Die vielen Gesichter Russlands
Letzte Post aus Sankt Petersburg! Am Ende ihres Aufenthalts ist Lilia Becker durchs Land gereist
05.03.2020
In Kasan: Vor dem weißen Kreml mit Blick auf die Kul-Scharif-Moschee.
Bildquelle: Diana Soares Cardoso
3500 Kilometer auf Gleisen, 60 Stunden im Zug – innerhalb von zehn Tagen. Diese Zahlen sind die nüchternen Eckdaten dessen, was ich auf russischen Gleisen und in wiegenden Zügen nach meiner Prüfungsphase erlebt habe.
Von Sankt Petersburg ging es zuerst nach Nischni Novgorod – eine bedeutende Industriemetropole 400 Kilometer östlich von Moskau. Hier habe ich nicht nur das Wohnhaus des in der Stadt geborenen Schriftstellers Maxim Gorki besichtigt, sondern mich beim gedankenlosen Spazieren durch die Stadt – wo sich die Flüsse Oka und Wolga umarmen – verlaufen. Das vielseitige Architekturensemble lädt zum stundenlangen Flanieren ein, und so landet man früher oder später in der auf einem Hügel gelegenen, gut erhaltenen Altstadt. Im ehemaligen Waffenarsenal des Kremls befindet sich heute ein Museum für zeitgenössische Kunst, das definitiv einen Besuch wert ist.
Eine Kapelle im Tempel aller Religionen – ein Ort der Begegnung und Toleranz.
Bildquelle: Lilia Becker
Fährt man weiter Richtung Osten, lernt man Russland überraschend anders kennen. In der autonomen Republik Tatarstan bekennen sich knapp die Hälfte der Einwohner zum Islam. Die Schönheit der Kul-Scharif-Moschee mitten im Herzen des verschneiten Kasans, der Hauptstadt der Republik, hallte in mir noch lange nach. Das Gebäude wurde 2005 fertiggestellt und soll das friedliche Zusammenleben von Muslimen und Christen Tatarstans symbolisieren. Ein weiteres architektonisches Highlight ist der Tempel aller Religionen – etwas abseits der Stadt gelegen. Der lange Anfahrtsweg lohnt sich, denn hier entsteht seit 1992 ein besonderer Raum für Begegnung und Toleranz. Von außen sind etwa Elemente islamischer, christlicher wie auch buddhistischer Baukunst zu erkennen. Angedacht ist ein Ort, der die fünf Weltreligionen und verschiedene religiöse Kulte, auch untergegangener Zivilisationen, aufgreift.
In der weißen Stille des Winters scheint mir dieses Vorhaben utopisch und greifbar zugleich. So wie meine Rückkehr nach Berlin immer näherrückt und doch fernbleibt. Ich bin dankbar für meine Zeit in Russland, in der ich nicht nur fachlich, sondern ganz besonders menschlich wachsen durfte. Mir werden viele warme Momente in Erinnerung bleiben, und ich werde mit einem Lächeln nach Sankt Petersburg blicken.
Weitere Informationen
Das war die letzte Post von Lilia Becker aus St. Petersburg. Sie ist eine von elf Autorinnen und Autoren, die von ihren Auslandsstudienaufenthalten für campus.leben berichten, alle Beiträge finden Sie hier.
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