Theoriezirkulationen ab 1967
Julius Böhm
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In den 1960er und -70er Jahren profilierte sich ‚Theorie‘ – im Kollektivsingular, ohne Spezifizierung und Artikel – als eigenständiges Genre im interdisziplinären Zwischenfeld von Literatur, Literaturwissenschaft, Ethnologie und Philosophie. Es handelt sich um eine Gattung, die sich durch ihren oft schwierigen, aber auch literarischen Stil auszeichnet, die gegen den common-sense schreibt und die häufig einen anti-akademischen Gestus einnimmt (Culler 2013; Felsch 2015). Prominente Beispiele finden sich insbesondere im französischen (Post-)Strukturalismus (der sog. ‚French Theory‘), der Kritischen Theorie, in postkolonialer Theorie, im Feminismus sowie später in der Queer- und Gender Theory. Im Zuge ihrer räumlichen und zeitlichen Zirkulation wird Theorie umgeformt: z.B. durch Übersetzungen und transnationale Transfers, kontextualisierende Vorworte und die buchmaterielle Gestaltung verschiedener Ausgaben, durch veränderte historische Bedingungen und popkulturelle Trends. Dabei ist das Theoriebuch nicht nur das Medium, in dem sich die Theorie mitteilt, sondern auch eine Ware im kapitalistischen Produktionsprozess – auch wenn sich ihr Inhalt oftmals gegen diese Produktionsbedingungen ausspricht.
Der Ansatz dieses Seminars ist es, Theorie ausgehend vom Theoriebuch als lebendiges historisches Phänomen zu begreifen, das sich von der Erstveröffentlichung, ihren Paratexten, über Raubdrucke und frühe Übersetzungen, Neuausgaben und werkpolitische Kommentierungen bis hin zur (illegalen) Verbreitung digitaler Ausgaben und der Zusammenfassung von Texten in Werkausgaben dynamisch gestaltet. Wir lesen Theorietexte in einem theoriegeschichtlichen und theoriephilologischen Kontext. Es geht also um die vermeintlich ‚äußeren‘ Bedingungen ihrer Zirkulation (Aufmachung der Bücher, Paratexte, Vergleich verschiedener Ausgaben, Verkaufszahlen und ökonomische Konjunkturen usw.), zugleich jedoch um die Zusammenhänge dieser Bedingungen mit den Texten selbst, ihren formalen Verfahren und ihren Inhalten. Mögliche Lektüren umfassen Werke von Guy Debord, Kate Millett, Oskar Negt/Alexander Kluge, Julia Kristeva und Klaus Theweleit.
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Jonathan Culler: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Stuttgart: Reclam 2013; Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960–1990, Frankfurt a.M.: Fischer 2016.
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