Philologie als Provokation
Antragstellende
Prof. Dr. Kai Bremer, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
Prof. Dr. Melanie Möller, Institut für Griechische und Lateinische Philologie
Eine maßgebliche Voraussetzung für die Philologie sei, so eine dominierende Annahme seit der Antike, die Zurückgezogenheit, ja eine gewisse Weltferne. Diese Einschätzung steht im deutlichen Kontrast zu den zahlreichen philologischen Konflikten, die die Philologie immer wieder prägten und die deutlich die Grenzen der rein methodisch-fachlichen Debatte überschritten. Schon in der Antike – etwa in Suetons Darstellung des Philologen Krates – lässt sich beobachten, dass das Erzählen über Philologen darum bemüht ist, markante biographische Momente zu schildern, um ein Scheitern zu inszenieren. Mittels Diskreditierung wird auf provozierende Philologen oder ihre methodologischen Vorgänger, die grammatikoi und kritikoi, reagiert, was wiederum Reaktionen und weitere Kontroversen zur Folge haben kann. Zudem scheinen Philologen eine Affinität zur Aggressivität bzw. Schärfe in Äußerungen über Kollegen bzw. deren Bücher zu haben. Das prominenteste Beispiel dafür dürfte Wilamowitz' Zukunftsphilologie! (1872) sein, in der dieser Nietzsches Geburt der Tragödie (1871) auf vernichtende Weise kritisiert. Auch der (vermeintlichen) Kritik ist damit das dynamische Ineinander von Provokation und Reaktion eigen.
Zielte die Polemik gegen provozierende Philologen bzw. philologische Schriften bis Ende des 20. Jahrhunderts darauf, den Gegner auszuschließen, so provozieren die Philologie bzw. diejenigen, die für sie stehen, mittlerweile methodisch anders ausgerichtete Bereiche der Sprach- und Literaturwissenschaften dermaßen, dass sie zum Teil fundamental angegriffen werden. Selbst dem Wort 'Philologie' scheint inzwischen vielerorts großes Provokationspotential innezuwohnen. Das zeigt sich bspw. daran, dass die faktische Vielfalt der Ansätze, die sich hinter 'Philologie' versammeln, in jüngeren Debatten zumeist ausgeblendet wurde, so dass die Angriffe gegen 'die' Philologie vielfach pauschal und unterkomplex waren und der begrifflichen und methodischen Verwandtschaft etwa von Literatur- und Kulturwissenschaft, Linguistik sowie Hermeneutik in geschichtsvergessener Selbstgewissheit zu spotten scheinen. Der dezidiert erhobene Anspruch auf ideologiefreie Genauigkeit von Lektüren wurde und wird mit einem Anfangsverdacht belegt. Dadurch wird dem Versuch, kritisches Denken in und an der Literatur freizulegen, unterstellt, notwendig zum Scheitern verurteilt zu sein.
Mit diesen Überlegungen schließt das DHC-Netzwerk "Philologie als Provokation" sowohl an philologische, aber auch publizistische Arbeiten von Melanie Möller als auch an die Forschungen von Kai Bremer zur Philologiegeschichte und der literaturwissenschaftlichen Konfliktforschung an (s. die unten angeführte Auswahlbibliographie) und macht sie zum Ausgangspunkt, um das Provokationspotential der Philologie in zwei Schritten epochenübergreifend zu untersuchen. In einem ersten Workshop soll die Frage erörtert werden, warum 'Initialtexte' (Wilfried Barner) von philologischen Kontroversen als provokant gelten. Im zweiten Workshop soll erörtert werden, ob die ursprünglichen Provokationen im Verlauf der jeweiligen philologischen Kontroversen weiterhin präsent sind bzw. ob oder wie sie durch weitere Provokationen überlagert werden. Dadurch soll nicht nur die Frage erörtert werden, wie sich das Provokationspotential der Philologie historisch wandelt, sondern zugleich untersucht werden, wie Historisierung von Kontroversen und Provokationen wiederum streitstrategisch genutzt wird, um philologische Auseinandersetzungen unter veränderten Voraussetzungen fortzuführen, wiederzubeleben oder zu relativieren.
Der erste Workshop findet vom 12.-13.3.2024 an der Freien Universität Berlin statt. Das Programm finden Sie hier. Diskussionsgrundlage für den Workshop ist ein Reader. Wenn Sie als Gast an dem Workshop teilnehmen möchten, wenden Sie sich bitte an die Veranstalter:innen, die Ihnen gerne den Reader zur Verfügung stellen.
Der zweite Workshop wird sich 2025 ebenda anschließen.
Auswahlbibliographie
Kai Bremer:
Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie. Hrsg. zusammen mit Anne Bohnenkamp, Uwe Wirth und Irmgard Wirtz. Göttingen: Wallstein 2010.
Texte zur Philologie. Hrsg. zusammen mit Uwe Wirth. Stuttgart: Reclam 2010.
Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Hrsg. zusammen mit Carlos Spoerhase. Frankfurt a.M.: Klostermann 2011 (Zeitsprünge 15 [H. 2/3]).
„Theologisch-polemisch-poetische Sachen“. Gelehrte Polemik im 18. Jahrhundert. Hrsg. zusammen mit Carlos Spoerhase. Frankfurt a.M.: Klostermann 2015 (Zeitsprünge 19 [H.1-4]).
Handbuch Versepik. Paradigmen - Poetiken - Geschichte. Hrsg. zusammen mit Stefan Elit. Berlin: Metzler 2023.
Melanie Möller:
Talis oratio – qualis vita. Zu Theorie und Praxis mimetischer Verfahren in der griechisch-römischen Literaturkritik. Heidelberg: Winter 2004.
Ein trojanisches Pferd der Philologie, in: FAZ (Beilage Geisteswissenschaften), 11.11.2015 (Replik auf Raoul Schrott)
Todesstrafe für Schmähkritik? Nicht so hastig!, in: FAZ (Beilage Geisteswissenschaften), 01.06.2016
Lassen wir die Sache. Athematisches Lesen: in der Literaturwissenschaft ergreifen jetzt die Liebhaber der Philologie wieder das Wort, in: FAZ (Beilage Bildungswelten), 30.05.2018. Repliken in der FAZ vom 8.8. und 5.9
Gegen-Gewalt-Schreiben. De-Konstruktion von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovidrezeption, Berlin/New York: De Gruyter 2020.
Der menschliche Betreff. Philologie auf dem Weg zum neuen Lesen, in: FAZ (Bildungswelten), 28.10.2021, S. 6.
Ovid Handbuch, Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart: Metzler 2021.