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Lecture | Emotions and Citizenship in Societies in Turmoil: Juxtaposing Russia and Israel. Discussion mit Julia Lerner.

Dec 09, 2025 | 04:00 PM

Wie gelingt es Bürger*innen, ein Gefühl von Normalität aufrechtzuerhalten, wenn das Leben von Unruhen und existenziellen Bedrohungen geprägt ist? Welche kulturellen Mechanismen ermöglichen es, den Alltag von staatlicher Gewalt zu entkoppeln? Und wie tragen Institutionen dazu bei, nicht nur Arbeit und Dienstleistungen, sondern auch Repression und Krieg zu normalisieren?

In ihrem Vortrag untersucht Julia Lerner (Ben-Gurion-Universität des Negev) diese Fragen anhand eines Vergleichs zwischen Putins Russland und dem zeitgenössischen Israel mit besonderem Fokus auf die Kriegsjahre 2022 bis 2025.

Trotz aller Unterschiede weisen beide Gesellschaften auffällige Parallelen auf: ambivalente Beziehungen zum Westen, eigene koloniale Projekte und einen neokonservativen Wandel, der von wachsendem Nationalismus, moralischem Fundamentalismus und anhaltender Militarisierung geprägt ist. Beide erleben das Paradox einer „Hyper-Normalisierung“ des Alltags mitten in der Krise.

Auf Grundlage multi-situierter ethnografischer Forschung zeigt Lerner, wie Russland und Israel die emotionale Sprache der therapeutischen Kultur übernommen und neu definiert haben – eine Sprache, in der persönliche und öffentliche Gefühle durch psychologische Diskurse und neoliberale Vorstellungen von Selbstregulierung geprägt werden. In der gegenwärtigen ideologischen Lage wird jedoch zunehmend erwartet, dass Bürger*innen politische Loyalität durch moralisierte Emotionen – Scham, Angst, Stolz oder Verachtung – ausdrücken und damit privates Empfinden mit staatlicher Ideologie verschmelzen.

Lerners Forschung verdeutlicht, wie sich therapeutische Kultur mit politischer Gewalt verflechtet: In Russland dient emotionaler Diskurs sowohl der Rechtfertigung von Repression als auch subtilen Formen des Widerstands; in Israel rücken nach dem 7. Oktober Traumadiskurse persönliches Leiden in den Vordergrund und verdrängen moralische Reflexion.

Lerner schlägt einen phänomenologischen Zugang zum Verständnis emotionaler Bürgerschaft in erodierenden Demokratien vor – dort, wo das Streben nach individuellem Wohlbefinden und emotionaler Stabilität in einem widersprüchlichen Verhältnis zu kollektiver Mobilisierung und nationaler Überlegenheitsideologie steht.

Julia Lerner ist Professorin am Department of Sociology and Anthropology der Ben-Gurion-Universität und Research Fellow am Van Leer Jerusalem Institute. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Wissens- und Migrationsanthropologie. An der Schnittstelle dieser Felder untersucht sie die Verlagerung von Ideen und Menschen und erforscht kulturellen Wandel sowohl im postsowjetischen Russland als auch in der russischsprachigen Gemeinschaft in Israel. Derzeit arbeitet Julia an einem Buchmanuskript mit dem Titel Translating Post-Soviet Knowledge, das auf ihrer Dissertation (2007, HUJI) basiert. Außerdem ist sie an zwei neuen Forschungsprojekten beteiligt, die sich mit der Analyse emotionalen und moralischen sozialen Wissens in Migrationskontexten befassen: Ein Projekt untersucht die Formen der Aneignung therapeutischer Kultur im populären Diskurs des postsowjetischen Russlands, während das andere die religiösen Transformationen postsowjetischer Migrant*innen in Israel in den Blick nimmt.

Die Veranstaltung wird in englischer Sprache stattfinden.

Time & Location

Dec 09, 2025 | 04:00 PM

Raum 0.3099 B,
Rost- und Silberlaube
Habelschwerdter Allee 45-47
14195 Berlin