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Wege aus der Resistenzfalle

Wie Veterinäre der Freien Universität gegen bakterielle Infektionen ankämpfen – und wie Informatiker dieses Vorhaben mit mathematische Modellen optimieren.

03.12.2015

Das Problem ist nicht ganz neu. Aber die Aufmerksamkeit, die dem Thema Antibiotikaresistenzen in den letzten Monaten zuteil wurde, hat es so bisher noch nicht gegeben. Am 13. Mai 2015 hat das Bundeskabinett die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie beschlossen. „DART 2020“ enthält ein Maßnahmenbündel, das darauf abzielt, Resistenzen frühzeitig zu erkennen, den Antibiotikaverbrauch zu überwachen und das Problembewusstsein in der Bevölkerung und bei betroffenen Berufsgruppen zu schärfen.

Geflügelfleisch: Wissenschaftler forschen an der Resistenzbekämpfung vom Ei bis zur Fleischtheke

Geflügelfleisch: Wissenschaftler forschen an der Resistenzbekämpfung vom Ei bis zur Fleischtheke
Bildquelle: photocase-schiffner www.photocase.de/foto/244875-stock-photo-lebensmittel-fruehstueck-ei-viele-markt-stapel

Auch auf internationaler Ebene steht das Thema auf der politischen Agenda: Ebenfalls im Mai 2015 haben sich die Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation WHO auf einen globalen Aktionsplan für den Kampf gegen Antibiotikaresistenzen verständigt. Und Anfang Juni verpflichtete sich der G7-Gipfel unter deutscher Leitung in seiner Abschlusserklärung darauf, sich für eine weltweite Verschreibungspflicht von Antibiotika einzusetzen.

Welche Maßnahmen sind wirksam und welche nicht?

Der politische Wille ist also da. In der praktischen Umsetzung ist es allerdings nicht immer einfach, genau jene Maßnahmen zu ergreifen, die am Ende auch wirksam sind. Ansatzpunkte bieten sich einerseits im Krankenhaus, wo durch den verbreiteten Einsatz von Antibiotika die Bedrohung durch unempfindliche, multiresistente Erreger für die Menschen am größten ist. Genauso wichtig ist es aber, sich um die ambulante Medizin und auch um die Nutztierhaltung zu kümmern – jene Bereiche, in denen rein mengenmäßig sehr viel mehr Antibiotika eingesetzt werden als in den gut 1.000 Krankenhäusern, die in Deutschland eine intensivmedizinische Versorgung anbieten. „Für das Verständnis von Antibiotikaresistenzen muss man sich klar machen, dass resistente Bakterien nicht immer neu entstehen, sondern in der Umwelt schon seit Jahrmillionen vorkommen“, betont Professor Uwe Rösler, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Tier- und Umwelthygiene der Freien Universität Berlin. Wer von einer Zunahme der Resistenzen spricht, meint also nicht, dass auch ständig neue Resistenzen entstehen. Vielmehr werden die Bedingungen für bereits existierende, widerstandsfähige Bakterienstämme durch die in der Human- und Tiermedizin gesetzten Rahmenbedingungen ständig besser. Das ist insofern eine gute Nachricht, da sie impliziert, dass der ganze Vorgang prinzipiell reversibel ist: Würden die Rahmenbedingungen geändert, würde der Anteil der resistenten Erreger zurückgehen.

