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„Gehöre ich hier eigentlich hin?“

Katja Urbatsch ist Arbeiterkind und hat studiert. Das ist immer noch nicht selbstverständlich. Auch deshalb hat die Absolventin der Freien Universität vor neun Jahren die gemeinnützige Organisation ArbeiterKind.de gegründet

01.12.2017

Katja Urbatsch, Absolventin der Freien Universität gründete die gemeinnützige Organisation ArbeiterKind.de. Ihr Ziel: Informieren, Mut machen und den Bildungsaufstieg fördern.

Katja Urbatsch, Absolventin der Freien Universität gründete die gemeinnützige Organisation ArbeiterKind.de. Ihr Ziel: Informieren, Mut machen und den Bildungsaufstieg fördern.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Besser wäre es, wenn ihre Arbeit nicht mehr nötig wäre, sagt Katja Urbatsch, doch bis dahin sei es noch ein weiter Weg. Die 38-Jährige ist Gründerin und Geschäftsführerin von ArbeiterKind.de, einem Netzwerk für Menschen, die als erste in ihrer Familie studieren. Bald zehn Jahre alt ist die gemeinnützige Organisation und noch lange nicht überflüssig, denn nach  wie vor sind Studierende aus nicht-akademischen Familien an den Hochschulen unterrepräsentiert. Statistiken des Deutschen Studentenwerks zeigen, wie groß der Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildung ist: Ist mindestens ein Elternteil Akademiker, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sein Kind studiert, mehr  als dreimal so hoch wie bei Kindern, deren Eltern selbst nicht studiert haben.

Katja Urbatsch und ihr Bruder Marc Urbatsch waren deshalb Ausnahmen, als sie an die  Freie Universität Berlin kamen – er, um BWL und später  Philosophie zu studieren, sie, um am John-F.-Kennedy- Institut Nordamerikastudien zu belegen. Katja Urbatsch erinnert sich, wie fremd sie sich zu Beginn ihres Studiums gefühlt hat. Ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen konnten für Referate und Hausarbeiten ihre Eltern um Hilfe bitten, was für Katja Urbatsch keine Option war. Sie belegte zunächst nur Kurse bei wissenschaftlichen Mitarbeitern, denn vor Professoren hatte sie zu viel Respekt. Sie traute sich auch nicht, Fragen zu stellen, aus Angst, sich zu blamieren. „Die anderen haben von Praktika erzählt, von all ihren Reisen und den Büchern, die sie gelesen hatten“, erzählt sie. „Von Stipendien hatte ich noch nie etwas gehört. Ich habe mich gefragt: Gehöre ich hier eigentlich hin?“ 

Die Gründe, warum Kinder aus nicht-akademischen Familien meist gar nicht erst zu studieren beginnen, sind vielfältig. Die Studienfinanzierung sei manchmal schwierig, aber nicht das einzige Problem, sagt Katja Urbatsch. Meistens fehle es an einfachen Informationen: Wie bekomme ich Bafög? Welche Stipendien gibt es, wie bewerbe ich mich dafür? ArbeiterKind.de klärt darüber auf, auf der Website, per Telefon, bei Infoveranstaltungen auf Bildungsmessen und an Schulen. „Wir warten nicht darauf, dass Schülerinnen und Schüler zu uns ins  Büro kommen, sondern gehen dahin, wo sie sind“, sagt Katja Urbatsch. Eine ungewisse Zukunft schrecke viele ab, gerade von den Fächern, für die es nach dem Studienabschluss kein eindeutiges Berufsbild gibt. In solchen Situationen sei es für Arbeiterkinder oft schwierig, ihre Eltern vom Studium zu überzeugen.

Was wird man denn mit einem Diplom in Nordamerikastudien? 

Katja Urbatsch erinnert sich noch gut an die kritischen Fragen, die ihre Familie stellte: Was wird man denn mit einem Diplom in Nordamerikastudien? Sie rät Studieninteressierten, ihre skeptischen Eltern möglichst mitzunehmen, sei es in Gedanken bei den Studienplänen oder an die Hochschule, etwa zu Infotagen oder zum Essen in die Mensa. Es sei aber nicht immer möglich, die Zustimmung der Eltern zu erhalten, sagt sie. „Das ist schade und manchmal auch traurig. Man sollte aber trotzdem mit dem Studium weitermachen und die Eltern immer wieder einladen.“ Sowohl die Kinder als auch die Eltern seien sich  oft unsicher, ob sich ein Studium auszahlt. Dazu trägt auch die Debatte über den sogenannten Akademisierungswahn bei, die immer wieder aufflammt. Studieren nicht eh schon zu viele? Katja Urbatsch geht es nicht darum, dass alle  studieren. Alle, die möchten, sollen – unabhängig  ihrer Herkunft – eine Chance auf ein Studium und damit auf einen Bildungsaufstieg haben. Gleichzeitig würden in Zukunft aber auch dringend mehr Akademikerinnen und Akademiker gebraucht. „Wir sind eine Wissensgesellschaft. Die Anfordernisse in den Jobs steigen an und es wird immer schwieriger, ohne Studium einen Job zu finden.“ Man könne diskutieren, ob das ein guter Trend ist. Es sei aber unbestreitbar, dass ein Studium  die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhe, sagt Katja Urbatsch und verweist auf die Akademikerarbeitslosigkeit, die dieses Jahr so niedrig ist wie seit Jahrzehnten nicht. 

