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Vom Wanderprediger zum globalen Netzwerker

12.06.2014

Die Schulen der türkischen Gülen-Bewegung in Tansania zählen zu den besten des Landes. Die Ansichten über dieWeltanschauung und die Prinzipien des Gründers Fethullah Gülen gehen allerdings auseinander.

Die Schulen der türkischen Gülen-Bewegung in Tansania zählen zu den besten des Landes. Die Ansichten über dieWeltanschauung und die Prinzipien des Gründers Fethullah Gülen gehen allerdings auseinander.
Bildquelle: Kristina Dohrn

Doktorandin der Freien Universität untersucht die islamische Gülen-Bewegung in Deutschland und Tansania 

Lichtgestalt oder Sektenführer – die Meinungen über Fethullah Gülen gehen weit auseinander. Zuletzt machte der türkisch-stämmige Prediger, der seit den 1990er Jahren in den USA lebt, als politischer Gegner des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan Schlagzeilen. Fethullah Gülen ist der Begründer der sogenannten Gülen-Bewegung, einer islamischen Gemeinschaft, die weltweit vernetzt ist und sich in den Bereichen Bildung, Medien und Wirtschaft engagiert.

Die öffentliche Meinung über die Gülen-Bewegung ist stark polarisiert. Während seine Anhänger das weltweite Engagement preisen, warnte erst zu Beginn dieses Jahres der deutsche Verfassungsschutz vor den Ausläufern der Bewegung in Deutschland. In der Begründung heißt es, Gülens Gedankengut stehe in mancherlei Hinsicht im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Außerdem ist von „türkischem Nationalismus in ,seriösem Gewand‘ mit ,islamistischen Komponenten‘“ die Rede, Gülen selbst strebe einen „islamischen Staat“ an. 

Eine Doktorandin der Freien Universität Berlin möchte nun zu einer differenzierten Betrachtung der Bewegung und ihrer globalen Aktivitäten beitragen. Kristina Dohrn nähert sich dem Phänomen aus ethnologischer Perspektive und untersucht, welche Strukturen und Ideen der Gülen-Bewegung zugrunde liegen und wie sich diese in den Privatschulen und Schulwohnheimen im ostafrikanischen Tansania widerspiegeln.

Fethullah Gülen erlangte in den 1970er Jahren als „moderner Wanderprediger“ in der Türkei Bekanntheit. Er propagiert ein Neben- und Miteinander von traditionellem Islam und modernen Entwicklungen. Für Kristina Dohrn liegt darin das Erfolgsgeheimnis des islamischen Predigers. „Gülen regte etwa an, die Spendenbereitschaft gläubiger Muslime für die Errichtung von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen einzusetzen“, sagt die 30-jährige Doktorandin. „Er gibt Antworten auf aktuelle soziale und theologische Fragen.“ Auf diese Weise fand Gülen zahlreiche Anhänger, die mittlerweile auf der ganzen Welt anzutreffen sind – auch in Deutschland und afrikanischen Ländern wie Tansania. Fethullah Gülen selbst lebe mittlerweile in den USA, betont Kristina Dohrn: „Man kann ihn eher als ,charismatisches Zentrum‘ der Bewegung verstehen, der als Inspirations- und Motivationsquelle für seine weltweiten Anhänger fungiert.“

Die Gülen-Bewegung sei besonders aus ethnologischer Sicht sehr komplex, erklärt Kristina Dohrn ihr wissenschaftliches Interesse an dem Thema. Sie beschäftigte sich bereits im Rahmen ihrer Magisterarbeit mit Fethullah Gülen und seiner Anhängerschaft. Um Einblicke in die alltägliche Praxis der Anhänger zu bekommen, besuchte sie mehrere Wohngemeinschaften für Studentinnen in Berlin, sogenannte Häuser des Dienstes oder Lichthäuser, unterhielt sich mit den Bewohnerinnen und nahm am Alltagsgeschehen teil. Ihr Fazit: „Der Tagesablauf ist je nach Wohngemeinschaft unterschiedlich organisiert und häufig durch viele gemeinschaftliche Aktivitäten geprägt. Der islamische Glaube spielt hierbei zwar eine Rolle, wichtig ist jedoch auch der soziale Zusammenhalt.“ 

In Deutschland gebe es etwa 30 staatlich anerkannte Privatschulen, die von Gülen inspiriert seien. „Die genaue Zahl lässt sich nur schwer bestimmen, da die Bildungseinrichtungen nicht zentral organisiert sind.“ Die Schulen finanzierten sich durch Schulgeld und einen staatlichen Finanzausgleich sowie durch Spenden aus der Anhängerschaft. In der türkischen Gemeinschaft in Deutschland seien die Schulen auch für die gute Betreuung und individuelle Förderung einzelner Schüler bekannt. Außerdem nähmen die Schulen auf muslimische Besonderheiten wie Speiseregeln Rücksicht.

