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„Unternehmen Reisebüro“ war DDR ein Dorn im Auge

Studierende der Freien Universität verhalfen nach dem Mauerbau Hunderten von Menschen zur Flucht

15.08.2011

Die Sperrung der Grenzen rund um West-Berlin schnitt am 13. August 1961 mehr als 3500 Studentinnen und Studenten, die mit ihrem Wohnsitz im Ostteil der Stadt gemeldet waren, von der Freien Universität ab. Einige von ihnen hatten allerdings ein Zimmer in West-Berlin oder hielten sich am Tag des Mauerbaus gerade im Westen auf. Die überwiegende Mehrheit dieser Studierenden entschied sich für den Verbleib in West-Berlin.

Laut Tagesspiegel von damals hatte sich schon im Oktober fast die Hälfte der früheren „Grenzgängerstudenten“ – die vor dem 13. August täglich aus dem Ostteil der Stadt nach Dahlem kamen – wieder an den Universitäten West-Berlins zurückgemeldet.

Von den damals insgesamt 13 000 Immatrikulierten an der Freien Universität war etwa jeder fünfte im Wintersemester 1961/62 ein „Ost-Studierender“.

Viele der ehemaligen „Grenzgängerstudenten“, die es in den ersten Tagen nach der Grenzschließung nicht mehr in den Westen geschafft hatten, konnten nur deshalb in West-Berlin weiterstudieren, weil sie unter oft dramatischen Umständen die Flucht durch die DDR-Sperranlagen wagten. Zahlreiche Studierende der Freien Universität aus dem Westen fanden sich sofort nach der Grenzschließung zu spontaner Hilfe für die Kommilitonen aus Ost-Berlin und dem Umland bereit. Koordiniert wurden die Fluchthelfer der Freien Universität zunächst vom Ausschuss für Gesamtdeutsche Studentenfragen des Verbandes Deutscher Studentenschaften und von Mitgliedern des Studentenwerks. Als „Unternehmen Reisebüro“ organisierten Detlef Girrmann, Bodo Köhler und Dieter Thieme aus dem Büro des Studentenwerks in der Dahlemer Boltzmannstraße die Fluchthilfe mit gefälschten westdeutschen, schweizer und luxemburgischen Pässen. Die dafür erforderlichen Passbilder der Studierenden beschaffte Girrmann aus dem Immatrikulationsbüro der Freien Universität. Angesichts der dramatischen Situation wurde ihm dort als Vertrauensperson des Studentenwerks Zugang gewährt.

Bis Januar 1962 verhalfen Studierende der Freien Universität mehr als 800 Menschen zur Flucht aus der DDR. Dabei waren Flucht und Beihilfe zur Flucht seit dem 22. August 1961 ein lebensgefährliches Unterfangen. An diesem Tag beschloß das SED-Politbüro als Übergang von der ersten zur zweiten Stufe der Grenzsicherung einen faktischen Schießbefehl. Das SED-Politbüro entschied an diesem Tag auch über diejenigen ehemaligen „Grenzgänger“, die vor dem 13. August 1961 in West-Berlin studiert hatten: „Die Namen der bisher in Westberlin (DDRSchreibweise, Anm. d. Red.) Studierenden und der in Westberlin gewesenen Oberschüler sind den staatlichen Organen und der Bezirksleitung zu übergeben.“ Diesen Studierenden sollten von nun an Arbeitsplätze in VE-Betrieben außerhalb Berlins zugewiesen werden. „Diejenigen, die provokatorisch auftreten, werden in einem Arbeitslager erzogen“, hieß es in dem Schreiben.

Einer der ersten Studenten, die wegen Fluchthilfe in Ost-Berlin festgenommen wurden, war Eberhard Bolle. Der gebürtige Potsdamer studierte seit dem Wintersemester 1957/58 Anglistik und Geschichte in Dahlem. Als er versuchte, einem Ost-Berliner Kommilitonen einen West-Pass zu übergeben, wurde er am 20. August 1961 verhaftet und wenig später „wegen Verleitung zur Republikflucht“ zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt. Eberhard Bolle kehrte nach 20 Monaten aus dem Zuchthaus Rummelsburg im Mai 1963 an die Freie Universität zurück. Zu diesem Zeitpunkt saßen nach Angaben des Rektorats mehr als 80 Studierende wegen Fluchthilfe in DDR-Gefängnissen.

Die AStA-Vorsitzenden von Technischer und Freier Universität erhielten am 16. Januar 1961 Post von DDR-Innenminister Karl Maron. Er sei „in ernster Sorge“, schrieb er damals: In der letzten Zeit seien Studierende der beiden West-Berliner Universitäten „unter dem Einfluss der vom Brandt-Senat inszenierten Hetzkampagnen und Provokationen von Menschenhändlerorganisationen missbraucht und dazu verführt“ worden, „Bürger der Deutschen Demokratischen Republik nach Westberlin zu verschleppen“.

Die Sicherheitsorgane der DDR seien nicht daran interessiert, junge Menschen im Laufe ihrer akademischen Ausbildung zu inhaftieren. Es liege „im persönlichen Interesse der Studenten, sich intensiv ihrem Studium zu widmen und auf einen nützlichen Beruf vorzubereiten, anstatt einen Teil ihrer Studienzeit im Gefängnis zu verbringen.“ Maron forderte die AStA-Vorsitzenden dazu auf, ernsthafte Maßnahmen zu ergreifen, „um die Studenten dem verderblichen Einfluß des Brandt-Senats zu entziehen“.

Die beiden AStA-Vorsitzenden, Wolfgang Hempel und Peter Müller, antworteten mit einer kurzen Presseerklärung auf Marons Schreiben. Sie teilten mit, dass der Berliner Senat in keinem Fall Studenten aufgefordert habe, „Kommilitonen aus Ostberlin und der Zone zur Flucht zu verhelfen“. Die als Verschleppung bezeichneten Vorfälle beruhten „auf der einseitigen Aufhebung der Freizügigkeit“. Wenn Maron den Interessen aller Berliner Studierenden dienen wolle, möge er dafür sorgen, „dass den Studenten in ganz Berlin die freie Wahl ihres Studienplatzes ermöglicht wird“.

Es sollte noch mehr als 27 Jahre dauern, bis dieser Wunsch 1990 in Erfüllung ging, und bis sich Studierende aus Ost-Berlin und dem Umland wieder an der Freien Universität immatrikulieren konnten. Darunter waren – wie schon vor dem Mauerbau – viele, denen in der DDR ein Studium verwehrt worden war.

Der Autor ist Projektleiter des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin.