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Faktor Mensch

Vom Holozän zum Anthropozän: Ein Gastbeitrag von Reinhold Leinfelder, Paläontologe der Freien Universität und Direktor des „Hauses der Zukunft“.

03.12.2015

Klimawandel, Artensterben, Überfischung, Ölkatastrophen, Verstrahlung, Plastikmüll – wer wäre nicht von der alles erfassenden und allgegenwärtigen Umweltkrise aufgeschreckt? Dabei ist meist immer noch zu wenig bekannt, wie stark unser Leben und Wirtschaften tatsächlich von einem funktionsfähigen Erdsystem abhängen. Wir sehen den Menschen in seinem Sozialgefüge, mit seiner Technik und Kultur auf der einen (uns sehr nahen) Seite, auf der anderen (uns vermeintlich fernen) Seite die Natur, die wir als Heimat oder Urlaubsziel zwar lieben, ansonsten aber – je nach Lesart – nutzen oder ausbeuten. Auch der klassische Umweltschutz denkt weitgehend in dieser Dualität: der anthropozentrische, egoistische Mensch und die gute Natur. Ein unüberbrückbarer Gegensatz?

Wie können wir die Erderwärmung stoppen?

Wie können wir die Erderwärmung stoppen?
Bildquelle: Illustration aus dem Buch „Die Große Transformation. Klima – Kriegen wir die Kurve?

Dass der Mensch nicht nur integraler Bestandteil eines geschlossenen Systems Erde ist, sondern inzwischen selbst ein „geologischer Faktor“, indem er die feste Erdoberfläche, Ozeane und Atmosphäre massiv verändert und in regionale wie globale Wasser-, Sediment- und Stoffkreisläufe eingreift, ist noch nicht ausreichend ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen. Und das, obwohl Geowissenschaftler inzwischen mit Unterstützung vieler weiterer Fachdisziplinen in einer Arbeitsgruppe der Internationalen Kommission für Stratigraphie – einem Forschungsgebiet, das sich mit der Zeitskala geologischer Vorgänge befasst – prüfen, ob nicht wegen der „Systemrelevanz“ des Menschen ganz offiziell ein neuer erdgeschichtlicher Abschnitt ausgerufen werden sollte.

Dem Vorschlag von Nobelpreisträger Paul Crutzen folgend würde dann die letzte erdgeschichtliche Epoche, das nacheiszeitliche, global so umweltstabile Holozän vom Anthropozän abgelöst werden. Der aktuelle Diskussionsvorschlag der Mehrheit der Arbeitsgruppe, zu der auch der Autor gehört, zieht die Grenze zwischen beiden Erdzeitaltern bei 1945/1950, beginnend mit dem ersten radioaktiven Fallout des sogenannten Trinity-Atombombentests im US-Bundesstaat New Mexiko sowie der seit 1950 stark beschleunigten Zunahme von „Technofossilien“ wie Plastik, reinem Aluminium (das in der Natur in elementarer Form nicht vorkommt) sowie vielen weiteren geologisch überlieferungsfähigen Relikten unserer Wachstums- und Wegwerfgesellschaften. Aber nicht nur Geowissenschaftler, sondern auch Ökologen, Historiker und Soziologen verwenden den Begriff immer häufiger und bezeichnen damit übergreifend sämtliche Aspekte der teils zerstörerischen Umweltveränderung durch den Menschen (anthropos).

Ein Begriff mit enorm positivem Potenzial

Hinter der Vorstellung eines vom Menschen verantworteten Erdzeitalters steht jedoch viel mehr als lediglich die Aufzeichnung aller negativen Umwelteingriffe. Das Anthropozän könnte sich zu einem integrativen Konzept entwickeln, das ein Denken in überkommenen Gegensatzpaaren – etwa Kultur versus Natur oder Technik versus Biologie – hinter sich lässt und damit in Forschung und Lehre Disziplinen übergreifend zu systemischen Ansätzen kommt.

Klimaschutz weltweit: Noch reichen die Anstrengungen nicht, um die Klimaziele einzuhalten.