Allerdings stünden viele türkischstämmige Familien den Schulen wegen der engen Verbindung zum Gülen-Netzwerk skeptisch gegenüber, sagt Kristina Dohrn. „Auch in der Türkei gibt es viele Menschen, die die Bewegung ablehnen.“ Etliche betrachteten einzelne Grundgedanken Fethullah Gülens kritisch, etwa seine konservative Haltung zur Rolle der Frau, zum Atheismus und zu einer liberalen Lebensweise. In der deutschsprachigen Öffentlichkeit seien die Schulen in der Regel umstritten, sagt Dohrn: „Allerdings polarisieren sich die meisten Meinungen stark, eine nüchterne Betrachtung des Unterrichts und der Organisation an diesen Schulen kommt dabei meistens zu kurz.“ 

Nun steht Tansania im Zentrum ihrer Untersuchung, wo sie sich Schulen mit den dazugehörigen Wohnheimen angesehen hat. Mit dem internationalen Fokus ihrer Promotion möchte Kristina Dohrn der zunehmend globalen Verbreitung der Gülen-Bewegung Rechnung tragen. 

Grundprinzip und Motivationsquelle der Anhänger Fethullah Gülens weltweit sei „hizmet“, der „Dienst an der Sache Gottes“, sagt die Doktorandin. Fethullah Gülen habe islamisches Engagement auf neue Bereiche erweitert. Insbesondere die Bildungsarbeit beschreibe er als „Erfüllung islamischer Prinzipien“. Mitunter werde die Arbeit in Regionen, die als bedürftig gelten – wie im Fall des subsaharischen Afrikas –, im Sinne des Islam als besonders verdienstvoll wahrgenommen.

Um mehr über die Aktivitäten der Gülen-Bewegung in Tansania zu erfahren, sprach Kristina Dohrn mit Schülern, Lehrern und Unterstützern der Feza-Schulen in Daressalam, Regierungssitz und größte Stadt Tansanias. Die Feza-Schule gliedert sich in Kindergarten, Grundschule und weiterführende Schulen; die meisten Schülerinnen und Schüler wohnen im Wohnheim auf dem Campus. Wie häufig in Tansania, sind Schule und Wohnheime nach Geschlechtern getrennt. Der Fokus von Kristina Dohrns Untersuchungen liegt auf der weiterführenden Schule für Mädchen.

Türkisch ist an den Gülen-Schulen in Tansania erste Fremdsprache

Allgemein werde das Angebot der Gülen-Schulen in Tansania hoch geschätzt, sagt die Doktorandin: „Die von Gülen inspirierten Schulen zählen dort zu den besten Schulen des Landes. Sie werden auch von Kindern der politischen Elite besucht. Die Lehrer sind gut ausgebildet.“ Als auffällig hat sie die enge Orientierung an der türkischen Kultur empfunden: „Die Schulräume sind häufig mit Gegenständen aus der Türkei ausgestattet.“ Das liege vor allem daran, dass die Schulen in Daressalam durch Sach- und Geldspenden aus der Türkei unterstützt würden.

Türkisch ist an den Gülen-Schulen in Tansania erste Fremdsprache. Kristina Dohrn findet das durchaus nachvollziehbar – „angesichts der steigenden wirtschaftlichen und geopolitischen Macht der Türkei und auch des Aspekts, dass die türkische Kultur innerhalb der Bewegung generell gepflegt wird“. Außerdem bestehe für einige Schüler die Möglichkeit, nach ihrem Schulabschluss in der Türkei zu studieren: „An dieser Stelle greift dann wieder das Netzwerk: Die Anhänger der Gülen-Bewegung helfen tansanischen Studierenden, sich zurechtzufinden, und binden sie gleichzeitig an das Netzwerk.“

Ob nun Mentor oder Anführer einer Sekte – die Meinung über Fethullah Gülen in der Öffentlichkeit bleibt gespalten. Für Kristina Dohrn ist nur eins sicher: Die Rolle, die seine Ideen für die praktische Arbeit vor Ort spielen, sei unterschiedlich. Eine differenzierte Betrachtung hält die Doktorandin deshalb für unerlässlich: „Nur so ist es möglich, die Gülen-Bewegung zu verstehen.“