Resistente ESBL-Erreger: Jeder dritte Keim kommt vom Tier

Rösler und sein Team beschäftigen sich seit vielen Jahren mit derartigen Rahmenbedingungen für die Entwicklung und Weitergabe von Antibiotikaresistenzen – speziell in der Nutztierhaltung. Dort dürfen Antibiotika heute zwar nicht mehr zur Mastbeschleunigung eingesetzt werden, sondern nur noch für therapeutische Zwecke. Doch ist der Einsatz selten gezielt auf das einzelne erkrankte Tier gerichtet. So erfolgt beispielsweise bei erkrankten Geflügelbeständen die Einnahme der medizinischen Substanzen aufgrund der Bestandsgrößen über das Trinkwasser. Die Mitbehandlung gesunder Tiere lässt sich deshalb kaum vermeiden. „Dass die Nutztierhaltung ihren Anteil an der Resistenzproble matik hat, ist unstrittig. Dennoch ist er geringer, als er in den Medien oft dargestellt wird“, so Rösler. Die veterinärmedizinischen Experten der Freien Universität haben die Problematik gemeinsam mit Kollegen im Rahmen des vom Bundesforschungsministerium geförderten RESET-Forschungsverbunds am Beispiel von Escherichia coli-Bakterien untersucht, die sogenannte Extended-Spektrum-Beta-Laktamasen (ESBL) bilden. Diese ESBL machen Bakterien gegen eine ganze Reihe von Antibiotika unempfindlich, die mit dem klassischen Penicillin verwandt sind. ESBL-tragende Erreger können auf Intensivstationen diverse lebensgefährliche Infektionen verursachen. Im RESET-Projekt wurden ESBL-Bakterien von Patienten der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Universitätsklinik Gießen-Marburg genetisch mit jenen verglichen, die in tiermedizinischen Isolaten nachweisbar waren. „Wir konnten im Verbund zeigen, dass etwa ein Drittel der beim Menschen vorkommenden ESBL-Keime jene Resistenzgene tragen, die bei Geflügel, Schweinen und Rindern typisch sind“, sagt Rösler. Bei anderen resistenten Keimen ist die Quote geringer: Bei Methicillin- resistenten Staphylokokken beispielsweise, besser bekannt als MRSA, gehen Rösler zufolge derzeit nur etwa zwei Prozent der menschlichen Infektionen auf Keime aus der Nutztierhaltung zurück. „Die Verläufe dieser Infektionen sind oft auch deutlich milder“, ergänzt er. So komme es dabei zum Beispiel kaum zu einer Sepsis.

Kann Antibiotikaresistenzen vorgebeugt werden können, etwa durch eine Ernährungsumstellung, die die Darmgesundheit von Tieren verbessert?

Kann Antibiotikaresistenzen vorgebeugt werden können, etwa durch eine Ernährungsumstellung, die die Darmgesundheit von Tieren verbessert?
Bildquelle: istockphoto, branex

Geflügelfleisch: Resistenzbekämpfung vom Ei bis zur Fleischtheke

Trotzdem ist klar, dass es in der Nutztierhaltung in Sachen Antibiotika Verbesserungsmöglichkeiten gibt. So wurde unter Koordination von Rösler und seinem Team der Forschungsverbund EsRAM geplant und soll demnächst starten. Das Akronym, das für die „Entwicklung stufenübergreifender Reduktionsmaßnahmen für Antibiotika-resistente Mikroorganismen in der Geflügelfleischkette“ steht, soll sieben Teilprojekte von elf Partnern umfassen. Gefördert durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft sollen im Rahmen von EsRAM Maßnahmen entwickelt und evaluiert werden, mit denen die Entwicklung und die Ausbreitung von resistenten Keimen in der Geflügelfleischkette verhindert werden können. Von Seiten der Freien Universität sind neben dem Institut für Tier- und Umwelthygiene die Institute für Geflügelkrankheiten, für Lebensmittelhygiene, für Fleischhygiene und -technologie sowie für Tierernährung beteiligt. Externe Partner sind neben anderen das Friedrich-Löffler-Institut Jena, das Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin, die Klinik für Vögel und Reptilien der Universität Leipzig sowie der Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft und weitere wichtige Unternehmen der Deutschen Geflügelwirtschaft.

