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Reizendes Erröten

An der Freien Universität wird das Zusammenspiel von Scham und Grazie von Lessing bis Kleist erforscht

13.10.2011

Der Dornauszieher ist ein antikes Motiv der Bildenden Kunst. Hier zu sehen ist eine Plastik der Abguss-Sammlung Antiker Plastik der Freien Universität in Berlin-Charlottenburg. Die öffentlich zugängliche Sammlung umfasst rund 2000 Exponate.

Der Dornauszieher ist ein antikes Motiv der Bildenden Kunst. Hier zu sehen ist eine Plastik der Abguss-Sammlung Antiker Plastik der Freien Universität in Berlin-Charlottenburg. Die öffentlich zugängliche Sammlung umfasst rund 2000 Exponate.
Bildquelle: David Ausserhofer

Jeder kennt das: Gerade noch war man völlig versunken in eine Sache und fühlte sich eins mit ihr, da wird diese Einheit – durch eine Störung oder eine andere Person – jäh zerstört: Indem man sich der Situation bewusst wird und den Blick von außen einnimmt, verliert das eigene Verhalten an Selbstverständlichkeit.Die eben noch anmutigen Bewegungen werden – weil sie plötzlich bewusst geschehen und gesteuert werden – plump und reizlos.

Diese Blockade hat Heinrich von Kleist in einer berühmt gewordenen Szene in seiner Erzählung „Über das Marionettentheater“ geschildert: Die unbewusste Gebärde eines Jünglings verliert in jenem Moment ihre anmutige Wirkung, in dem sie mit der antiken Plastik des Dornausziehers verglichen wird. Kleists Jüngling vermag sie kein zweites Mal zu wiederholen, sein Bewusstsein hemmt die Nachahmung, die Geste wirkt nun lächerlich und unbeholfen. Grazie ist Kleist zufolge also nicht bewusst herstellbar, der anmutige Ausdruck sei bedroht vom reflektierenden Bewusstsein, vom Vermögen zur Selbsterkenntnis, das durch den Sündenfall in die Welt gekommen sei.

Mit dem „Marionettentheater“ nimmt Kleist, dessen Todestag sich dieses Jahr zum 200. Male jährt, Abschied von der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, zu deren zentralen Themen Grazie und Anmut gehörten. Anmutig bewegen sich bei Kleist nur nicht-menschliche Wesen: eine Marionette, ein ohne taktische Finten fechtender Bär und der durch ein unendliches Bewusstsein charakterisierte Gott. Die berühmte „schöne Seele“ hingegen, über die Schiller in seinem Essay „Über Anmut und Würde“ spricht, gibt es bei Kleist nicht mehr. Warum aber verabschiedet Kleist die aufklärerische Idee von der Grazie als Ausdruck menschlicher Seelenschönheit?

Den entscheidenden Hinweis liefert das von dem Jüngling empfundene Gefühl: Scham. Vor Scham errötend, vermag er die anmutige Geste nicht zu wiederholen. Zwar betonte schon Schiller in „Anmut und Würde“, dass in der anmutigen „Gebärdensprache“ – dem „anmutigen Lächeln“ und dem „reizenden Erröten“ – nur die „Empfindung“ maßgeblich sei, und ergänzte diese Ausdrucksformen durch eine Anmut, die vom freien Willen ausgeht. Während Schiller aber schamhafte Grazie als typisch empfindsames Weiblichkeits- und Tugendideal noch beglaubigte, wird bei Kleist aus der Gleichsetzung ein unüberbrückbarer Gegensatz: Der Jüngling „errötete und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, missglückte“.

Von den vielen Erklärungsmodellen zu dieser kleistschen Erzählung hat sich die These des Literaturwissenschaftlers und Kleistforschers Günter Blamberger als hilfreich erwiesen: Kleists Absage an das Anmutsideal des 18. Jahrhunderts habe mit seiner aristokratischen Herkunft und darüber hinaus mit der Kenntnis von Baldassare Castigliones „Handbuch vom Hofmann“ zu tun. Man könnte demnach im Scheitern dieses Jünglings auch eine Art Veto Kleists gegen die zunehmende Verbürgerlichung der ursprünglich aristokratischen Grazie sehen.

Im Rahmen des am Exzellenzcluster Languages of Emotion der Freien Universität angesiedelten Forschungsprojekts „Scham und Grazie“ wird eben dieser Ansatzverfolgt: Wie lässt sich aus Kleists aristokratischem Wissen seine hochmoderne Psychologie herleiten? Die Antwort lautet: mithilfe der Zivilisationstheorie Norbert Elias’. In dieser beschreibt der Soziologe eine Internalisierung aristokratischer Verhaltensformen, die eben jene Selbstblockade auslöst, wie sie in Bezug auf den Jüngling geschildert wurde.

Kleist sah vermutlich nicht nur, dass im Zuge der Verbürgerlichung des Grazienideals die höfische Lässigkeit im Sinne der sprezzatura – der Fähigkeit, auch anstrengende Taten leicht und mühelos erscheinen zu lassen – durch die Reinheit und Unschuld einer anmutigen Seelenschönheit ersetzt wurde. Kleist sah wohl auch jene Paradoxie, die entstand, als Schiller die aristokratische Grazie durch bürgerliche Anmut ersetzte. Denn ungeachtet ihrer im theoretischen Entwurf betonten Freiheit enden die schönen Seelen im bürgerlichen Trauerspiel meist tragisch: Sie werden entweder wie Luise Millerin in Schillers „Kabale und Liebe“ vom Adel hintergangen oder gehen wie Lessings Emilia Galotti freiwillig in den Opfertod.

Die Paradoxie der Anmut erreicht also gerade im bürgerlichen Trauerspiel Lessings und Schillers ihren Höhepunkt: Den tugendhaften Bürgern ist es unmöglich, gegen die Willkürherrschaft des Adels aufzubegehren. Antworten auf Fragen nach dem Ursprung dieser eigentümlichen Selbstblockaden liefert der Umbruch von der höfisch-aristokratischen Grazie hin zur „bürgerlichen“ Anmut.

Das Cluster-Projekt begreift diesen Umbruch als Internalisierungsprozess, dessen Spuren von Handbüchern der Renaissance über den galanten Roman bis hin zum bürgerlichenTrauerspiel führen. Ob und wann dies jene „zivilisatorische“ Scham produzierte, deren Tragik im Mechanismus der Selbstblockade liegt, ist eine zentrale Frage, die im Rahmen des Projekts „Scham und Grazie“ geklärtwerden soll.

— Der Autor ist Heisenberg-Stipendiat an der Freien Universität, kürzlich erschien sein Buch „Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie“ im Fink-Verlag.