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Die doppelte Vergesellschaftung von Frauen

Regina Becker-Schmidt – 2003

„Vergesellschaftung“ ist ein Begriff, der in der Geschichte der deutschen Soziologie eine große Rolle gespielt hat. Immer wieder ist danach gefragt worden, wie Einzelne zu Gesellschaftsmitgliedern werden und welche sozialen Instanzen (Gruppen, Verbände, Klassen) dabei zwischen Individuen und Gesellschaft vermitteln. An das Geschlechterverhältnis wurde dabei jedoch erst in der Frauen- und Geschlechterforschung gedacht – in den traditio-nellen Theorien zur Vergesellschaftung kommt es nicht vor. Dennoch lohnt es sich, unter zwei Aspekten in die Ideen-geschichte zurückzublicken: Zum einen, um sich der vielfältigen Dimensionen zu vergewissern, die dort von Simmel bis Adorno entfaltet worden sind. Zum zweiten um die Leerstellen, aber auch die Anknüpfungspunkte auszumachen, an denen sich Vertreterinnen der Frauen- und Geschlechterforschung ab-arbeiteten. Unter der Prämisse, dass Vergesellschaftung gleichzeitig Vergeschlechtlichung bedeutet, wird dann der doppelten Vergesellschaftung von Frauen nachgegangen. Die Doppelungen sind vielfältig: Frauen werden als Angehörige von Klassen bzw. Ethnien und Geschlecht vergesellschaftet. Sie tragen in zweifacher Weise zur gesellschaftlichen Reproduktion bei – durch Hausarbeit und marktvermittelte Arbeit. Darüber hinaus sind Frauen für den Bevölkerungserhalt von entscheidender Bedeutung. Sie bringen den Nachwuchs zur Welt und sind für die psychosoziale Versorgung von Kindern sowie erwachsenen Angehörigen zuständig. Obwohl Frauen mehr gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten als Männer und ihnen auch mehr psychosoziale Belastungen aufgebürdet werden, erfahren sie ihnen gegenüber eine Vielzahl von Diskriminierungen. Männer nehmen in den sozialen Rangordnungen die höheren Positionen ein, verfügen über mehr Prestige und üben mehr gesellschaftlichen Einfluss aus. Die männliche Genus-Gruppe ist nämlich nicht nur im Geschlechterverhältnis besser positioniert als die weibliche; sie ist auch in jenen Sektoren stärker vertreten, die zu den gesellschaftlichen Machtzentren zählen: Militär, politische Foren, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik. Die Privatsphäre, die Frauen als soziales Praxisfeld zuge-wiesen ist, hat gegenüber den öffentlichen Bereichen weniger Geltung. Damit stellt sich die Frage, wie die Rangordnung der Geschlechter mit jener der gesellschaftlichen Sphären zu-sammenhängt. In der doppelten Vergesellschaftung von Frauen werden offensichtlich zwei Verhältnisbestimmungen wirksam: die Relationen, durch die Frauen und Männer in Geschlechterarrangements zueinander in Beziehung gesetzt sind, und die Kriterien, nach denen das Gewicht der gesell-schaftlichen Sektoren bemessen wird, welche das soziale System aufrechterhalten. Durch diese Doppelung von Herrschaftsstrukturen werden Geschlechterhierarchien einerseits stabilisiert. Sie provoziert jedoch andererseits soziale Konflikte, die männliche Dominanzansprüche angreifbar machen.

Titel
Die doppelte Vergesellschaftung von Frauen
Verfasser
Regina Becker-Schmidt
Datum
2003-07
Art
Text
Über die Autorin

 

Regina Becker-Schmidt ist Professorin im Ruhestand am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie (Fachgebiet Sozialpsychologie) der Universität Hannover.

Sie studierte Soziologie, Sozialpsychologie, Ökonomie und Philosophie am Gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereich der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt a.M., und an der Sorbonne, Paris. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt a.M. und Dozentin am gesellschaftlichen Fachbereich der dortigen Universität. Ihre Lehr- und Forschungsgebiete in Hannover: psychoanalytisch orientierte Sozialpsychologie, Sozialisation der Geschlechter, Theorie zum Geschlechterverhältnis. sozialpsychologische Aspekte der Technikentwicklung.

 

Literatur ab 2000 (Auswahl)

- Regina Becker-Schmidt 2002, (Hg.): Gender and Work in Transition. Globalisation in Western, Middle and Eastern Europe. Opladen

- dies., 2001: Die Bedeutung weiblicher Arbeitsbiografien für eine selbstbestimmte Interessenvertretung von Frauen. In: Claussen, Detlev/ Negt, Oskar/Werz, Michael, (Hg.): Philosophie und Empirie. Hannoversche Schriften 4. 69-94

- dies., 2001: Was mit Macht getrennt ist, gehört gesellschaftlich zusammen. Zur Dialektik von Umverteilung und Anerkennung in Phänomenen sozialer Ungleichstellung. In: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika, (Hg.): Soziale Verortung der Geschlechter. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik. Münster. 91-132

- dies. 2003: Umbrüche in Arbeitsbiografien von Frauen. Regionale Konstellationen und globale Entwicklungen. In: Knapp; Gudrun-Axeli/Wettterer, Angelika, (Hg.): Achsen der Differenz. Münster. 101-132

- Regina Becker-Schmidt/ Knapp, Gudrun-Axeli 2000: Feministische Theorien zur Einführung. Hamburg

 

 

Kontakt

 

Regina Becker-Schmidt

Email: becker-schmidt@pih.uni-hannover.de