Von Stalin bis Putin: verklärte Geschichte
Post aus Sankt Petersburg: Lilia Becker begegnet auf den Straßen und in Gesprächen Vergangenheitsnostalgie
10.01.2020
Lilia Becker in einem antikapitalistischen Café. Hier wird nach Zeit und nicht nach Konsum bezahlt. Ein Hauch Sozialismus?
Bildquelle: Max Jendruk
Die Beschäftigung mit der sowjetischen Vergangenheit erfolgt hier ganz im Vorbeigehen. Ist der Blick des Flaneurs erst einmal geschärft, so lassen sich auf unzähligen Werbeplakaten nicht nur die Trikolore Russlands erkennen, sondern auch die Farben der ehemaligen Sowjetunion – goldgelb auf rotem Hintergrund. Und immer wieder auch das Bild junger Menschen mit dem fünfzackigen Roten Stern auf der Brust.
Nicht nur auf Märkten, auch in Schaufenstern großer Straßen sind T-Shirts, Masken und Kalender mit Stalin und Lenin keine Seltenheit. Dicht daneben Darstellungen eines lächelnden Putin mit Hundewelpen auf dem Arm – oder oberkörperfrei.
Der Rucksack einer jungen Frau ist mit Symbolen der Sowjetunion geschmückt.
Bildquelle: Lilia Becker
In einer Unterführung werden T-Shirts mit patriotischen Motiven verkauft.
Bildquelle: Lilia Becker
Eingereiht zwischen Schokolade, Pelzmütze und Postkarte wirkt Josef Stalin fast wie ein Touristenwitz. Ein Großteil der Bürger Russlands weiß von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Diktators – davon bin ich überzeugt. Und doch ist eine Verklärung seiner Person und Regierungszeit spürbar. Dieser Umgang mit der Vergangenheit ist eine befremdliche Form von Nostalgie für jemanden, der in Deutschland aufgewachsen ist.
So habe ich vor kurzem die Erfahrung gemacht, dass sich bei einer universitären Diskussion die Studierenden in zwei Lager spalteten – in Befürworter und Gegner des Auflebens sowjetischer Ästhetik. Studierende sagen mir, dass Stalin für sie nicht nur negativ konnotiert sei – dass sie in ihrem Urteil über Stalin nicht eindeutig sein könnten. In einer weiteren Diskussion verurteilte eine Studentin einen Satirefilm über den Diktator mit der Begründung, dass der Streifen respektlos gegenüber der russischen Geschichte sei.
Eine davonfliegende Taubenschar in der Innenstadt. Viele machen einen wohlernährten Eindruck.
Bildquelle: Max Jendruk
Blick von der Isaakskathedrale, dem größten russisch-orthodoxen Gotteshaus St. Petersburgs, auf die Dächer der Stadt.
Bildquelle: Max Jendruk
Dabei hatte besonders St. Petersburg während des sogenannten Großen Vaterländischen Krieges, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, gelitten: Die Stadt war 900 Tage lang eingeschlossen, mehr als eine Million Menschen ist damals verhungert. Während meines Aufenthalts in St. Petersburg hatte ich die Möglichkeit, mit Zeitzeugen zu sprechen, die die Leningrader Blockade als Kinder erlebt haben.
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Lilia Becker ist eine von elf Autorinnen und Autoren, die von ihren Auslandsstudienaufenthalten für campus.leben berichten. Ihre erste Post finden Sie hier – und auch in englischer Sprache.