Im Rahmen der Ringvorlesung "Kritik als Praxis. Praxis als Kritik – Künste, Sprache, Recht, Religion und Moral"
Critical Appropriation. Sprache – Kunst – Kritik
Vortrag von Dr. Jochen Schuff und Dr. Deborah Mühlebach, Fachbereich Philosophie u. Geisteswissenschaften, Freie Universität Berlin, GRK 2638 „Normativität, Kritik, Wandel"
Die Vorlesungsreihe ist der möglicherweise überraschenden These gewidmet, dass Normen ihre bindende Kraft durch Kritik gewinnen. Diese These wird in Bezug auf so unterschiedliche Praktiken wie die Künste, das Recht, die Religion, die Sprache und die Moral verfolgt. Regelfolgen und Normanwendungen in diesen Praktiken führen demnach nicht zu stereotypen Abläufen, sondern zu einer steten Kritik leitender Standards und damit verbunden einem steten Wandel in Bezug auf sie. Normen sind in diesem grundlegenden Sinne zugleich subversiv und verpflichtend, distanzierend und einbindend, entfremdend und aneignend. Diese für das menschliche Handeln wesentliche Spannung in normativen Praktiken zeigt sich in ganz unterschiedlicher Weise in den Handlungskontexten, die Gegenstand der Vorlesungsreihe sind.
Die Vorlesungsreihe „Kritik als Praxis. Praxis als Kritik“ eröffnet damit einen interdisziplinären Zugang zum Phänomen der Kritik als einer grundlegenden Dimension menschlicher Praktiken. Kritische Perspektiven auf Standards in Kunst, Moral, Religion, Sprache oder Recht einzunehmen heißt, Standards nicht bloß aus der Beobachter*innenperspektive heraus zu kritisieren, sondern Teilnahme als kritischen Vollzug an der Praxis zu verstehen. Theorie ist Praxis und markiert keinen Ausstieg aus ihr. Das gilt für Kunst, Recht, Religion, Sprache und Moral in je besonderer Weise. Beispiele sind etwa der Wandel des alltäglichen Sprachgebrauchs wie gendergerechte Sprache oder Reflexion als Teil juristischer bzw. moralischer Urteilsbildung. Es geht in der Reihe zudem um nicht-sprachliche Formen kritischer Reflexion wie etwa musikalischer Praxis zwischen Schriftlichkeit und Verkörperung. Auch religiöse Praxis wird nach einem normativ konnotierten Skript in Form von Mythen und Ritualen strukturiert, das permanenter Gegenstand von durch Kritik angestoßenem Wandel ist.
Die Vorlesungsreihe entwirft damit eine Alternative zur verbreiteten Auffassung von Regelfolgen, nach der Praxis bloß als Anwendung von Standards begriffen wird und Standards allein als bindend und einschränkend verstanden werden. Normative Standards sind aber nicht trotz ihrer Kritik, sondern allein durch ihre Kritik bindend. Ausgehend von dieser Arbeitshypothese widmet sich die Vorlesungsreihe Fragen nach den Grenzen einer solchen Konzeption von Standards und ihrer Kritik. Wann gelingen oder scheitern Standards, wenn sich deren Struktur erst durch die Praktik zeigt? Was heißt es, seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden, die eigenen Standards im Vollzug kritisch zu reflektieren?
Zeit & Ort
10.11.2022 | 18:15 - 19:45
Hörsaal 1a, Gebäudekomplex Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin