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Engagement gegen Sexismus und Rassismus

Liebe Dagmar Schultz, verehrte Anwesende,

die diesjährige Preisträgerin -  Dagmar Schultz – macht dem Anliegen der Auszeichnung und dem Vermächtnis Margherita von Brentanos alle Ehre: von Brentano wirkte – als Professorin am Philosophischen Institut und als erste Frau im Amt der Vizepräsidentin an der FU (1970-72) – mit großem Engagement darauf hin, die berufliche Diskriminierung von Frauen zu überwinden und die Situation von Frauen an Hochschulen zu verbessern.

Sowohl das persönliche und professionelle Wirken von Dagmar Schultz als auch eine Reihe ihrer Projekte setzen – auf aktuelle Art und Weise – dies Engagement von Brentanos fort, inklusive dem mahnenden Drängen den (mehr oder weniger frauenbewegten) Betroffenen gegenüber, ein wachsames Bewusstsein nicht nur für geschlechtsspezifische sondern auch andere Arten der Diskriminierung zu entwickeln.

Während Margherita von Brentano sich in den frühen 1960er Jahren gegen das mangelnde Gespür von Wissenschaftlerinnen gegenüber geschlechtsspezifischen Diskriminierungen, denen sie selbst ausgesetzt sind, wandte, war Dagmar Schultz eine der ersten in Deutschland, die in ihrer wissenschaftlichen und verlegerischen Arbeit forderte, unser Gespür für kulturelle Differenzen, Privilegien und Diskriminierungen in der Hochschule, aber auch in der Frauenbewegung, zu schärfen. Sie wirkte so -- und das mit einigem Erfolg -- auf eine differenzierte Sichtweise der Geschlechterthematik hin, durch ihre kontinuierliche Betonung der Bedeutung von (bislang unterbelichteten) Differenzen unter Frauen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft. Indem sie diese Problematik in ihrer Lehre, ihrer Forschung, ihren umfangreichen Veröffentlichungen, und ihrem politischen Engagement in unterschiedlichen Settings aus unterschiedlichen Perspektiven thematisierte, trug sie maßgeblich zur kritischen (Selbst)Reflektion und Neuausrichtung der deutschen feministischen Eigenwahrnehmung und zur Verankerung innovativer Forschungsperspektiven in der Sozialisations- und Bildungs-, sowie in der Geschlechterforschung bei.

Die Auswahl der Preisträgerin erscheint mir in diesem Jahr besonders gelungen, ehrt die FU mit Dagmar Schultz doch

- eine kluge und äußerst produktive Soziologin, Feministin, Verlegerin, die – lange bevor das Konzept der Intersektionalität als neues Erkenntnisinteresse und Paradigma in der Frauen- und Geschlechterforschung Furore machte – darauf gedrängt hat, die Verschränkung und das Zusammenwirken unterschiedlicher Diskriminierungsformen zu beachten,

- darüber hinaus gilt der Preis auch hervorragenden Projekten im Bereich der Geschlechterforschung: in diesem Fall ermöglicht er die Fertigstellung eines Films über Audre Lordes Berliner Jahre und die Verwirklichung des Audre Lorde Archivs an der Bibliothek der FU.

Lassen Sie mich etwas ausholen zur Person Dagmar Schultz und zum besseren Verständnis ihres Wirkens:

Im (Nach)kriegs-Berlin in einer vaterlosen Familie aufgewachsen – wie drei Viertel ihrer Schulklasse – erfüllte sie sich nach einem Au-pair Aufenthalt in Frankreich ihren "Traum, Studentin zu werden": sie nahm 1961 an der FU das Studium der Publizistik, Nordamerikastudien, Romanistik auf. Nach zwei Jahren beantragt sie ein Visum für die USA, um dort Rundfunk und Fernsehen zu studieren. In Ann Arbor/Michigan findet sie sich inmitten der Bürgerrechtsbewegung, geht zu Veranstaltungen von CORE und arbeitet mit an Kampagnen der Mississippi Freedom Democratic Party.

Nach Beendigung ihrer Magisterarbeit (zur Rolle von Rundfunk und Fernsehen in West-Afrika) 1965 beschließt sie, sich um eine Lehrstelle an einem College für Schwarze im Süden zu bewerben, weil sie nicht nur für einen Sommer – wie viele weiße StudentInnen damals – in den Süden gehen wollte. Neben ihrer Arbeit am Rust College in Holly Springs, Mississipi, engagierte sie sich in der Bürgerrechtsbewegung, u.a. beim Aufbau von Bildungsprogrammen für Erwachsene; danach arbeitet sie noch ein Jahr in einem Armutsbekämpfungsprogramm des OEO in Puerto Rico.

Die Erfahrungen und Begegnungen dieser Jahre führen sie dazu, ihrer eigenen Identität als Weiße /Deutsche /Frau – und der Bedeutung dieser Unterschiede und mit ihr einher gehenden Privilegien - gewahr zu werden.

Auch als sie 1967 von Puerto Rico zurück in die USA geht, um ein PhD Studium in Soziologie & Erziehungswissenschaften an der U of Wisconsin/Madison aufzunehmen, engagiert sie sich – jetzt im Rahmen der Antivietnamkriegs-Bewegung und im Kampf um eine Black Studies Center. In den letzten Jahren ihres Promotionsstudiums ist sie in der Chicagoer Women's Liberation Union aktiv (1969-71)und unterrichtet (69-70) am Columbia College in Chicago, wo sie erstmals die Themen erprobt, zu denen sie selbst später wegweisend beitragen wird: Sociology of Women; Race, Class & Ethnicity; Sex Roles in the Media.

Nach 10 prägenden Lehr- und Wander-Jahren in den USA und mit einem PhD in der Tasche landet Dagmar Schultz 1974 am JFKI, zunächst als wiss. Mitarbeiterin für Soziologie und englische Fachdidaktik, und 1979-86 als Hochschulassistentin, wo sie ein Fachdidaktikprogramm für Studierende mit dem Berufsziel des Lehramts an Gymnasien aufbauen soll. Sie leistete Pionierarbeit, indem sie ein beispielhaftes Programm entwickelte, in dem Studierende sich interdisziplinär mit Themen wie Immigrationsgeschichte der USA, Kultur und Literatur von Frauen in den USA, Ethnizität und Erziehung in den USA, women's cultures, Black women, oder auch der amerikanische Westen theoretisch und inhaltlich auseinander setzten, um in darauf folgenden Seminaren Aspekte dieser Themen für die Lehre in Schulpraktika umzusetzen.

Und sie leistete Pionierarbeit was die Etablierung von Women's Studies im Curriculum der NAS anging, wobei sie obendrein eine der ersten war, die inter- und intrakulturelle Aspekte in diese Themenbereiche integrierte.

Ihre Bemühungen um eine Institutionalisierung vom Women's Studies und um die Einstellung von Lehrenden mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund beinhaltete auch die Einladung von Gastprofessorinnen  - so holte Dagmar Schultz eminente Vertreterinnen von Frauenstudien und Black Studies, u.a. Florence Howe, Carrol Smith-Rosenberg, Brenda Berrian, und Audre Lorde (1984) nach Berlin – dazu gleich mehr.

Was Dagmar Schultz' wissenschaftliche Publikationen angeht, so setzte sie bereits 1978/79 mit einer 2-bändigen Studie das Thema Sexismus im Erziehungswesen – was für Deutschland überhaupt die erste Untersuchung zum Thema darstellte - auf die Agenda der Lehrerausbildung. Band 1 versammelt eigene Recherchen zu verschiedenen Bereichen der Pädagogik und Schulpolitik und die Auswertung von Interviews mit 60 Lehrerinnen und Lehrern und ebenso vielen Schülerinnen; Band 2 ist Ergebnis des intensiven Bezugs zur Praxis, den sie in der Zusammenarbeit mit Lehrerinnen an Schulen während der Lehrpraktika ihrer Studierenden aufgebaut hatte, und enthält Beiträge von Schülerinnen, Lehrerinnen und Pädagoginnen. Die beiden Bände wurden zu Grundlagenwerken für das damals rasch wachsende Interesse an der Situation von weiblichen Schülern und Lehrern, und produzierten ein riesiges Echo nicht nur an Universitäten im In- und Ausland, sondern auch bei Gewerkschaften und professionellen Verbänden.

