Springe direkt zu Inhalt

Von der Keilschrift bis zur Quantenphysik

23.05.2011

Jürgen Renn hat das MPI für Wissenschaftsgeschichte aufgebaut.

Jürgen Renn hat das MPI für Wissenschaftsgeschichte aufgebaut.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Von Kerrin Zielke

Es war der Blick zum nächtlichen Himmel, der Jürgen Renn den Weg zur Wissenschaftsgeschichte bereitete und schließlich nach Berlin-Dahlem führen sollte. „Mein Großvater hat mir die Sterne gezeigt“, sagt Renn. Schon als Junge, kaum, dass er in die Schule ging, habe er sich deshalb für Astronomie interessiert und als „Wissenschaft mit einem langen Gedächtnis“ für historische Fragen. Auf der Schule begeisterte sich Jürgen Renn für Latein, Griechisch und Hebräisch. Er studierte Physik an der Freien Universität und besuchte Veranstaltungen in Religionswissenschaft, Philosophie und Kunstwissenschaft. „Der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich begann jede seiner legendären Vorlesungen mit einem Bericht über den Stand der Freien Universität in der Welt“, erinnert sich Renn.

„Das schuf das Bewusstsein, zu einer res publica litterarum zu gehören, die das Selbstverständnis eines Gemeinwesens hatte.“

Nach seinem Studium edierte Jürgen Renn in Florenz die Schriften Galileo Galileis und forschte für seine Dissertation in mathematischer Physik an der Technischen Universität Berlin unter anderem in Rom, Paris, Princeton und Zürich. Nach der Promotion war er in Boston als Mitherausgeber der Schriften Albert Einsteins tätig und lehrte dort Physik und Wissenschaftsgeschichte. Während seiner Jahre in den USA hielt er den Kontakt zu Berlin. Ein gemeinsames Kolloquium des Max-Planck-Instituts (MPI) für Bildungsforschung und der Freien Universität zur Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften wurde zu einer der Keimzellen des MPI für Wissenschaftsgeschichte, als dessen Gründungsdirektor er 1994 berufen wurde. Geleitet wird das MPI von einem Dreier-Kollegium – neben dem geschäftsführenden Direktor Jürgen Renn von der US-amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston und dem Molekularbiologen Hans-Jörg Rheinberger. Publiziert wird, wo immer möglich, nach dem Open-Access-Prinzip. Jürgen Renn ist einer der Initiatoren der Berliner Erklärung der Max-Planck-Gesellschaft über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen.

Etwa 100 Wissenschaftler aus 24 Ländern sind derzeit am MPI tätig: Sie sind Physiker, Psychologen, Linguisten, Biologen, Geschichtswissenschaftler, Astronomen und Kunsthistoriker, und sie arbeiten alle an Projekten der Wissenschaftsgeschichte und der Historie des Wissens. Entsprechend breit sind die Forschungen am Institut in der Boltzmannstraße aufgestellt – sie umfassen alle Zeiten und Regionen: Es wird herausgearbeitet, wie sich im Zusammenspiel zwischen den Wissenschaften und in den verschiedenen Zeiten und Kulturen die Kategorien des Denkens und Beweisens gebildet haben. Geforscht wird zur Mathematik im antiken Babylonien und zur heutigen Genetik, zur islamischen Wissenschaft und zu chinesischen Innovationen. Es wird eine digitale Keilschriftbibliothek aufgebaut, und die Anfänge der Quantenphysik werden ergründet, einer der Schwerpunkte des Gründungsdirektors.

Die Anfangszeit des MPI sei schwer gewesen, denn fast alle Nachwuchswissenschaftler hätten ihre Stellen nur im Ausland gefunden, sagt Jürgen Renn. In Deutschland ist Wissenschaftsgeschichte eine recht junge Disziplin, und es passt zum Anspruch der Max-Planck-Gesellschaft, Forschungsfelder zu etablieren, die neu sind oder noch nicht in die Struktur von Universitäten passen. Dass junge Wissenschaftler inzwischen gute Perspektiven hätten, liege auch an der ausgezeichneten Zusammenarbeit mit den Universitäten. So gibt es gemeinsame Berufungen vom Max-Planck-Institut und der Freien Universität. Zum Beispiel wird im Sommer Sven Dupré seine Forschungen zu Kunst und Wissenschaft im Antwerpen des 17. Jahrhunderts beginnen: Er ist zum Professor auf Zeit an der Freien Universität berufen worden und wird zugleich eine Max-Planck-Forschungsgruppe leiten. In der gleichen Konstellation arbeitet Veronika Lipphardt über die Rezeption menschlicher Biodiversität im 20. Jahrhundert. Auch am Exzellenzcluster Topoi ist das MPI beteiligt, unter anderem mit einer Nachwuchsgruppe, die von Matthias Schemmel geleitet wird und zu einer historischen Erkenntnistheorie des Raums forscht.

„Die Zusammenarbeit im Exzellenzcluster Topoi knüpft an die große Zeit der Altertumswissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin an“, sagt Jürgen Renn, der einer der leitenden Forscher des Projekts ist. In diesem kooperieren die Freie Universität und die Humboldt-Universität mit vier außeruniversitären Forschungseinrichtungen, von denen neben dem Max-Planck-Institut das Deutsche Archäologische Institut in Dahlem angesiedelt ist. Jüngst gründeten die Partner das Berliner Antike-Kolleg, um der Zusammenarbeit eine langfristige Perspektive zu geben.

Auch das weite Feld der Wissenschaftsgeschichte soll noch tiefer verankert werden. So ist inzwischen ein „Zentrum für Wissensgeschichte“ gemeinsam mit Freier Universität, Humboldt-Universität und Technischer Universität geplant. „Das Max-Planck-Institut und Dahlem sind aber schon jetzt ein internationaler Treffpunkt geworden“, sagt Jürgen Renn mit einem Anflug von Stolz und in aller Bescheidenheit, „hier geben sich die Akteure der Wissenschaftsgeschichte der Welt die Hand.“