Küken infizieren sich beim Schlüpfen

„Entscheidend bei diesem Projekt ist der stufenübergreifende Ansatz, den wir verfolgen“, so Rösler. „Wir beginnen bei den Elterntieren und enden bei Schlachtung und Verpackung. Auf jeder Stufe kann die Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen durch organisatorische und technische Maßnahmen eingedämmt werden.“ Und das fängt schon beim Brüten an: Es gilt mittlerweile als nachgewiesen, dass ein gewisser Anteil der ESBLBesiedlung in Geflügelfarmen nicht auf den Einsatz von Antibiotika und auch nicht auf Übertragung von Tier zu Tier zurückzuführen ist: „Die Besiedlung der Küken kommt vielmehr oft von den Eltern. Sie werden bereits beim Schlüpfen infiziert, und diese Keime können dann später beim Masthähnchen nachgewiesen werden.“ Ein Problem, das sich möglicherweise eindämmen lässt: durch eine bessere Desinfektion der Brut-Eier, über deren Schalen die Keime auf die geschlüpften Küken übertragen werden. Dass ein solcher präventiver Ansatz funktioniert, hat sich bei Salmonellen gezeigt: „Hier konnte durch die Kombination aus Brut-Ei-Desinfektion, Impfung und verbesserter Hygiene und Haltung, Schlachtung und Verarbeitung die Zahl der jährlichen Infektionen von 190.000 in den 1990er Jahren auf heute 18.000 verringert werden“, so Rösler. Damit das künftig auch bei ESBL-bildenden Bakterien funktioniert, soll zum Beispiel das Desinfektionsverfahren in den Brütereien im Rahmen von EsRAM an diese Erreger adaptiert werden.

Neue Desinfektionsverfahren sollen die Übertragung über die Luft verringern

Auch bei der Schlachtung und Verarbeitung will das EsRAM-Projekt ansetzen: Durch organisatorische, technologische und verarbeitungshygienische Maßnahmen soll beispielsweise verhindert werden, dass ESBL von einer Gruppe Tiere auf die nächste übertragen werden. Bei der Tierhaltung könnten neue Aerosoldesinfektions- und Verschäumungstechniken dazu beitragen, dass nicht-infizierte Tiere, die neu in einen Stall kommen, den Keim nicht so leicht aus der Umgebung „einfangen“ können. Auch durch eine Ernährungsumstellung könnte Antibiotikaresistenzen in der Tierhaltung vorgebeugt werden. „Die derzeit verbreitete Ernährung in vielen Ställen ist für die Darmgesundheit der Tiere nicht optimal“, so Rösler. Eine andere Zusammensetzung des Futters würde die Widerstandskraft erhöhen. Und schließlich soll untersucht werden, ob es möglich ist, resistente Bakterien durch andere, nützliche Bakterien zu verdrängen. Eine solche präventive, probiotische Therapie ist auch in der Humanmedizin nicht unbekannt.

 

Rationale Therapiestrategien statt „trial and error“

Nicht nur die Veterinärmediziner und damit zusammenhängende Wissenschaftszweige interessieren sich für Antibiotikaresistenzen. An der Freien Universität wird dieses Thema auch von Mathematikern bearbeitet: von den Experten für Biocomputing um Professor Carsten Hartmann und Max von Kleist, promovierter Mathematiker, vom Forschungszentrum MATHEON und dem Institut für Mathematik der Freie Universität. „Als Mathematiker interessieren uns unter anderem die optimalen Therapiestrategien bei Antibiotika“, erläutert von Kleist. Ist es mit Blick auf die Vermeidung von Resistenzen sinnvoll, Medikamente zu kombinieren? Und wenn ja: Welche Medikamente wären das? Wie lange – oder kurz – sollten Antibiotika gegeben werden, um die Entwicklung resistenter Stämme zu vermeiden? Welchen Stellenwert haben sequenzielle Therapiestrategien, bei denen Medikamente mit unterschiedlichen Wirkmechanismen nacheinander eingesetzt werden, statt mit einem Medikament so lange zu behandeln, bis es nicht mehr wirkt? Bisher hat die Medizin solche Fragen im Wesentlichen durch klinische Studien beantwortet, die nach dem Prinzip „trial and error“ funktionieren. Von Kleist und seine Kollegen wollen mithilfe mathematischer Modelle Antworten liefern.