Ein anderes zentrales Thema ihrer Veröffentlichungen war bedingt durch ihre Lebens- und Arbeitserfahrungen in den USA: diese brachten Dagmar Schultz dazu, die Theorien der Frauenforschung immer wieder kritisch zu hinterfragen. Bereits 1981 provozierte sie mit dem Aufsatz "Dem Rassismus in sich begegnen" (in Courage) die Diskussion über Rassismus in der Frauenbewegung. Mit dem Text "Unterschiede zwischen Frauen – ein kritischer Blick auf den Umgang mit 'den Anderen' in der feministischen Forschung weißer Frauen" (1990)stellte sie diese kritische Analyse, die kulturalistische Ansätze in die deutsche Frauenbewegung und –forschung einführte, auf ein systematisches Fundament.

Einen wichtigen Meilenstein in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zum Sexismus im Erziehungswesen stellte das Forschungsprojekt über die Arbeits- und Lebenswelt von weiblichen UND männlichen Professoren an Universitäten der BRD dar, das 1983-86 von der DFG finanziert wurde (und mit dem sie 1989 habilitierte). Mit dieser Studie konnte sie aufzeigen, wie geschlechtsspezifische Erfahrungen mit institutionellen und personellen Strukturen der Universität dahingehend zusammen wirken, dass Frauen und Männer ihre Karriere unterschiedlich konzipieren und die Anforderungen der Hochschule unterschiedlich erleben und bewältigen.

Auch nachdem Dagmar Schultz 1990 an die Alice Salomon Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik berufen wurde, blieb sie bis 2002 aber noch PD am Institut für Soziologie an der FU, wo die Themen ihrer Lehrveranstaltungen sich wie Anleitungen zur Verbindung von Theorie und Praxis, wie Hinweise auf die gesellschaftliche Relevanz von soziologischer und Gender-Forschung lesen:

Rassismus und Sexismus in USA und BRD; Politik des schwarzen Feminismus in Theorie und Praxis; Rassismus und Antisemitismus in Sozialisationsprozessen; Unterschiede zwischen Frauen und Möglichkeiten der Bündnispolitik; Frauen und die 'Color Line'; Afro-Deutsche in Forschung, Literatur, Film; Frauen und Gesundheit ...

An der Alice-Salomon-Hochschule gehörte Dagmar Schultz Anfang der 1990er Jahre zu den Initiatorinnen des ersten Promotionskolloquiums für Fachhochschulabsolventinnen. Bis 2003 arbeitete sie in dem Kolloquium mit und beteiligte sich als Privatdozentin an den Promotionskommissionen ihrer Studierenden am Soziologischen Institut der Freien Universität.

Neben ihren vielfältigen wissenschaftlichen Projekten (und neben all der hochschulpolitischen Arbeit war es Dagmar Schultz in der Tat sehr wichtig, die Verbindung zwischen Forschung und Lehre an der Hochschule und sozial engagierter Praxis außerhalb herzustellen und von beiden Seiten zugänglich zu machen. Nicht nur band sie, wo immer dies möglich war, Studierende im Rahmen von Seminaren in die empirische Arbeit ihrer Forschungsprojekte ein. Auch sie selbst forschte nicht nur zu, sondern verankerte sich auch selbst in der Praxis der Frauenbewegung.Sie war 1974 (bis 80) Mitgründerin des Feministischen Frauen Gesundheits Zentrums in Berlin, dem ersten von später 20 Zentren, und seiner Zeitschrift CLIO. Sie begründete dort die Frauen Selbsthilfe Bewegung im Gesundheitsbereich mit den Mitstreiterinnen,veröffentlichte ein Buch zur Selbsthilfebewegung und zahlreiche, auch komparative Aufsätze zur Gesundheitsversorgung von Frauen.

(Mitte der 90er Jahre nahm sie das 20jährige Bestehen der Gesundheitszentren zum Anlass für eine empirische Untersuchung der Entwicklung der 19 Zentren, die vom Bundesministerium f. Familie/Senioren/Frauen & Jugend veröffentlicht wurde.)

Das wichtigste Vehikel ihrer antirassistischen Arbeit war ihr der 1974 von ihr mitgegründete Orlanda Verlag, den sie ab 1982 leitete. Mit dem Verlag schuf sie ein Forum für Themen, die in der damaligen Öffentlichkeit noch Tabus darstellten (er veröffentlichte z.B. den ersten feministischen Titel in Deutschland zum Thema sexueller Missbrauch), aber auch Literatur von schwarzen Frauen, von women of color, von Jüdinnen in Deutschland und international.

