Tahiti: Die Erfindung einer sexuellen Heterotopie
Johannes Kleinbeck
Kommentar
Als der Weltumsegler Louis Antoine de Bougainville im April 1768 am Strand von Tahiti an Land geht, projiziert er auf die Maohi – die indigenen Bewohner*innen der Südseeinsel – all jene Vorstellungen, die seit dem Rokoko-Diskurs über die Liebesinsel Kythera und Rousseaus Spekulationen über die vermeintliche »Zärtlichkeit« der sogenannten »edlen Wilden« fest in den Fantasien der französischen Literat*innen verankert waren. Er tauft die Insel nicht nur »Nouvelle Cythère«, in seiner Voyage autour du monde (1771) schreibt er auch über die Tahitianer*innen, ihre »einzige Leidenschaft« sei die »Liebe«, die hier keinerlei »Zwang« kenne. Mit Formulierungen wie diesen etabliert er einen exotistischen Topos über Tahiti, der die Insel als ein »irdisches Paradies« der »freien Liebe« imaginiert: Laut James Cook sei »in keinem anderen Land weniger platonische Liebe anzutreffen«. Und Immanuel Kant meint in den Sitten der Maohi gar eine Vorstufe der »Galanterie« im »bürgerlichen Zustand« zu erkennen, die er selbst im preußischen Königsberg noch nicht verwirklicht sah. Auch wenn sich schon Georg Forster, Denis Diderot oder Herman Melville kritisch mit solchen kolonialen Tagträumen auseinandergesetzt haben, bleiben sie mehr als 200 Jahre lang fester Bestandteil europäischer Imagination.
Das Seminar möchte sich diesem Topos über Tahiti auf drei Wegen annähern: In einem ersten Schritt versuchen wir mit Hilfe der Anthropologin Anne Salmond die kosmologischen Prämissen zu rekonstruieren, mit denen die Maohi die ersten Begegnungen mit den Europäer*innen gedeutet haben. In einem zweiten Schritt soll in der Lektüre von Entdeckungsreisenden wie Samuel Wallis, Bougainville, Cook oder Georg Forster, von Philosophen wie Rousseau und Kant, aber auch von Literaten wie Denis Diderot oder Herman Melville die Entstehung, aber auch die Kritik dieses Diskurses über Tahiti als Ort der »freien Liebe« nachgezeichnet werden. Und in einem dritten Schritt will das Seminar dem Umstand nachgehen, dass Michel Foucault 200 Jahre nach Bougainvilles Aufenthalt auf Tahiti – nämlich im Jahr 1969 – die Beschreibungen des ersten französischen Weltumseglers heranzieht, um sich kritisch mit den Vorstellungen der Studierendenbewegung und ihrer Ideen einer »freien Liebe« auseinanderzusetzten. In seiner an der Reformuniversität Vincennes gehaltenen Vorlesung über Le Discours de la sexualité (1969) vergleicht er Herbert Marcuses Eros and Civilisation (1955) mit nichts anderem als mit Bougainvilles schwelgerischen Berichten von Tahiti, um die spezifische Funktionsweise einer von ihm sogenannten »sexuellen Heterotopie« zu erläutern.
Für das Seminar ist ein Besuch im Schloss Charlottenburg geplant, um gemeinsam über Antoine Watteaus Gemälde Pèlerinage à l’île de Cythère zu diskutieren.
SchließenLiteraturhinweise
Lektürevorschlag zur Vorbereitung:
Anne Salmond,
- Two Worlds: First Meetings Between Maori And European 1642–1772, Honolulu 1992.
- Aphrodite's Island: the European Discovery of Tahiti, Berkeley 2011.
14 Termine
Regelmäßige Termine der Lehrveranstaltung
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