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Die klassische Umweltdebatte hat zwar hinreichend dargelegt, was es dringend zu vermeiden gilt, weitaus weniger sind jedoch Vorstellungen darüber vorhanden, welche Entwicklungen im Anthropozän insgesamt angestrebt werden könnten. Ein Beispiel wären Wege, um Landwirtschaft in funktionierende Ökosysteme einzubetten. Im Zusammenhang damit könnten Anthrome, also menschlich dominierte Regionen entworfen werden, in denen Wohnen, Erholung, Arbeit und Landwirtschaft in neuen „Lebenslandschaften“ zusammengeführt werden. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Erhaltung globaler Gemeingüter, etwa durch neue Formen des Wirtschaftens. Der Natur abgeschaute Ansätze fokussieren auf bio-inspirierte Technologien, etwa organische Leuchtstoffdioden (OLEDS) oder selbstreparierende Werkstoffe, die ohne fossile Brennstoffe und mineralische Rohstoffe auskommen.

Die Anthropozän-Idee könnte, indem sie wirksame Umweltveränderungen aufzeigt, zugleich die Voraussetzungen schaffen helfen für das dauerhafte Leben der Menschen in einem Erdsystem, das auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. In eine Natur der Zukunft könnten Technik und Kultur eingebettet sein: Aus der uns umgebenden „Umwelt“ würde so eine uns einschließende „Unswelt“. Für diese wären alle Menschen kollektiv verantwortlich – von Einzelpersonen und diversen Gemeinschaften über Staaten bis hin zu den Vereinten Nationen. So gesehen birgt der Anthropozän-Begriff ein enorm positives Potenzial.Wenn wir seit einem halben Jahrhundert als „geologischer Faktor“ die Welt an den Rand ihrer planetaren Grenzen bringen, müsste es uns auch möglich sein, mit ebensolcher Macht die Entwicklungen zur nachhaltigen Gestaltung der Welt voranzubringen. Die Angst vor einem ökologischen Weltuntergangs- Szenario könnte graduell weichen und einem Vertrauen in unsere Kraft Platz machen, die „Unswelt“ langfristig zu einem funktionsfähigen Anthropozän zu transformieren – und zwar global und für viele kommende Generationen.

Der Homo sapiens weiß, dass er nicht alles weiß

Wenn der Mensch das Erdsystem und seine Rolle darin besser und besser zu verstehen lernt, tritt er im Anthropozän in ein mögliches neues Zeitalter des Wissens ein. Die unterschiedlichsten Dimensionen geologischer, biologischer, sozialer und auch kultureller Aspekte des Daseins erweisen sich als zusammengehörig. Um diese komplexen Zusammenhänge zu fassen, wird sich eine Wissensordnung ausbilden müssen, in der die heute gesonderten Sphären einzelner Disziplinen eng ver zahnt sind. Es wird notwendig sein, einzelne Wissenszweige ineinander greifen zu lassen, um Prozesse „systemisch“ zu verstehen und Herausforderungen entsprechend anzunehmen. Systemisch zu denken bedeutet jedoch auch, in konkrete Entscheidungen einzubeziehen, was der Mensch, was die Wissenschaft heute noch nicht versteht.

Klimaschutz zum Staatsziel zu machen: Schon im Jahr 2000 gab es diese Forderungen.

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Alle Illustrationen dieses Artikels entstammen dem Buch „Die Große Transformation. Klima – Kriegen wir die Kurve?“. In diesem Buch kämpfen neun Wissenschaftler, darunter auch Reinhold Leinfelder, als Comic-Helden gegen den Klimawandel.

Alle Illustrationen dieses Artikels entstammen dem Buch „Die Große Transformation. Klima – Kriegen wir die Kurve?“. In diesem Buch kämpfen neun Wissenschaftler, darunter auch Reinhold Leinfelder, als Comic-Helden gegen den Klimawandel.

Die dahinter stehende Haltung könnte man als „wissensbasierte Demut“ bezeichnen, die bereit ist anzuerkennen, dass die Naturprozesse deutlich komplexer sind als ursprünglich angenommen und sich einer einfachen Kontrolle durch den Menschen entziehen – etwa der Idee, die Sonneneinstrahlung und damit eine weitere Erderwärmung mithilfe einer Schatten spendenden Schicht kleinster Partikel in 18 bis 30 Kilometer Höhe um den Globus zu minimieren („Solar Radiation Management“). Zu dieser Erkenntnis gehört auch die Einsicht, dass Zukunftsprognosen unsicher und vorläufig sind. Offenheit, Lernfähigkeit und ständige Bereitschaft zum Nachjustieren werden für die Gesellschaft von morgen Werte an sich sein.

Bei aller Komplexität scheint es dennoch möglich, dass wir Menschen in den vor uns liegenden Jahrhunderten und Jahrtausenden des Anthropozäns eine umfassende Kenntnis des Klimasystems, der Lebensvielfalt und der unzähligen Wechselwirkungen zwischen Einzelphänomenen erlangen. Gefährlich wäre es allerdings, sich vorzeitig einer Illusion von Allwissenheit hinzugeben. Das Eingeständnis der Lückenhaftigkeit unseres Wissens entlässt uns jedoch nicht aus der Verantwortung, verschiedene Zukunftsszenarien zu diskutieren, zu verhandeln und dann auch den Weg in die bestmögliche Zukunft zu wählen und zu gestalten. Was wir heute tun und lassen, hat Auswirkungen für geologische Zeiträume. Darin liegt das eigentliche Abenteuer des Anthropozäns.

Der Wissenschaftler

Prof. Dr. Reinhold Leinfelder ist Geologe und Paläontologe und arbeitete an Universitäten in Mainz, Stuttgart, München und Berlin. Ferner war er Generaldirektor der Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns (2003 bis 2005) sowie des Berliner Naturkundemuseums (2006 bis 2010). Von 2008 bis 2013 war er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Er ist Mitglied der Anthropocene Working Group der International Stratigraphic Commission. Daneben gehörte er zu den Initiatoren des „Anthropozän-Projekt“ am Haus der Kulturen der Welt (2012 bis 2014) sowie der aktuell laufenden Sonderausstellung „Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“ am Deutschen Museum in München. Seit 2012 forscht und lehrt Leinfelder am Institut für Geologische Wissenschaften der Freien Universität Berlin. Er gründete dort die Arbeitsgruppe Geobiologie und Anthropozänforschung und ist Principal Investigator des Projekts „Die Anthropozän-Küche – Das Labor der Verknüpfung von Haus und Welt“ am Exzellenzcluster Bild-Wissen-Gestaltung in Sprecherschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Themen der bei ihm durchgeführten Abschlussarbeiten und Dissertationen reichen von der Umweltproblematik bei Korallenriffen, über partizipatives Umweltmonitoring mit Schulen, Insekten als menschliche Nahrung oder neue Kommunikationswege für komplexe Themen mittels Sach-Comics, bis hin zu Sand als endlicher Ressource, plastikreichen Neo-Sedimenten oder dem aus Kriegsschutt bestehenden Berliner Teufelsberg als mögliche Typuslokalität für das Anthropozän. Entsprechend interdisziplinär ist auch die Zusammenarbeit gestaltet, etwa mit den Instituten für Biologie, Geographie, Publizistik und Kommunikationswissenschaften, dem Forschungszentrum für Umweltpolitik und dem Institut Futur der Freien Universität. Seit einem Jahr ist Leinfelder im Rahmen eines Kooperationsvertrags mit der Freien Universität auch Gründungsdirektor des „Hauses der Zukunft“, welches von der Bundesregierung, außeruniversitären Wissenschaftsorganisationen, Akademien, Stiftungen und Firmen getragen wird und 2017 am Kapelle-Ufer (in Nachbarschaft des Berliner Hauptbahnhofs) eröffnet werden soll. Das Haus der Zukunft wird ein Kommunikationsforum zu Zukunftsfragen, bei dem in Ausstellungen, einem „Reallabor“ und vielen weiteren Formaten mögliche „Zukünfte“ visualisiert, erprobt, debattiert und in Pilotprojekten auch partizipativ mitgestaltet werden können.

Kontakt

Freie Universität Berlin

Institut für Geologische Wissenschaften

Fachrichtung Paläontologie

E-Mail: reinhold.leinfelder@fu-berlin.de

Im Netz: www.reinhold-leinfelder.de


Danksagung:

Alle Illustrationen stellte uns das Verlagshaus Jacoby & Stuart freundlicherweise zur Verfügung. 

144 Seiten, ISBN 978-3-941087-23-1