fernsehen bleiben. Die Universitäten neigen dazu, durch ein überreichliches Arbeitspensum das geregelte Fernsehen zu erschweren. Ihr aber solltet nicht nachlassen, vor allem die Werbung intensiv zu verfolgen, die ja leider alle paar Minuten durch unverständliche Spielfilmteile unterbrochen wird.

Dann wisst ihr, was unser Leben so glücklich macht: nicht Wissen, nicht Bildung, nicht Kunst und Kultur... neinnein...es ist der echte Kokos-Riegel mit Knusperkruste, die sanfte Farbspülung für den Kuschelpullover und der Mittelklassewagen für die ganze glückliche Familie mit Urlaubsgepäck und Platz für ein Nilpferd.

KONSUM
Fundierte Kenntnisse von den Wunschzielen der deutschen Durchschnittsfamilie machen Euch nicht nur für Eure Eltern unentbehrlich. Auch die Industrie richtet sich nach Eurem Geschmack.

Ich betrat vor kurzem ein Schuhgeschäft, um mir ein paar leichte Sportschuhe zu besorgen. Die geduldige Verkäuferin liess mich sämtliche lieferbaren Modelle anprobieren.

Schon auf den ersten Blick hatten alle eines gemeinsam: ich sah aus, als sei ich in eine Sahnetorte getreten. Die Dame gab sich keine Mühe, das zu bestreiten, blieb aber ernst.

Als ich ihr meine ebenso schönen wie zweckmässigen Sportschuhe beschrieb, die ich bisher zu tragen pflegte, deutete sie an, zur Zeit dieser Mode noch nicht gelebt zu haben.

Das war nicht galant, aber ich weiss nun, dass für Greise keine Sportschuhe mehr hergestellt werden. Es sei denn, Grosseltern finden sich damit ab, wie verschrumpelte Mickymäuse auszusehen.

Nun sind Sportschuhe nicht das Mass aller Dinge. Wodurch aber bewegt sich unsere Welt? Wie sieht es im Reich der Elektronik aus?

Nicht nur Videorecorder, CD-Player, Autoradios, Taschen- rechner und Fernbedienungen, auch Jumbo-Jets, Jagdbomber und Atomanlagen reagieren auf die Berührung einer Unzahl von Bedienungstasten, die für reifere Menschen auch mit Brille nicht erkennbar sind. Nur die Jugend ist mit Sinneswerkzeugen ausgestattet, denen sich die Gegenwartstechnik unterwirft.

Hinzu kommt, dass sich moderne Geräte in den Augen der älteren Generation so gut wie nicht mehr voneinander unterscheiden.

Wenn das Handy läutet und man hält den Rasierapparat ans Ohr, können Sekunden vergehen, die über Leib und Leben entscheiden. Von Zufall kann hier wohl nicht die Rede sein. Vielmehr soll dem als störend empfundenen älteren Menschen die Teilnahme am Fortschritt systematisch verleidet werden.

Ein übriges tut jene Sprache, die nur ein Jugendlicher beherrscht, der am Computer einsitzt, um per Internet eine verlässliche Kommunikationsschiene zum Sohn eines Börsenmaklers in Timbuktu aufzubauen. Da wird die Grosstante in Ingolstadt wohl noch des längeren auf ein verständliches Lebenszeichen warten müssen.

Diese mürrische Betrachtung mag den Eindruck erwecken, als fühle ich mich nur der Vergangenheit verpflichtet. Das stimmt insofern, als ich, wie alle Väter und Grossväter zutiefst bedaure, meine Erfahrungen nicht weitergeben zu können, weil sie weder erwünscht sind, noch glaubhaft erscheinen.

So bleibt mir nur die Hoffnung, Ihr werdet nicht auf sämtliche Knöpfe drücken, die Euch eine schrankenlose Technik zur Verfügung stellt. Vielleicht seid Ihr dann die erste kluge Generation, die den wirklichen Fortschritt darin erkennt, nicht alles zu tun, was machbar ist.

Ich danke Euch.