Schwarzer Markt für rote Bücher: Berlin als Zentrum der Raubdruckbewegung der 1968er
Sandra Fluhrer
Hinweise für Studierende
Kommentar
In diesem Seminar mit sehr vielen praktischen Anteilen und Exkursion an die Deutsche Nationalbibliothek Leipzig beschäftigen wir uns mit einer ‚alternativen‘ Form der Literatur- und Buchproduktion: dem Raub- bzw. Nachdruck, der ohne Wissen oder Erlaubnis der Autor:innen bzw. Verlage erfolgt. Es gibt ihn seit Erfindung des Buchdrucks, v.a. Bestseller-Autoren hatten damit zu kämpfen, darunter Luther, Grimmelshausen, Klopstock, Goethe, Wilhelm Busch oder Karl May.
Einen neuen Höhepunkt erlebte der Raubdruck mit der studentischen und linken Bewegung um 1968. Im Zentrum stand der Kampf gegen das Urheberrecht, wie es sich exemplarisch im Namen des Raubdruckverlags „Zerschlagt das bürgerliche Copyright“ zeigt. Eigentlicher Auslöser der Raubdruckwelle um 1968 war aber das enorme Defizit an verfügbarer Literatur, das Nationalsozialismus, Exil und Kalter Krieg hinterlassen hatten, das nun von der jungen Generation in ‚revolutionärer Ungeduld‘ und einem Akt der ‚Selbsthilfe‘ behoben wurde. Besonders gefragt waren Texte von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Herbert Marcuse, Georg Lukács, Sigmund Freud und Wilhelm Reich, später kamen Michel Foucault & Co. dazu. Aber auch literarische Titel gingen gut, etwa von Heinrich Böll, Bertolt Brecht, Günter Wallraff, Salman Rushdie, Umberto Eco, Isabel Allende und Michael Ende. Umschlagplätze waren linke Buchläden, Büchertische vor der Mensa, Kneipen, WGs.
Aber über all das ist noch viel zu wenig bekannt, was nicht zuletzt an der Kriminalisierung von Raubdrucken liegt. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels setzte im Auftrag der etablierten Verlage Detektive auf die Szene an. Später stieg das BKA in die strafrechtliche Verfolgung ein – wegen des (haltlosen) Verdachts auf Unterstützung der RAF. Man findet daher Raubdrucke heute eher in privaten Bücherregalen oder Privatarchiven als in Bibliotheken, denen der Erwerb verboten war.
Will man diese illegale ‚Schattenproduktion‘ näher untersuchen, muss man daher andere Quellen als gewöhnlich finden. Licht ins Dunkel können Recherchen in Uni- und Stadtarchiven bringen, v.a. aber Interviews, denn noch gibt es Zeitzeugen, die man befragen kann: Drucker:innen, Verleger:innen, Buchhändler:innen, Polizist:innen, Kneipenverkäufer:innen, Käufer:innen & Leser:innen. Die Interviews sollen im Sinne einer Oral History aufgezeichnet, transkribiert, ausgewertet und in Teilen veröffentlicht werden.
Organisatorisches: Das Seminar ist Teil eines größeren Lehr- und Forschungsprojekts unter der Leitung von Prof. Dr. Annette Gilbert, Erlangen. Zeitgleich mit dem Seminar an der FU Berlin wird ein Seminar an der Universität Erlangen stattfinden, das sich auf die Spur der dortigen Raubdruckszene begibt.
Exkursion: Geplant ist, dass zum Semesterende beide Seminargruppen in Leipzig zusammenkommen (vorbehaltlich der Finanzierung), wo sich eine einmalige Sammlung von 3.000 Raubdrucken befindet, so dass Gelegenheit sowohl zur Begegnung mit den originalen Materialien als auch zur gegenseitigen Präsentation der Ergebnisse besteht.
Seminarablauf: Das Seminar beginnt mit einem einführenden Block zur Geschichte des Raubdrucks und der Diskussion juristischer, ethischer, politischer und ökonomischer Aspekte sowie der Vermittlung grundlegender Ansätze und Methoden der Oral History und Archivarbeit. Danach sollen Sie selbständig in Kleingruppen tätig werden. Die Interviews werden aufgenommen und mithilfe digitaler Tools transkribiert. Teile davon können später ggf. veröffentlicht werden.
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12 Termine
Regelmäßige Termine der Lehrveranstaltung