Ein bundesweites Unterstützer-Netzwerk

„Hin und wieder merken wir konkret, wie wir mit ArbeiterKind.de Biografien verändern können“.

„Hin und wieder merken wir konkret, wie wir mit ArbeiterKind.de Biografien verändern können“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Neun Jahre nach  der Gründung ist ArbeiterKind.de weit mehr als eine Website. Mehr als 6.000 Ehrenamtliche bilden ein bundesweites Unterstützernetz, organisiert  in 75 lokalen Gruppen – 4 davon allein in  Berlin. Sie sind ein erster Anlaufpunkt für junge  Menschen, die über ein Studium nachdenken, und für Studierende, um sich über die Herausforderungen  an der Hochschule auszutauschen. Ein eigenes soziales Netzwerk verbindet die Studierenden  der ersten Generation und Ehrenamtlichen  auch online. Persönliche Kontakte, die für  Fragen zur Verfügung stehen und Vorbilder sein  können, seien von großer Bedeutung, sagt Katja  Urbatsch – gerade, weil es in Familien ohne Hochschulerfahrung eben niemanden gibt, der einen akademischen Lebensweg vorgelebt hat. Das Gemeinschaftsgefühl, das in den lokalen Gruppen entsteht, helfe, sich an der Hochschule  nicht so fehl am Platz zu fühlen. Das ist in manchen Fächern eine größere Herausforderung als in anderen: Während es in „bodenständigeren“  Fächern in den Natur- und Ingenieurswissenschaften  weniger Hürden gebe, machten sich in den Sozial- und Geisteswissenschaften die kulturellen Unterschiede des Bildungshintergrunds  bemerkbar: „Da geht es um Sprache,  um Auftreten, um Habitus. Es wird deutlich, wo man herkommt, wie man spricht und was man anhat“, sagt Katja Urbatsch. Den Akademikerkindern  fielen diese Unterschiede zu ihren Kommilitonen  selten auf. „Man spricht nicht darüber. Man versucht nicht aufzufallen, sondern dazuzugehören“,  beschreibt Katja Urbatsch ihre Erfahrung, als sie studierte.

Doch die gefühlten Statusunterschiede  gehen nicht einfach weg. „Mein Partner ist Sohn eines Professors“, erzählt Katja  Urbatsch. „Das war ein großer Schritt, mit ihm  auszugehen, und später, als ich seine Eltern kennengelernt  habe. Das ist immer noch eine andere  Welt für mich.“  Gemeinsam mit diesem Partner, Wolf Dermann, und ihrem Bruder Marc hatte Katja Urbatsch ArbeiterKind.de ins Leben gerufen. Alle drei hatten an der Freien Universität Berlin studiert. Die Idee, Nicht-Akademikern das Studium zu erleichtern, trug Katja Urbatsch schon lange mit  sich herum. Der Wettbewerb Startsocial für soziale  Initiativen gab schließlich den Anstoß, sie  in die Tat umzusetzen. Die Resonanz war groß:  Ein Tag nachdem die Website ArbeiterKind.de online gegangen war, folgte ein Interview im Deutschlandradio. Daraufhin meldeten sich Hörerinnen  und Hörer aus ganz Deutschland, die  das Projekt unterstützen wollten. „Menschen  aus den unterschiedlichsten Positionen, von der  Studentin bis zum Minister, erzählten mir ihre  eigenen Geschichten. Sie sagten: Ich weiß ganz  genau, wovon Sie sprechen!“

Aus der ehrenamtlichen Arbeit wurde ein Vollzeitjob

In Zukunft soll ArbeiterKind.de noch weiterwachsen. Katja Urbatsch wünscht sich, dass ihre gemeinnützige Organisation gerade auf dem Land präsenter wird. Dort mache allein die Distanz zur nächsten Hochschule einen Kontakt zur akademischen Welt schwierig. Das Projekt, das Katja Urbatsch zunächst ehrenamtlich begonnen hat, ist nun für sie und ein fast 20-köpfiges Team ein Vollzeitjob. Hin und wieder, erzählt sie, merke sie auch konkret, wie sich eine Biographie verändert hat: Eine  Dortmunder Schülerin sollte von ihrer Schule  trotz einer Eins im Abitur nicht für die Studienstiftung des Deutschen Volkes vorgeschlagen  worden – die Schule glaubte, „jemand von uns“ würde sowieso nicht genommen. Doch die Schülerin  setzte sich, ermutigt von ArbeiterKind.de, durch und wurde schließlich doch von ihrer  Schule vorgeschlagen. Inzwischen ist sie Stipendiatin  und studiert Medizin in Münster. Solche Beispiele treiben Katja Urbatsch in ihrer Arbeit  an: „Ich merke: ArbeiterKind.de kann etwas verändern.“ 


ArbeiterKind.de lebt vom  ehrenamtlichen  Einsatz, 6.000 Mentorinnen und Mentoren geben an Schulen, auf Messen und in persönlichen Gesprächen ihre Studienerfahrungen weiter. Wer sich ebenfalls engagieren möchte, findet alle Informationen unter www.arbeiterkind.de