Aber auch ganz praktisch setzte der Verlag die politischen Ansprüche in die Tat um: seit Mitte der 80er Jahre besteht das Verlagsteam zur Hälfte aus women of color.

1983 gab Dagmar Schultz eine Sammlung von Prosa und Gedichten von Audre Lorde und Adrienne Rich – Macht und Sinnlichkeit – heraus; auch dies Buch wurde sehr wichtig für die kritische Diskussion über Rassismus und Antisemitismus in der Frauenbewegung.

Dagmar Schultz war Audre Lorde erstmals 1980 auf der Weltfrauenkonferenz in Kopenhagen begegnet und 1981 auf der Jahreskonferenz der National Women's Studies Association, wo sie die key note address gab. Sie war Professorin für Englische Literatur am Hunter College, veröffentlichte 15 Gedichtsammlungen, den Roman ZAMI, mehrere Essaybände und erhielt 1991 den Walt Whitman Citation of Merit, mit dem sie zum NY State Poet, zur Dichterin des Staates NY 1991-93 ernannt wurde. Dagmar Schultz gelang es, sie 1984 als Gastprofessorin nach Berlin zu holen, ans JFKI; dank dieser Gastprofessur und vielen folgenden regelmäßigen Aufenthalten in Berlin (1984 bis 92 jedes Jahr mehrer Monate) entstanden intensive Kontakte mit schwarzen Deutschen; dank Lordes Initiative entstand auch das Buch "Farbe Bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren der Geschichte", für das Dagmar Schultz als Mitherausgeberin fungierte.

Gegenwärtig arbeitet Dagmar Schultz an einem Film über Audre Lordes Einfluss und ihr Leben in Deutschland. Mit Hilfe von  - über 20 Jahre von Dagmar Schultz archivierten - Video- und Tonbandaufnahmen und ihren Fotos wird der Film die enorme Wirkung dokumentieren, die Audre Lorde auf politische und künstlerische Entwicklungen unter schwarzen und weißen Frauen, aber auch Männern, in Deutschland, sowie in West- und Osteuropa, ausgeübt hat. Er wird nicht nur ein wichtiges historisches Dokument, das die Entstehung einer afro-deutschen Bewegung und die Ursprünge der antirassistischen Mobilisierung im gerade wiedervereinten Deutschland erzählt, sondern auch aktuelle Debatten zu einem konstruktiven Umgang mit Unterschieden anregen. Darüber hinaus wird das Preisgeld in die Einrichtung eines Archivs über Audre Lordes Arbeit an der FU und ihr Wirken in Berlin und Europa fließen, und damit wichtige Quellen für die Forschung zu den wechselseitigen Einflüssen zwischen afro-deutscher Community und der Ikone der afrikanisch-amerikanischen und feministischen Bewegungen in USA zugänglich machen.

Die heutige öffentliche Wertschätzung darf natürlich nicht darüber hinweg täuschen, dass wir, wo wir loben, eigentlich ein gesellschaftspolitisches Versagen zu beklagen haben: Xenophobie, Rassismus, Migrantenfeindlichkeit sind keineswegs auf dem Rückzug, und die nach wie vor magere Repräsentanz migrantischer Frauen in jeder universitären Statusgruppe verstören - und mahnen uns, dass noch viel zu tun bleibt auf dem Weg, den Dagmar Schultz aufgezeigt hat – auch und gerade in der Universität.

Aber heute dürfen wir kurz inne halten und loben:

Liebe Dagmar, ich gratuliere Dir sehr herzlich zu diesem Preis und beglückwünsche die Jury des Margherita-von-Brentano-Preises (das Präsidium und den zentralen Frauenrat) zu ihrer Wahl. Auch im Namen des JFKI kann ich sagen, dass wir uns mit Dir über diesen Preis freuen und über alles, was wir noch von Dir erwarten und erhoffen können, v.a. natürlich die Fertigstellung des Films "Audre Lorde – Die Berliner Jahre 1984 bis 1992" und die Verwirklichung des Audre Lorde Archivs an der Bibliothek der FU.

 

Die Laudatio hielt Prof. Dr. Margit Mayer.