Hilfe durch Methoden der HIV-Therapie

Helfen können dabei die langjährigen Erfahrungen der MATHEON-Experten auf dem Gebiet der HIV-Therapie. Dort sind eingesetzte Arzneimittelkombinationen bei der Vermeidung von Resistenzen sehr erfolgreich. „Das Problem ist bei Antibiotika jedoch etwas komplexer, weil beim einzelnen Patienten der Therapieerfolg schwerer messbar ist,“ erklärt der Mathematiker. Anders als bei HIV existieren zudem diversere molekulare Mechanismen der Resistenzentstehung, über die noch längst nicht alles bekannt ist. Eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Trotzdem bleibt das langfristige Ziel der Mathematiker eine Software, die den Praktikern im Krankenhaus konkrete, rational-mathematisch begründete Vorschläge für die Antibiotikatherapie macht. Komplexe Mathematik für komplexe Probleme „Mathematisch betreten wir Neuland und befinden uns im Moment noch in der Grundlagenforschung“, erläutert von Kleist. Konkret arbeiten die Wissenschaftler derzeit an Methoden, die die Vorteile gut rechenbarer, aber unzureichender deterministischer Modelle mit denen der genaueren, aber sehr viel komplexeren stochastischen Modellen verknüpft. „Eine solche Methode erlaubt uns dann das mathematische Problem der Resistenzentstehung realistisch zu modellieren, zu lösen und optimale Behandlungsstrategien zu berechnen. Am Ende soll der Therapievorschlag, den wir machen, möglichst realistisch und praxisnah sein.“ Wie leistungsfähig ein solch kombiniertes Modell sein kann, haben die Mathematiker jüngst bei einer etwas anderen Fragestellung gezeigt: Sie haben am Beispiel komplexer molekularer Netzwerke des Bakteriums Escherichia coli, das im menschlichen Darm vorkommt, die Bildung und Regulation von Biofilmen simuliert. Ein Biofilm ist eine Art Ruhezustand, in den manche Bakterien zeitweise eintreten können und der sie extrem widerstandsfähig gegenüber Antibiotika und auch Desinfektionsmitteln macht. Längerfristig könnten solche Berechnungen bei der Entwicklung neuer antimikrobieller Substanzen helfen, seien es Antibiotika oder Desinfektionsmittelzusätze, weil durch die mathematischen Modelle Angriffspunkte identifiziert werden können, die sonst vielleicht übersehen worden wären.


Die Wissenschaflter

Prof. Dr. Uwe Rösler

Uwe Rösler studierte Veterinärmedizin an der Universität Leipzig, wo er sich 2007 nach der Promotion habilitierte. Er ist Fachtierarzt für Tierhygiene, Bakteriologie und Mykologie sowie Epidemiologie. 2008 wechselte er an die Freie Universität, wo er das Institut für Tier- und Umwelthygiene leitet. Neben der Epidemiologie von multiresistenten Erregern in der Nutztierhaltung zählen die Immunprophylaxe und Bekämpfungsstrategien bei der Salmonelleninfektion des Schweins zu seinen Forschungsschwerpunkten. Rösler gehört den Kommissionen „Biologische Gefahren“ und „Hygiene“ des Bundesinstituts für Risikobewertung an.

Kontakt

Freie Universität Berlin
Institut für Tier- und Umwelthygiene
E-Mail: uwe.roesler@fu-berlin.de

Dr. Max von Kleist

Nach einem Bioinformatik-Studium an der Freien Universität Berlin promovierte Max von Kleist an der National University of Ireland im Fach Mathematik. 2011 übernahm Max von Kleist am Fachbereich Mathematik und Informatik der Freien Universität Berlin die Leitung der Forschungsgruppe „Systems Pharmacology & Disease Control“, die vom DFG-Forschungszentrum MATHEON und dem BMBF gefördert wird. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem der Entwicklung und Anwendung mathematischer Modelle für pharmakologische Fragestellungen.

Kontakt

Freie Universität Berlin
Institut für Mathematik
Biocomputing Group
E-Mail: vkleist@zedat.fu-berlin.de

Prof. Dr. Carsten Hartmann

Dass es sich lohnt, über den Tellerrand seines Fach hinauszublicken, hat Carsten Hartmann früh gelernt, als er sich nach seinem Physikstudium zu einer Promotion in Mathematik entschied. Nach der Promotion an der Freien Universität Berlin und Aufenthalten als Postdoktorand in England, den USA und der Schweiz, wurde er 2011 Juniorprofessor für Mathematik an der Freien Universität Berlin. Seit 2014 ist er Direktor des Berliner Knotens des „Centre Européen de Calcul Atomique et Moléculaire“ (CECAM). Seine Forschungsinteressen liegen im Grenzbereich zwischen Wahrscheinlichkeitstheorie und Wissenschaftlichem Rechnen.

Kontakt

Freie Universität Berlin
Institut für Mathematik
AG „Computational Stochastics“
E-Mail: chartman@mi.fu-berlin.de