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„Hallo und tschüss, hier und weg“

Kinderbücher können Grundschüler aus Zuwanderer-Familien beim Deutschlernen unterstützen

12.12.2011

Bilder in Sprache übersetzen: Worte zu finden für das, was sie sehen, lesen oder erleben, ist ein kognitiver Prozess, den Kinder aller Kulturen durchlaufen müssen.

Bilder in Sprache übersetzen: Worte zu finden für das, was sie sehen, lesen oder erleben, ist ein kognitiver Prozess, den Kinder aller Kulturen durchlaufen müssen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Petra Wieler staunt. „Er kühlt sich, damit er nicht schmilzt, wie Melisa gesagt hat.“ Der recht komplexe Satz, mit dem die sechsjährige Dilara das Bild beschreibt, auf dem sich ein Schneemann vor einen geöffneten Kühlschrank stellt, beeindruckt die Grundschulpädagogin: „Das ist zweifellos bemerkenswert.“ Das Mädchen habe zunächst einen Zusammenhang zwischen ,kühlen‘ und ,schmelzen‘ hergestellt und sich danach auf die Aussage ihrer Klassenkameradin Melisa bezogen. „Damit hat sich Dilara mal eben souverän der Bildungssprache bedient“, sagt Petra Wieler.

Die Professorin für den Lernbereich Deutsch an der Freien Universität Berlin untersucht, wie sich der mündliche und schriftliche Spracherwerb bei Kindern mit Migrationshintergrund, die zweisprachig aufwachsen, unterstützen und fördern lässt.

Die abstrakte und vor allem für schulisches Lernen maßgebliche Bildungssprache – also das In-Worte-fassen von Erlebtem und Gesehenem, Gelesenem und Gehörtem – müssen alle Kinder erlernen. Für Kinder mit Migrationshintergrund stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Und für Pädagogen eine besondere Aufgabe.

Petra Wieler arbeitet mit Grundschullehrern und Eltern zusammen und vermittelt Anregungen, mit Kindern über Bücher zu sprechen. Die Wissenschaftlerin beobachtet und dokumentiert Unterrichts- und Familiengespräche und wertet die Ergebnisse aus. Sie sucht hierfür Bücher aus – teilweise mehrsprachige Bücher, auch CDs oder Hörbücher – die die Kinder emotional ansprechen. Denn wenn ein Kind von einem Buch berührt werde, spreche es auch darüber: „Freundschaft und Außenseitertum, Trauer und Freude, Wiederkehr, Abschied und Vergänglichkeit – das alles sind Themen, die auch kleine Kinder schon beschäftigen“, sagt Petra Wieler.

„Der Schneemann“ von dem britischen Kinderbuchautor Raymond Briggs ist für sie ein solches Buch. Die zwischen Traum und Wirklichkeit angesiedelte Bildergeschichte erzählt von den fantastisch-skurrilen Abenteuern, die ein kleiner Junge eines Nachts mit einem zum Leben erwachten Schneemann erlebt.

Die 14 Mädchen und Jungen, Erst- und Zweitklässler aus einer Kreuzberger Grundschule, sitzen im Kreis und betrachten die Illustrationen des Buchs. Die Lehrerin fragt nach einzelnen Motiven, lässt sich die Kleidung des Schneemanns beschreiben oder die Gefühle des Jungen, der in der Geschichte namenlos ist, auf eine Frage der Lehrerin hin aber von den Schülern spontan „Timo“ getauft wird. Die Kinder sind aufmerksam, das Buch spricht sie an. Es erzählt von „hallo und tschüss“, von „hier und weg“, von „noch einmal und anders“ – Themen, die Kindern in allen Kulturen vertraut sind. So schreibt die kleine Asma: „Timo ist traurig, weil der Schneemann draußen bleiben muuß. Tschüß Timo Komm bald wieder. Timo steht auf.“ Die Siebenjährige hat, wie alle in ihrer Klasse, einen Migrationshintergrund. Die Kinder haben als Herkunftssprache Türkisch, Arabisch oder Russisch gelernt, Deutsch ist für sie Zweitsprache. Der Wechsel von der Umgangssprache in eine gehobene und abstrakte Ausdrucksweise – Wissenschaftler sprechen von Alltagsregister und von Bildungssprache – ist für diese Kinder eine erste große Hürde. Und der Wechsel vom Mündlichen zum Schriftlichen die nächste? „Nicht unbedingt“, sagt Petra Wieler. Sie sei immer wieder erstaunt, wie gewählt sich die Kinder schriftlich ausdrückten. Kein Vergleich zu dem oft stockenden Erzählen im Gespräch. „Es scheint, als sei das Sprechen eine Art ‚Inkubationszeit’ des Schriftlichen“, sagt Petra Wieler und zitiert dabei eine Kollegin. Wenn der Druck, im Gespräch spontan reagieren zu müssen, wegfalle und man zwischen verschiedenen sprachlichen Ausdrücken für die eigenen Gedanken und Gefühle wählen könne, gelängen oftmals bemerkenswerte Texte. Auch empfänden es die Schüler offenbar als Herausforderung, ja als Aufforderung, auf ästhetisch und thematisch ansprechende Bücher sprachlich angemessen zu reagieren.

Die Möglichkeit, die Petra Wieler durch ihre Arbeit und in Kooperation mit Lehrern und Eltern den Schülern bieten will, ist die Annäherung an Schriftsprache schon im mündlichen Gespräch. Der Weg dahin führe vom Reden über das Schreiben hin zum besseren Sprechen und Erzählen. Bücher könnten hier Brücken bauen. Vorlesekurse, die für Mütter oder Väter angeboten werden, seien hilfreich. Noch wichtiger seien Eltern als Vorbilder, die auch selbst gerne lesen und davon erzählen.

In zehn Jahren, so die Prognosen in den Bildungsberichten, wird jedes zweite Grundschulkind in Berlin einen Migrationshintergrund haben. Damit ihre Zweitsprache Deutsch nicht zweitklassig wird, ist neben der Verantwortung der Eltern auch das besondere Engagement von Pädagogen gefragt.